Márquez, Gabriel García – Leben, um davon zu erzählen

„Meine Mutter bat mich, sie zum Verkauf des Hauses zu begleiten“, so beginnt der erste Teil der auf drei Bände ausgelegten Autobiographie des kolumbianischen Nobelpreisträgers für Literatur, Gabriel García Márquez, und wirft den Leser sofort in das farbenfrohe Leben des mittlerweile über 80-Jährigen.

Dieser erste Satz des Buches versetzt Autor und Leser gleichermaßen in die Kindheit Márquez‘ zurück. 1928 wurde er in Aracataca (Kolumbien) geboren und wuchs abwechselnd bei den Eltern und Großeltern auf. Da die Familie ständig anwuchs (gegen Ende des Bandes sind wir bei elf Kindern angelangt), war Márquez‘ Kindheit von ständiger Armut geprägt und führte dazu, dass die Familie oft umziehen musste. Jenes Haus in Aracataca aber wird treuen Márquez-Lesern sofort bekannt vorkommen, hat er ihm und seinen Bewohnern doch schon in seinem berühmtesten Roman, „Hundert Jahre Einsamkeit“, ein Denkmal gesetzt. All die kruden und originellen Figuren in dieser Autobiographie wiederzufinden, ist ein reines Vergnügen und Beweis dafür, welch buntes Leben Márquez schon in frühester Kindheit genießen durfte.

Schon als Kind liest er begeistert, erzählt Geschichten und Anekdoten, verschlingt die „Geschichten aus Tausendundeiner Nacht“ und singt inbrünstig kolumbianische Schlager. Auch im Zeichnen scheint er recht begabt zu sein. Diese vielen Begabungen führen dazu, dass er trotz seiner Schüchternheit schon in der Schule von aufmerksamen Lehrern gefördert wird und es trotz seiner ärmlichen Verhältnisse aufs Lyceum schafft.

Dort trifft er auf liberale, junge Lehrer, die offen mit ihren Schülern diskutieren und ihre freie Meinung unterstützen. Er beginnt zu schreiben – kleinere Gedichte und Glossen für die Schülerzeitung – und etabliert sich als junger Bohème, indem er mit langen Haaren, wildem Bart und bunt geblümten Hemden herumläuft. Doch seine Wünsche, sich kreativ zu betätigen, laufen denen seiner Eltern zuwider. In ihrer prekären finanziellen Lage möchten sie, dass Gabito Jura studiert, um sich selbst ernähren und die Familie unterstützen zu können. So schreibt er sich an der juristischen Fakultät in Bogotá ein, ohne jedoch besondere Begeisterung für die Rechtswissenschaften aufbringen zu können.

Stattdessen lebt er ununterbrochen am Rande des Existenzminimums, schläft mal auf der Straße, mal im Café und im besten Fall in einem billigen Freudenhaus und interessiert sich für alles, nur nicht fürs Studium. Seine schriftstellerischen Ambitionen keimen auf, er schreibt kurze Prosa, ein Genre, das damals in Kolumbien kaum existierte (man „beschränkte“ sich auf Poesie) und trägt die Mappe mit Kurzgeschichten immer mit sich herum – sein einziger Besitz. Erste Geschichten von ihm werden veröffentlicht, und von da an ist seinen Freunden klar, dass er ein berühmter Schriftsteller werden wird. Nur bis diese Erkenntnis Márquez selbst erreicht, wird es noch eine Weile dauern.

Nach dem Aufstand vom 9. April 1948, als in Bogotá der Präsidentschaftskandidat Gaitán erschossen wird, verlässt Márquez erschrocken und traumatisiert die Stadt, um in Cartagena weiterzustudieren. Doch dort erlischt sein Interesse für Jura vollends, denn er beginnt bei verschiedenen Zeitungen zu arbeiten und schreibt nun nicht mehr nur Prosa, sondern auch Glossen und Kommentare. Diese Arbeit begeistert und vereinnahmt ihn zusehends, sodass er durch die Jura-Prüfung fällt. Seine Eltern hoffen immer noch auf einen Anwalt in der Familie, doch müssen sie sich allmählich mit den Tatsachen abfinden und einsehen, dass ihr Sohn das Studium nicht beenden wird.

Zurück in Bogotá, arbeitet er bei der großen Zeitung „El Espectador“ und widmet sich nun auch mehr und mehr der Reportage. Erstmals ist er fest angestellt und bekommt ein monatliches Gehalt, mit dem er sich nicht nur endlich eine eigene Wohnung nehmen kann, sondern das auch ausreicht, um seinen Eltern und der großen Kinderschar eine finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen. Schon seit einiger Zeit arbeitet er an verschiedenen Buchprojekten. Den ersten Roman „La Casa“ gibt er irgendwann entnervt auf, „Laubsturm“ wird zwar vollendet, jedoch zunächst vom Verlag abgelehnt. Der erste Band seiner Autobiographie endet damit, dass „Laubsturm“ doch noch veröffentlicht und Márquez als Korrespondent nach Genf geschickt wird.

Gabriel García Márquez ist ein geborener Erzähler – das beweist er einmal mehr mit seinen Memoiren. Seit 1999 arbeitet er fieberhaft an seiner Autobiographie – eine Krebserkrankung war der Auslöser, dieses Projekt endlich in Angriff zu nehmen. Besonders das erste Kapitel, in dem Haus und Einwohner aus „Hundert Jahre Einsamkeit“ noch einmal Revue passieren, ist dicht gestaltet und erfüllt für Márquez eine Schlüsselfunktion. Merkt man diesem Kapitel die starke schriftstellerische Bearbeitung des Autors an, so wirken die späteren Passagen des Buches naturbelassener und wie in einem Guss heruntergeschrieben. Die akkurate literarische Methode Márquez‘, seine Romane bis zum Exzess zu überarbeiten und zu perfektionieren, scheint nur im ersten Kapitel angewendet worden zu sein, was dazu führt, dass der Rest des Buches an einigen Stellen ungeordnet, durcheinander und roh wirkt.

„Leben, um davon zu erzählen“ ist ein prall gefülltes Buch, das vor Anekdoten, Personen und Geschichtchen nur so strotzt. Es erzählt nicht nur vom Leben eines großen Schriftstellers, sondern führt den europäischen Leser auch ein in kolumbianische Geschichte und die Literaturszene der Fünfzigerjahre. Die beiden Karten im Einband des Buches (der gebundenen Ausgabe) leisten dabei gute Dienste, um sich im kolumbianischen Hinterland zu orientieren, dennoch kann es dem unbedarften Leser passieren, dass er zwischen den vielen Namen und Personen kurzfristig den Überblick verliert.

Doch gerade deshalb ist „Leben, um davon zu erzählen“ eine Lektüre, die den Leser begeistern wird. Auch in seiner Autobiographie hat sich Márquez nicht vom magischen Realismus verabschiedet, dessen bekanntester Vertreter er ist. Seine Erzählungen wirken frisch und gegenwärtig, sodass man Márquez nur um sein offensichtlich sehr zuverlässiges und aufnahmefähiges Gedächtnis beneiden kann. „Leben, um davon zu erzählen“ macht nicht zuletzt Lust auf Lateinamerika, auf andere Autoren dieses Kulturkreises und darauf, auch andere Autoren durch ihre Autobiographien besser kennen zu lernen.

|Originaltitel: Vivir para contarla
Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz
608 Seiten
ISBN-13: 978-3-596-16266-6
Hardcover-Ausgabe: Kiepenheuer & Witsch, Dezember 2002, ISBN-13 978-3-462-03028-0|
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