Markus Zusak – Die Bücherdiebin

Der Tod ist uns bereits in vielen literarischen Werken begegnet, so zum Beispiel als bedrohliche Gestalt im „Jedermann“ von Hugo von Hofmannsthal oder in seiner wohl kuriosesten Form in Terry Pratchetts |Scheibenwelt|. Doch vermutlich haben wir den Tod noch nie so gut kennen gelernt wie in Markus Zusaks „Bücherdiebin“, nie sind wir ihm und seinen Gedanken so nahe gekommen und nie konnten wir ihn so menschlich erleben wie hier. Zusaks Tod möchte dem Sterben eine fröhliche Seite verleihen, sein Tod ist amüsant, achtsam und andächtig, und das sind nur seine guten Eigenschaften mit dem Buchstaben A. Nur ’nett‘, das ist ihm völlig fremd. Hier lohnt sich also ein genauerer Blick …

_“Nett“ ist dem Tod völlig fremd_

Ihre erste Begegnung mit dem Tod hat Liesel im Jahr 1939 im Alter von neun Jahren, als sie zusammen mit ihrem Bruder mit dem Zug nach Molching reist, um dort bei Pflegeeltern zu wohnen. Doch ihr Bruder überlebt die Fahrt nicht und stirbt unterwegs. An den Gleisen begegnet er dem Tod, der seinerseits sogleich von Liesel fasziniert ist. Das junge Mädchen stiehlt in dieser Situation ihr erstes Buch, und zwar das „Handbuch für Totengräber“, anhand dessen sie lesen lernt. Liesel Meminger ist allerdings keine gewöhnliche Diebin, sie stiehlt nicht jedes Buch, sondern sie nimmt sich Bücher nur in bestimmten Situationen und nur, wenn es für sie nicht anders geht. So sind es nur wenige Bücher, die sie im Laufe der Jahre ansammelt, und es sind schlechte Jahre – es ist der Zweite Weltkrieg und die Bomben fallen auf Deutschland und später auch auf die bayrische Stadt Molching.

Der Tod hat uns eine faszinierende Geschichte zu erzählen, nämlich die von Liesel Meminger, die ihm nicht aus dem Kopf gehen will, seit er sie an den Gleisen stehen gesehen hat, als er sich die Seele ihres toten Bruders geholt hat. Liesel wächst bei ihren Pflegeeltern Rosa und Hans Hubermann auf, die fortan ihre Familie bilden. Rosa wirkt nach außen hin sehr schroff und betitelt geliebte Menschen nur mit den Worten „Saumensch“, dennoch gleicht es einer besonderen Auszeichnung, von Rosa diesen Namen zu erhalten, denn nur ihr liebe Menschen nennt sie so. Hans Hubermann ist praktisch das Gegenteil seiner Frau, er ist stets freundlich und hilfsbereit und wird für Liesel eine der wichtigsten Bezugspersonen überhaupt. Er hat bereits eine bewegte Vergangenheit hinter sich, deren wesentliche Ereignisse wir im Laufe der Geschichte kennen lernen. So erfahren wir, wie er einem Juden sein Leben verdankt – und auch ein Akkordeon, das Hans allerdings während des Zweiten Weltkrieges nur noch selten spielt. Eines Tages soll ihn seine Vergangenheit einholen, als nämlich der Sohn von Hans‘ Lebensretter vor der Tür steht und um Zuflucht vor den Nazis bittet.

Liesel freundet sich immer mehr mit Max an, dem Juden, der sich im Keller der Hubermanns versteckt. Immer mehr Zeit verbringt sie bei Max, statt mit ihrem guten Freund Rudi beim Fußball spielen. Dennoch nimmt auch Rudi in Liesels Leben eine ganz wichtige Rolle ein; die beiden verbindet trotz ihres jungen Alters eine tiefe Liebe, die sich Liesel allerdings lange nicht eingestehen kann.

All diese Ereignisse werden überschattet von den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges, die zunächst kaum nach Molching vordringen, später allerdings dafür umso schrecklicher. Und zwischendurch muss der Tod immer häufiger loseilen, um die Seelen der Toten einzusammeln. In diesen Jahren hat er viel zu tun, dennoch hat er stets ein Auge auf Liesel, der er gar nicht allzu früh wiederbegegnen möchte …

_Tod auf Abwegen_

Markus Zusak hat sich für seine Erzählerrolle eine ganz besondere Figur herausgesucht, und zwar eine der im zweiten Weltkrieg vermutlich am meist Beschäftigten – den Tod. Doch dieser gerät ein wenig auf Abwege, als er die junge Liesel Meminger das erste Mal sieht. Obwohl er ihr nur dreimal begegnet, weiß der Tod erstaunlich gut über Liesel Bescheid. Das hat er dem glücklichen Umstand zu verdanken, dass er bei der dritten Begegnung Liesels Buch aufsammeln kann, in welchem sie ihre kurze Lebensgeschichte aufgeschrieben hat. Während um sie herum die ganze Welt zusammenbrach, hat Liesel jede Nacht stundenlang geschrieben – eine Geschichte, die nicht nur den Tod fasziniert, sondern auch den Leser. Liesel ist eine Überlebende, oft genug schaut der Tod in ihrer Nachbarschaft, in der Familie und im Freundeskreis vorbei, Liesels Seele jedoch holt der Tod sich erst ganz zum Schluss. Und erst dann kommt es zum ersten kurzen Gespräch zwischen den beiden.

Neben dem Tod ist Liesel die zweite Hauptfigur der Erzählung. Als wir ihr das erste Mal begegnen, ist sie erst neun Jahre alt, dennoch hat sie schon schwere Schicksalsschläge einstecken müssen. Sie wächst bei Pflegeeltern auf – ohne ihren Bruder, der bereits am Anfang des Buches stirbt. Liesel wird schneller erwachsen, als man es ihr wünschen mag. Sie erlebt die Kriegsgräuel hautnah mit, muss geliebten Menschen beim Sterben zusehen und verliert nach und nach viele geliebte Menschen. Als ihre Eltern einen Juden bei sich im Keller verstecken, kümmert sich Liesel nicht nur liebevoll um ihn, sondern sie versteht auch gleich trotz ihres jungen Alters die Schwere dieser Situation und vertraut sich nicht einmal ihrem besten Freund Rudi an. Sie wird erfinderisch, als die Nazis die Häuser auf der Suche nach geeigneten Luftschutzkellern durchkämmen, und rettet Max damit das Leben.

Ihre Liebe zu Büchern, in denen sie sich vollkommen verlieren kann und die es ihr erlauben, in eine andere, faszinierende Welt einzutauchen, macht Liesel noch sympathischer. Und obwohl Liesel eine erstaunliche Entwicklung durchmacht, bleibt sie doch stets glaubwürdig, denn es sind meist einschneidende Erlebnisse, die sie einen Schritt nach vorne in Richtung Erwachsenendasein tun lassen.

_Nicht noch ein solches Buch?!_

„Die Bücherdiebin“ mag das x-te Buch in einer Reihe voller Romane über die NS-Zeit sein, dennoch hebt es sich von der Masse ab. Markus Zusak schreibt frei von Kitsch und berührt dennoch die Herzen seiner Leser – und das, obwohl er selbst keine eigenen Erinnerungen an diese Zeit hat, sondern auf den Erfahrungsschatz seiner Eltern zurückgreifen musste.

Obwohl das Buch direkt im Jahr 1939 zu Beginn des zweiten Weltkrieges einsteigt, bleiben die Kriegserlebnisse längere Zeit eher im Hintergrund. Der Tod bekommt immer mehr zu tun, dennoch stehen weiterhin Liesel Meminger und Rudi Steiner sowie ihre Freundschaft im Vordergrund der Erzählung. Die beiden gehen auf Diebestour, denn der Hunger ist groß. Ein paar Äpfel als Diebesgut sind Belohnung genug für die beiden, auch wenn Liesels ausgehungerter Magen die Nahrungsaufnahme gar nicht verträgt. In die Geschichte eingewoben, klingt also das Elend durch, in dem die Menschen damals gelebt haben. Auch dass Rosa Hubermann die Kunden davonlaufen, weil die meisten Menschen es sich nicht mehr leisten können, sich von ihr die Wäsche waschen zu lassen, ist Zeichen genug. Dennoch geht es vordergründig weiterhin um Liesel, denn der Tod will eigentlich gar nicht so sehr die Geschichte des Krieges erzählen, sondern die der Bücherdiebin, die ihre Zuflucht in den Büchern findet. Lesen ist für sie die Flucht vor Albträumen oder schlimmen Gedanken. Auch im Luftschutzraum während eines Bombenalarms ist es ein Buch, das nicht nur Liesel von der elenden Warterei ablenkt, sondern auch ihre Freunde und Nachbarn. So liest Liesel Kapitel um Kapitel, während die Menschen fürchten müssen, dass währenddessen ihr Hab und Gut weggebombt wird. Doch Liesels Worte lassen die Menschen kurzzeitig in eine fremde Welt flüchten.

„Die Bücherdiebin“ ist nicht einfach nur ein Buch über die NS-Zeit, es ist ein mitreißendes Portrait einer ganz besonderen Buchliebhaberin, die schnell die Herzen aller Leser erobert. Stilistisch ist das vorliegende Werk allerdings oftmals gewöhnungsbedürftig. Einen Einstieg habe ich lange nicht gefunden, weil ich nicht wusste, worauf Markus Zusak hinaus will. Zu kurz waren die ersten Kapitel, als dass ich mich schnell hätte einlesen können. Oftmals sind es mehrere zusammenhanglose Absätze, die auf einer Seite aneinander gereiht sind. Auch die vielen fettgedruckten Passagen, die Randbemerkungen, nähere Erläuterungen oder Personenvorstellungen darstellen bzw. etwas besonders hervorheben sollen, unterbrechen häufig den Lesefluss. Darüber hinaus sind viele Sätze arg knapp geraten, sodass die Sprache teils abgehackt anmutet. Lange braucht es daher, bis das Buch seine volle Faszination entfaltet und man tatsächlich in der Geschichte versinken kann. Dann allerdings sind viele schöne Schätze zu entdecken. Besonders berührt hat mich die Geschichte, die Max für Liesel geschrieben hat. Keinen Zugang habe ich allerdings zu seinen Skizzen gefunden. Ich bin etwas zwiegespalten bei diesem Buch, denn die Grundgeschichte, die Charaktere und viele von Zusaks Erzählungen sind einfach nur schön, doch manche Stilmittel empfand ich bis zum Schluss als störend. So bin ich durchgehend zusammengezuckt, wenn Rosa ihre Pflegetochter mit „Saumensch“ anredet. Die fettgedruckten Absätze sehen zwar durchaus hübsch aus, sie stören aber immer wieder den Lesefluss, zumal sie oftmals inhaltlich wenig zu sagen haben.

Unter dem Strich bleibt dennoch ein überaus positiver Eindruck zurück, obwohl ich denke, dass das Buch eher für Erwachsene und Jugendliche ab etwa 14 Jahren geschrieben ist. Viele Details dürften zu jungen Lesern womöglich verborgen bleiben, zumal sich das Buch nicht immer ganz ‚unanstrengend‘ liest. Wenn man sich aber erst mal auf das Buch eingelassen hat, entdeckt man das ganz Besondere an der „Bücherdiebin“. Markus Zusak ist hier sicher ein ganz großer Wurf gelungen. Nachdem ich das Buch ausgelesen hatte, blieben bei mir ein wenig Trauer zurück, weil ich eine liebgewonnene Freundin verlassen musste, und der Wunsch, noch mehr über Liesel zu erfahren und über die Jahre zwischen ihrer dritten Begegnung mit dem Tod und dem schlussendlich letzten Zusammentreffen, aber das werden wir vermutlich nie erfahren – schade.

|Originaltitel: The Book Thief
Originalverlag: Random House US/UK
Aus dem Englischen von Alexandra Ernst
Ab 12 Jahren
Gebundenes Buch, 592 Seiten|
[Homepage des Autors]http://www.randomhouse.com/features/markuszusak/
[Verlagsspezial]http://www.randomhouse.de/webarticle/webarticle.jsp?aid=10217