Magnason, Andri Snaer – LoveStar

_Bissige Satire: Love & Death Incorporated_

Der internationale Konzern LoveStar hat in Island den größten Freizeitpark errichtet, den es je gab. LoveStar ist es gelungen, die Träume der Menschen zu entschlüsseln, die sich vor allem um die Liebe und den Tod drehen. Doch nicht alle lassen sich bei der Beglückung gleichschalten – ein junges Paar schafft es, seine ganz individuelle Liebe zu retten.

Bis ein größenwahnsinniger Mitarbeiter des Konzerns eine noch nie dagewesene Begräbniszeremonie organisiert, das „Millionensternefestival“, bei dem eine Million Tote ins All geschossen werden – um dann gleichzeitig weltweit als Sternschnuppen vom Himmel zu fallen. Allerdings geht dieser Plan nicht so ganz auf wie vorgesehen … (abgewandelte Verlagsinfo)

_Der Autor_

Andri Snær Magnason, geboren 1973 in Reykjavík, studierte Physik an der Isländischen Universität mit dem Abschluss Bachelor 1997.

Sein erstes veröffentlichtes Werk war der Gedichtband „Ljóðasmygl og skáldarán“ 1995. Es folgten der Gedichtband „Bónusljóð“ und der Kurzgeschichtenband „Engar smá sögur“. Sein bekanntestes Werk sind wohl seine Kinderbücher so wie „Blái hnötturinn“ oder „Sagan af bláa hnettinum“, deutsch: „Die Geschichte vom blauen Planeten“. Dieses wurde in zwölf Sprachen übersetzt und die isländische Band |múm| komponierte dazu 2001 einen Soundtrack. Sein Roman „LoveStar“ wurde im Jahr 2002 veröffentlicht und gewann zahlreiche Auszeichnungen.

Im März 2006 gab Andri Snær Magnason das Buch „Draumalandið – sjálfshjálparbók handa hræddri þjóð“ heraus, auf Englisch „Dreamland: A Self-Help Manual for a Frightened Nation“. Dafür erhielt er 2006 den Isländischen Literaturpreis. Im Februar 2010 erhielt er nach anderen Ehrungen den hoch dotierten Kairos-Preis. Er ist verheiratet und hat vier Kinder. Er bekämpft die Zerstörung des isländischen Hochlands durch das Eindämmen der Flüsse, das zur Aluminiumverhüttung vorangetrieben wird.

_Handlung_

Örvar Arnason ist ein Mann mit einer Vision. Der isländische Vogelforscher hat die sonderbaren Wellen von Vögeln und Schmetterlingen studiert und dabei ein neuartige elektronische Methode zur Markierung von Einzelwesen entwickelt. Das entsprechende Gerät ist winzig und kann sowohl senden als auch empfangen. Diese Entsprechung eines Handys lässt sich auch beim Menschen einsetzen, entdeckt er zu seiner Freude. Und ohne Handy hätten die Menschen endlich wieder beide Hände frei, um andere, sinnvollere Dinge zu tun, als ständig mit einem Hörer am Kopf herumzulaufen.

Nachdem er das Patent erhalten hat, nennt sich Örvar LOVE-STAR und gründet die gleichnamige Firma zwecks Vermarktung von Geschäftsmodellen, die auf diesem Gerät basieren. Weil die Vogelwellen die Satellitenübertragungen stören, ist seinem „Digitalfunk“ Erfolg beschieden. Natürlich nutzt er zunächst sein Heimatland als Versuchsfeld, bevor er den Rest der Welt beglückt. Schon bald stutzen die Isländer über neuartige Phänomene.

|Marketing für Handfreie|

Da gibt es beispielsweise die KRÄHER. Sie sind die neuzeitliche Entsprechung zum Marktschreier. Allerdings geben sie nur Werbesprüche von sich, die ihnen die LoveStar-Zentrale, an die sie ihr Sprachzentrum vermietet haben, auch eingegeben hat – wandelnde Litfasssäulen also. Und es gibt die GEHEIMWIRTE. Sie streuen im Sinne des viralen Marketings Werbeparolen, empfehlen selbst schlechteste Filme in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis, betreiben also bezahlte Mundpropaganda – gegen Cash versteht sich. Beide, Kräher und Geheimwirte, erwerben sowohl Geld als auch Bewertungspunkte im System von LoveStar, so dass sie sich ihren Aufstieg im aufstrebenden Konzern verdienen können. Demokratisch und gerecht, oder nicht?

|LoveDeath|

Eine weitere Idee, welche Örvar Arnason gekommen ist, vermarktet er jetzt als LoveDeath: Er schießt Verstorbene mit Billigraketen in die Umlaufbahn und lässt sie wieder abstürzen. Bei Wiedereintritt in die Atmosphäre verglüht die Rakete und schickt als aufflammendes Feuerwerk einen letzten Gruß an die auf der Erde andächtig zuschauenden Hinterbliebenen. Nach fünf Jahren braucht LoveStar ganze Flotten von Frachtern aus aller Herren Länder, um die vielen Toten, die seinem Konzern anvertraut werden, transportieren und in den Himmel zu schießen zu können. Die weltweite Markteinführung LoveDeaths steht kurz bevor.

Die Konzernzentrale ist in einen Berg hineingebaut worden. Jeder, der sie mit dem Touristenbus in der isländischen Heide besucht, staunt Bauklötze über die himmelhohe Eingangshalle, die in die Bergflanke eingelassen ist, die Aussegnungsräume und über die zahlreichen Abschussrampen für die Verblichenen. Es vergeht keine isländische Nacht mehr ohne Feuerwerk. Und die Telefonseelsorge REUE sorgt dafür, dass sich immer mehr Isländer vor dem Tod fürchten. Sie beginnen, diejenigen zu beneiden, die den „Absprung“ geschafft haben.

|LoveStar|

Örvar will seinem Land etwas zurückgeben. Zu diesem Zweck hat er LoveStar eigentlich gegründet, sagt er: zur wissenschaftlich fundierten Anbahnung der Liebe. Das Verlieben ist von nun an wegen der ausgeklügelten Computerauswahlverfahren keine Lotterie mehr, keine Iteration aus Verlieben und Entlieben, bis der oder die Nächste kommt, sondern eine verlässliche Zuweisung von WAHREN PARTNERN. Immer mehr Isländer vertrauen darauf, ganz ehrlich, da kannst du jeder Kräher und jeden Geheimwirt fragen.

Und so kommt es, dass auch das Liebespaar Indridi und Sigrídur nach fast genau fünf Jahren und sieben Monaten erfährt, dass es für Sigrídur den WAHREN PARTNER gibt: Per Möller. Indridi, seines Zeichen ein Gärtner auf einer Pflanzenfarm von LoveStar, ist wie vor den Kopf geschlagen. Aber genauso wenig wie die Altenpflegerin Sigrídur will er von seiner Liebe lassen. Zusammen, denken sie, sind sie stärker als der Konzern LoveStar.

|Liebesproben|

Doch der Konzern verfügt über modernste Mittel und Wege. Schon bald macht er den beiden unvernünftigen, UNWISSENSCHAFTLICHEN Turteltauben das Leben erheblich schwererer. Als auch der Einsatz eines Geheimwirts nicht fruchtet, sieht Indridi alsbald in wirtschaftlichen Schwierigkeiten und wird kurzerhand als Kräher rekrutiert. Wenn ein Kerl seiner einzig wahren Liebe ständig ins Ohr trällert, wie TOLL er ihr SCHICKES Kleid findet, wo es doch von ihrer Oma stammen könnte, stellt das auch seine beste Glaubwürdigkeit auf eine harte Probe.

Aber das ist erst der Anfang …

_Mein Eindruck_

Auf der einen Seite erscheint das Utopia, das LoveStar alias Örvar Arnason errichtet, zunehmend finsterer in seinen Folgen, auf der anderen Seite erscheint uns die Liebe zwischen Indridi und Sigrídur zunehmend in Gefahr zu sein – eben durch die LoveStar-Utopie. Spätestens nach zwei Dritteln des Buches ist klar, wo unsere Sympathien liegen sollten – bei den beiden Liebenden.

Doch so einfach macht es uns der Autor nicht: LoveStar ist ein Visionär, der ein wertvolles Geschenk erhalten hat, ein Samenkorn mit einem ganz besonderen, nahezu magischen Ursprung. Und Sigrídur scheint sich endgültig in die Arme von inLOVE begeben zu haben, um den ihr zugemessenen Mann kennenzulernen. Kann all dies zu einem guten Ende gelangen? Wahrscheinlich nur im Märchen. Und so kommt es auch.

|Fabel-haft|

Aber dies ist nicht irgendein ein Märchen von den Brüdern Grimm, o nein. Vielmehr haben die Isländer ganz spezielle Märchen, Sagen, Legenden, Fabeln und natürlich epische Sagas – ein ungeheurer Reichtum an Geschichten, den schon Professor Tolkien auszuschlachten wusste, um sein Privatuniversum aufzubauen (er war Spezialist für Altisländisch und Altenglisch). Deshalb sind unsere Liebenden zwar füreinander bestimmt, doch die Liebe muss zuerst über den Teufel und den Tod triumphieren. Darunter läuft gar nichts.

|Die Zauberlehrlinge|

Teufel gibt es genügend in LoveStars Imperium der Liebe. Hier ist alles von der Wissenschaft der Gentechnik, der Fernkommunikation und des verhaltensgestützten Marketings durchdrungen. Die fleißigen Zauberlehrlinge LoveStars haben das Geheimnis der Liebe ebenso ergründet, wie sie den Tod durchorganisiert haben. Nun öffnet sich ihrem suchenden Blick auf das allerletzte Geheimnis: Wohin sich die Gebete aller Menschen richten – es ist ein ganz bestimmter Ort irgendwo in Ostafrika. Mit anderen Worten: Dort wohnt Gott, was alle praktischen Zwecke angeht. Stracks verfügt sich LoveStar dorthin. Nur um auf ein noch größeres Geheimnis zu stoßen – und ein Samenkorn.

|Der Widersacher und das Ende der Welt|

Doch er hat einen Teufel geschaffen, der ihm an Einfallsreichtum ebenbürtig ist: Ragnar. Indem er dessen Ideenreichtum erst von inLOVE, der Vermarktung der Liebe, abgezogen und auf LoveDeath abgeschoben hat, schuf er eine unheilvolle Allianz aus Genialität und Morbidität. Das Ergebnis ist – tadaaa! – das „Millionensternefestival“. Dabei sollen eine Million Tote gleichzeitig erst auf eine Kreisbahn um die Erde gebracht werden – dabei entsteht eine Art Saturnring – und diese dann alle auf ein Kommando hin in die Atmosphäre der Erde abgeschossen werden. Theoretisch sollen sie alle darin wie Meteore verglühen, sozusagen als das ultimative Feuerwerk. Doch leider ist bei der Berechnung der Brenndauer etwas schiefgegangen.

Werden unsere Liebenden, Verkörperungen der Unschuld und Zuneigung, diesen Weltuntergang überdauern oder wie fast der gesamte Rest der Welt unter den Überresten der nicht verglühten Toten begraben werden? Das soll hier nicht verraten werden. Nur eines: Sie haben einen mächtigen und nicht gerade alltäglichen Beistand.

Ein satirisches Märchen also zwischen Utopie und Apokalypse – ist dies die Essenz des Buches? Wäre dies alles, was der Leser mitnehmen könnte, dann würde die Geschichte auf nicht mehr als ein hübsche Idee hinauslaufen. In Wahrheit handelt es sich jedoch aufgrund der Kraft der Satire um einen bissigen, wenn auch charmant vorgetragenen Angriff auf zahlreiche Werte, die die heutige Welt bestimmen.

|Der Teufel in der Maschine|

Der Erfindungsreichtum LoveStars, der die Menschen von Handys, Liebesirrtümern, elenden Siechtum usw. befreien soll, läuft auf eine Entmündigung hinaus, im Falle von Indridis und Sigrídurs Schicksal gar auf kriminelle Machenschaften. Doch die Firmenleiter haben im Geist der Maschine einen Teufel geschaffen, der sich nur zu bereitwillig gegen die Ziele der Wohlmeinenden und zur Verfolgung egoistischer Ziele einsetzen lässt. Der Computermanipulation ist, wie jeder weiß, stets Tür und Tor geöffnet. Der Autor verteufelt nicht die Rechenknechte, sondern ihre fahrlässigen Bediener und Verwalter.

|Tödliches Marketing |

Ein weiteres Angriffsziel, das der Autor aufs Korn nimmt, ist das Marketing. Hier kennt er sich offenbar bestens und womöglich aus eigener Anschauung aus. Die Mechanismen, die die Marketingabteilung LoveStars anwendet, sind heute alle bereits im Einsatz. Doch aufgrund der (mehr oder weniger freiwillig gewährten) Übernahme des Sprachzentrums von Mitarbeitern lassen sich den Werbebotschaften weitaus glaubwürdigere Übermittler zugesellen: Der Mensch ist das Medium! Marshall McLuhan, der Künder des Slogans „Das Medium ist die Botschaft!“, würde sich im Grabe umdrehen. Aber der Autor folgt lediglich der Logik der Entwicklung zur letzten Konsequenz.

|Liebe und Tod GmbH|

Ein drittes Ziel ist die profitorientierte Bewirtschaftung der letzten tabuisierten Lebensbereiche: Tod und Liebe. Da karren die Isländer Mütterchen und Väterchen zur Festung von LoveStar, um sie abschießen zu lassen und als Feuerwerk zu genießen – eine Wachstumsbranche. Von inLOVE werden die Liebenden neu berechnet, um den wahren Geliebten zu finden. Dieser Schuss geht allerdings nach hinten los: Wunschlos glücklichen Menschen kann man einfach nichts mehr verkaufen, mit dem sie ihre Unzufriedenheit besänftigen könnten, beispielsweise ein dickeres Auto oder eine schickere Waschmaschine (oder ein Apple iPad). Dumm gelaufen, LoveStar. Tatsächlich erinnert sein Imperium stark an das von Kultfirmen wie Apple, Virgin (Richard Branson) oder Microsoft.

|Mickey der Fleischfresser|

Es gibt noch zahlreiche weitere Einfälle, die Seitenhiebe auf liebgewordene Kulturikonen austeilen. In einer grotesken Szene stellen uns LoveStars Zauberlehrlinge das neueste, gentechnisch produzierte (und patentierte) Haustierchen vor: Mickey Mouse! Diese echten Riesenmäuse ähneln Walt Disneys gezeichnetem Vorbild bis aufs runde Näschen und die süüüßen großen Öhrchen. Doch unter dem Fell, das gestreichelt werden will, verbirgt sich ein Raubtier, das am liebsten Kinder anfällt! Daran müssen die Gentechniker noch ein wenig schrauben. Zu dumm, dass einzelne Länder in Fernost bereits Chargen des fehlerhaften Maskottchens erhalten und in Umlauf gebracht haben. Die Zeitungen berichten von ersten Zwischenfällen …

|Eine Schwäche?|

Eine der Schwächen, die ich dem Roman vorwerfen könnte, ist seine Unausgewogenheit. Die Story selbst reicht gerade mal für hundert Seiten, also eine Novelle. Doch der Autor hat sie durch Beschreibungen zahlreicher Nebenfiguren und vor allem durch Meditationen seiner Hauptfigur LoveStar so aufgeblasen, dass die Story eine weltumspannende Bedeutung annimmt und zur Besichtigung eines Zeitalters – verzerrt durch den Spiegel eines warnenden Narren – gerät.

Kein Wunder also, dass die meiste Action im ersten und im letzten Drittel zu finden ist. Zunächst muss der Konflikt herbeigeführt und zuletzt aufgelöst werden – mit den bekannt fatalen Verwicklungen. Gerade das Finale hat mich umgehauen. Hier wartet der Autor mit zwei oder drei netten Ideen auf, die man so noch nirgends gelesen hat. Und so schloss ich das Buch mit einem recht zufriedenen Gefühl und dem Appetit, es noch einmal zu lesen, diesmal in aller Ruhe.

|Die Übersetzung|

Die Übersetzung aus dem Isländischen ist fehlerlos gelungen und es finden sich kaum nennenswerte Druckfehler. Auch der deutsche Stil lässt keine Wünsche offen, es sei denn, man wünscht sich eine etwas flapsigere Ausdrucksweise. Diese beherrschen aber nur sehr wenige Übersetzer sicher, so etwa Bernhard Kempen. Und so wirkt der deutsche Stil zwar korrekt, aber auch ein wenig blass und kraftlos. Manchmal kann man eben nicht beides bekommen.

_Unterm Strich_

Die Satire nutzt sowohl die Mittel der Sciencefiction als auch der reichen Erzählkultur Islands. Im ersten und letzten Drittel überzeugt die Geschichte daher mit einem straffen, ziemlich unvorhersehbaren Plot, der sich zu einem grandiosen Finale aufschwingt. Im Mittelteil kommen der Satiriker und der Werbefachmann zur Geltung, was mitunter zu seitenlangen Rückblenden, Meditationen usw. führt.

Überhaupt bleibt der Mensch Örvar Arnason seltsam blass: Er hat die beste aller Welten gewollt, seine Familie auf dem Altar dieses Ziels geopfert und sich zu Gott aufgeschwungen, aber dennoch einen Teufel und die Hölle auf Erden geschaffen. Dass alles „gut gemeint“ gewesen sei, hilft ihm jetzt auch nicht mehr: Er ist der einsamste Mensch des Planeten, als er den Löffel abgibt. Nicht er schreibt das letzte Kapitel, sondern die Überlebenden. Ob die Liebenden dazugehören werden, soll hier nicht verraten werden.

„LoveStar“ ist keine Thriller- oder SF-Massenware, sondern erfordert schon ein wenig Offenheit und Mitdenken vom Leser, um all die ungewöhnlichen Ideen zu durchdenken. Besonders der Mittelteil kann so zu einer gewissen Durststrecke werden. Doch dafür wird man durch ein fulminantes Finale belohnt. Der Autor wurde dafür nicht ohne Grund mit Preisen ausgezeichnet.

|Originaltitel: LoveStar, 2002
Aus dem Isländischen von Tina Flecken
299 Seiten
ISBN-13: 9783785760284|
http://www.luebbe.de

Andri Magnason

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