Henning Mankell – Wallanders erster Fall (Hörspiel)

Backpfeifen und Messerstiche: Wallander lebt gefährlich

Als Kurt Wallander seinen ersten Fall löst, ist er Anfang zwanzig, ein junger Kriminalassistent in Malmö und in seine Freundin Mona verliebt. Man schreibt den Juni 1969, und Polizisten gehen gegen Anti-Amerika-Demonstranten vor. Eines Abends findet er seinen Nachbarn erschossen auf dem Küchenboden vor. Die Kripo tippt auf Selbstmord, doch Wallander zweifelt an dieser Erklärung – ganz besonders dann, als die Wohnung des Nachbarn in Brand gesteckt wird und man wenig später auf eine zweite Leiche stößt. (aus der Verlagsinfo)

Im Vergleich zur Fassung des Hörverlags ist diese Lesung dreimal so lang.

Der Autor

Henning Mankell wurde 1948 in Schweden geboren. Heute verbringt der Schriftsteller, Drehbuchautor und Intendant die eine Jahreshälfte in Mocambique, wo er seit 1996 das Teatro Avenida in der Hauptstadt Maputo leitet. Die andere Jahreshälfte verbringt er in Schweden. Für sein vielseitiges Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, so etwa mit dem Deutschen Krimi-Preis und mit dem Deutschen Bücherpreis.

Der Sprecher

Ulrich Pleitgen, geboren 1946 in Hannover, erhielt seine Schauspielerausbildung an der Staatlichen Hochschule für Musik und Theater in seiner Heimatstadt. Pleitgen wurde nach seinen Bühnenjahren auch mit Film- und Fernsehrollen bekannt. 1994 wurde er mit dem „Bambi“ ausgezeichnet. Er hat schon zahlreiche Hörbücher vorgelesen und versteht es, mit seinem Sprechstil Hochspannung zu erzeugen und wichtige Informationen genau herauszuarbeiten, ohne jedoch übertrieben zu wirken. Am bekanntesten ist er wohl für seine Mitwirkung an der POE-Hörspiel-Reihe des Lübbe-Audio-Verlags.

Regie führte Margrit Osterwold, den Ton steuerte Fabian Küttner. Pleitgen liest eine gekürzte Fassung, die aber immer noch dreimal so lang ist wie jene, die der Hörverlag anbietet.

Handlung

Kurt Wallander erinnert sich an jene Zeit, als er ein 21-jähriger Kriminalassistent – also kein Kripo-Beamter – war und mit einer tiefen Stichwunde im Krankenhaus lag. Er war um Haaresbreite dem Tod entgangen. Und das war alles seine eigene Schuld. Aber auch ein Eintrittspreis zu einer Karriere bei der Kripo. —

Man schreibt den 3. Juni 1969. Eigentlich wollte er ja mit seiner zweiten festen Freundin Mona, einer Friseuse, wegfahren, weil heute sein freier Tag ist, aber sie will lieber mit ihrer Freundin losziehen. Er hat frei, weil er Überstunden abfeiern kann, die er während der Einsätze gegen Demonstranten in Lund und Malmö angesammelt hat. Die Studenten protestieren gegen die USA und deren Vietnamkrieg, nicht nur in Malmö, sondern überall in der westlichen Welt.

Als Wallander in einem Bistro einen Kaffee trinken will, wird er von einem 17-jährigen Mädchen angemacht, die sich beschwert, er habe sie mit seinem Knüppel bei der Demo geschlagen. Er aber kann sich an die junge Frau nicht erinnern. (Sie wird später noch einmal wichtig.) Aber es ist kein gutes Gefühl, seine Pflicht bei der Truppe zu tun und hinterher von den Bürgern dafür blöd angemacht zu werden. Er würde viel lieber ermitteln und richtige Verbrecher zur Strecke bringen, aber dafür müsste er zur Kriminalpolizei.

Er ist zu Hause über einem „Playboy“-Heft eingeschlafen (Sex mit Mona ist eben tausendmal besser), als ihn ein lauter Knall aus dem Schlummer reißt. Es ist exakt 15:45 Uhr. Die Tür zur Wohnung des Nachbars steht seltsamerweise offen, und als Wallander hineingeht, haut ihn der Anblick des toten Mannes fast um, der da in einer Blutlache liegt, einen Revolver neben sich. Selbstmord oder Mord?

Das fragt sich auch Kommissar Hemberg, der nach Wallanders Meldung den Tatort in Augenschein nimmt. Hemberg soll sein künftiger Chef sein, wenn es nach Wallander geht, und der Ältere spart auch nicht mit Weisheiten und Belehrungen, die dem Jüngeren helfen sollen – zu „denken“, wie der Mentor meint.

Der Tote ist Artur Hålén, geboren am 13.9.1898, also schon 71, ein ehemaliger Matrose und Maschinist. Der Schuss durchschlug sein Herz sehr sauber. Klarer Fall: Selbstmord. Aber kein klarer Fall für Wallander: Wieso hatte Artur erst vor einer Woche ein zusätzliches Türschloss angebracht? Wieso hatte er gerade erst einen Tippschein für Fußball ausgefüllt? Und als ein Besucher erscheint, erfährt Wallander, dass Hålén gerade die erste Rate für ein Nachschlagewerk bezahlt hatte. So etwas macht man doch nicht, wenn man vorhat, sich umzubringen, oder?

Wallander hat über diesen Dingen ganz vergessen, Mona an der Fähranlegestelle abzuholen. Das soll er noch bitter bereuen. Denn es bleibt nicht bei diesem einen Mal, dass er Mona versetzt, und schließlich setzt es eine saftige Ohrfeige von ihr. Ob das noch was wird?

Am 5. Juni nickt Wallander wieder einmal zu Hause ein, bis ihn ein seltsamer Brandgeruch weckt. Håléns Wohnung steht in Flammen! Wallander ruft sofort die Feuerwehr, die denn auch Brandstiftung als Ursache feststellt, und Kommissar Hemberg wundert sich. Fast lässt er sich von Wallanders Hypothese des Mordes überzeugen, doch der Befund des Gerichtsmediziners bestätigt die Selbstmordtheorie: Im Magen des alten Seemanns wurden Edelsteine gefunden, Diamanten im Wert von rund 150.000 schwedischen Kronen – eine Menge Geld für einen Rentner. War es das, was der Einbrecher und Brandstifter, ja, vielleicht sogar Mörder gesucht hat?

Jedenfalls lässt Wallander jetzt erst recht nicht locker und stößt schon bald auf eine zweite Leiche …

Mein Eindruck

In dieser Langfassung wird viel besser klar und verständlich, wie es Wallander gelingen kann, diesen kniffligen Fall aufzuklären und sich dennoch schwer in die Bredouille zu bringen – er fängt sich ja bekanntlich einen Stich in die Brust ein. Bei seinen Ermittlungen ist er deshalb so erfolgreich, weil er sich abseits des Teams auf eigene Faust auf ungewöhnliches Terrain begibt. Er fragt eine Tabakverkäuferin aus, bei der Hålén seine Tippscheine abgab und Telefonanrufe tätigte. Er kontaktiert sogar seine Ex-Freundin Helena, die mit ihm nur noch dienstlich verkehren will. Sogar einen Taxifahrer und einen dänischen Ex-Matrosen aus Kopenhagen spannt er ein, um dem Rätsel des Artur Hålén auf den Grund zu gehen.

Ein Privatdetektiv?

Zunehmend wundert sich Kommissar Hemberg, sein Mentor, was der junge Beinahe-Kollege da so alles augräbt. Alles höchst faszinierend. Aber auch höchst illegal! Denn die Vorgehensweise, deren sich Wallander befleißigt, stünde einem Privatdetektiv besser zu Gesicht als einem Polizisten, der ja immerhin ein Angestellter der Öffentlichkeit ist und somit über sein Tun und Lassen Rechenschaft abzugeben hat. Aber Hemberg, der Wallander zu seiner Ermittlungsgruppe hinzuzieht, ist froh, dass er jemanden gefunden hat, der eigenständig denken kann und sogar einen Jagdinstinkt besitzt – denn diesen vermisst er bei seinen anderen Zuarbeitern doch in erheblichem Maße.

Privatleben eines Kommissars

Was man in der Langfassung ebenfalls des Langen und Breiten mitgeteilt bekommt, ist das Privatleben des später so berühmten Kommissars. Da ist zum einen die Freundin Mona, die ihn auf die Probe stellt und ihm klar macht, dass es so nicht weitergehen kann. Und da ist natürlich auch seine eigene Familie. Nach dem Tod der Mutter ist da sein wunderlicher und grantiger Vater, der Knall auf Fall Richtung Ystad zieht, aufs Land, um dort zu malen.

Und da ist Kristina aus Stockholm, die doch tatsächlich die Lügenmärchen, die sein Vater über Kurt erzählt, unbesehen glaubt und ihm, Kurt, an den Kopf wirft. Wie er nur so grausam zu Vater sein könne? Da hört sich ja alles auf, denkt Kurt und erklärt ihr, wie sehr sich die Wahrheit, wie er sie versteht, von der unterscheidet, die sie mitgeteilt bekommen hat.

Durch diese Szenen fällt nicht nur ein anderes Licht auf den Privatmenschen Wallander, sondern so manches ironisches Licht auf ihn und seine zunächst noch unbeholfene Umgangsweise mit Familie und Nachbarn. Mit 21 muss er sich noch die Hörner abstoßen, was zu manchen humorvollen Effekten Gelegenheit gibt. So etwa dann, als er so unklug ist, in Kopenhagen Muscheln zu essen.

Der Sprecher

Und die stimmliche Darstellung durch Ulrich Pleitgen trägt zu dieser Charakterisierung ganz wesentlich bei. Kurts „Stimme“ ist gehemmt und zaghaft, leise und langsam. Ganz anders hingegen die Vaterfiguren: Sein Vater poltert herrisch und kurz angebunden daher, weil er schon immer gegen Kurts Berufswunsch „Polizist“ gewesen ist. Und Hemberg würde Wallander am liebsten zur Schnecke machen, weil er so eigenmächtig gehandelt hat. Aber Hemberg ist zu klug, als Wallander den Schneid zu nehmen, sondern integriert ihn in seine eigene Truppe. Auch der Feuerwehrhauptmann will den Jungpolizisten unterbuttern, doch Wallander bietet ihm Paroli – immerhin.

Pleitgen gelingt es auch mit den Mitteln des Akzents, die verschiedenen Figuren zu charakterisieren. Bestes Beispiel ist der Ex-Matrose Jespersen aus Kopenhagen, den Wallander aufsucht. Jesperson hat eine forsche und leutselige Art, mit seinem „Freund“ umzugehen und bedient sich eines umgangssprachlichen Idioms, das ihn glaubwürdiger macht, als spräche er astreines Hochdeutsch.

Was ich noch unbedingt erwähnen muss: Pleitgen spricht die schwedischen und dänischen Namen einwandfrei aus, so dass sie genauso klingen wie aus dem Munde eines Einheimischen, aber natürlich ganz anders als man sie auf gedrucktem Papier vorfinden würde. Lund wird „Lünd“ ausgesprochen, und „Lars Svensson“ klingt wie „larsch schwenschon“. Das ist schon ein wenig gewöhnungsbedürftig. Aber ich verlasse mich darauf, dass das seine Richtigkeit hat, denn auch in den Liza-Marklund-Hörbüchern spricht Judy Winter auf diese Weise.

Unterm Strich

Wäre dies kein Wallander-Roman, sondern ein ganz gewöhnlicher Schwedenkrimi, so würde ich die Story im oberen Drittel einordnen, denn die Ermittlungen – mit allen Hindernissen – des Kurt Wallander sind sowohl spannend als auch voller überraschender Wendungen. Und der Autor verleiht seinem Serienhelden sehr menschliche Züge, die zu allerlei humorvollen Episoden Anlass geben. (Wallander nimmt beispielsweise beim Anblick der zweiten Leiche erst einmal Reißaus, weil er sich wie ein Lausbub als Einbrecher ertappt fühlt.)

Da dies aber ein Wallander-Roman ist, sind strengere Maßstäbe anzulegen. So etwa fehlt jede sozialkritische Komponente, wie man sie bei diesem Autor gewöhnt ist. Die Hintergrundstory legt ein einfaches Raubverbrechen zugrunde. Und daher erscheint dieser Roman wohl eher als ein Füllsel in der Biografie des berühmten Kommissars. Mittelklasse, nicht mehr.

Im Hörbuch macht jedoch Ulrich Pleitgen diese mittelmäßige Leistung zu einem Erlebnis der Sonderklasse, und mit jedem neuen Kapitel freut man sich schon darauf, wem denn Pleitgen nun mit seiner wandlungsfähigen Stimme wieder Leben einhaucht. Das wertet den Gesamteindruck entsprechend auf.

236 Minuten auf 3 CDs
Aus dem Schwedischen übersetzt von Wolfgang Butt.
ISBN-13: 978-3899032130

www.hoerbuch-hamburg.de

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)