Mass, Wendy – Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst; Das

_Witziges Jugendbuch: Weisheiten aus New York_

Jeremy Fink steht vor einem unglaublichen Rätsel: Eine verschlossene Holzkiste, die den Sinn des Lebens verspricht – das ist alles, was sein verstorbener Vater ihm zu seinem 13. Geburtstag hinterlassen hat. Doch die Schlüssel dazu sind spurlos verschwunden!

Neugierig machen sich Jeremy und seine beste Freundin Lizzy auf die Suche danach – und geraten in eine abenteuerliche Odyssee quer durch New York, voll skurriler Ereignisse, köstlicher Süßigkeiten, abgegriffener Spielkarten und wundersamer Begegnungen. Doch was sie am Ende ihrer Reise finden, übertrifft alles, was sie jemals zu hoffen gewagt hätten. (Verlagsinfo)

Der Verlag empfiehlt das Buch für das Alter zwischen 12 und 15 Jahren.

_Die Autorin_

Wendy Mass, geboren 1967, wuchs in Livingstone, New Jersey auf. Schon als Kind liebte sie Bücher, was sie – nach einigen Schreibkursen – zur Schriftstellerin machte. Heute lebt die mehrfach ausgezeichnete Jugendbuchautorin in New Jersey mit ihrem Mann, ihren Zwillingen und ihrer Katze. (Verlagsinfo)

_Handlung_

Jeremy Fink, der noch einen Monat bis zu seinem 13. Geburtstag Zeit hat, mag keine Veränderungen. Seit sein Vater vor knapp sechs Jahren bei einem Autounfall mit nur 39 Jahren starb, lebt er mit seiner Mutter in einem New Yorker Mietshaus, in dem auch seine Seelengefährtin Lizzie bei ihrem Vater wohnt. Ihre Kinderzimmer grenzen an die gleiche Wand, und durch ein Loch darin können sie auf Schulheftpapier geschriebene Botschaften austauschen. Keine SMS, keine E-Mails, nein, sondern altmodisches Papier. Während Jeremy nicht genug Wissen – insbesondere über Zeitmaschinen – in sich hineinstopfen kann, findet Lizzie, unnützes Wissen sei nur Ballast.

Heute kommt Postbote Nick mit einem größeren Pappkarton vorbei. Eigentlich sei das Paket an Jeremys Mutter adressiert und sie müsse auch den Empfang quittieren, doch Jeremy und Lizzie bequatschen ihn so lange, bis er Jeremy das Paket übergibt. Die Neugierde siegt über den Respekt vor der Mutter, und so öffnet Jeremy das Paket. Ein Brief von Onkel Harold, einem Freund seiner Eltern, der als Anwalt oder so arbeitet. Und dann diese Holzkassette, auf der eingeschnitzt draufsteht: „DER SINN DES LEBENS. FÜR JEREMY FINK. ZU ÖFFNEN AN SEINEM 13. GEBURTSTAG.“

Wow, der Sinn des Lebens, hübsch verpackt in einer Kassette! So etwas kann auch nur sein Vater fertigbringen, denkt Jeremy, bevor er den Brief weiterliest. Onkel Harold hat offenbar die vier Schlüssel verloren, die nötig sind, um den Deckel der Kassette zu öffnen. Und wie er später herausfinden soll, nützt es nichts, eine Axt oder Säge oder ein Brecheisen zu benutzen, um an den klappernden Inhalt heranzukommen: Diese Kassette ist durch einen inwendigen Metallkasten verstärkt. Bestimmt hat Vater sie auf einem der geliebten Flohmärkte oder Garagenverkäufe gefunden und aufgemöbelt.

Lizzie, stets gewitzt und zu allen Schadtaten bereit, macht eine Liste mit Plänen, um die Kassette aufzubekommen. Plan C bedeutet, den größten Flohmarkt der Stadt abzugrasen, um Ersatzschlüssel zu finden. Doch nach Chelsea kommt man nur mit der U-Bahn, die Jeremy bislang praktisch nie benutzt hat. Und da er keine Veränderungen mag, sträubt er sich erst einmal. Es ist wieder mal Lizzie, die ihn rumkriegt, nach Chelsea zu fahren. Komisch, dass alle denken, Lizzie sei entweder seine Schwester oder sein „Schatz“. Können die Leute sich nichts anderes vorstellen?

Auf dem Flohmarkt in Chelsea beginnt ein Abenteuer, das Jeremy und Lizzie verändern soll. Doch was tut man nicht alles, um herauszufinden, worin der „Sinn des Lebens“ besteht …

_Mein Eindruck_

So werden Lizzie und Jeremy beispielsweise zur gemeinnützigen Arbeit für den sympathischen Pfandleiher Mr. Oswald verdonnert, weil sie in das (schon längst verlassene) Büro des Anwalts Harold Forland – der die Kassette verwahrte und abschickte – eingebrochen sind, um dort Schlüssel zu suchen. Mr. Oswalds Aufträge bestehen darin, alte Dinge, die in den dreißiger Jahren von Jugendlichen versetzt wurden, zurückzuerstatten. Im Zuge dieser Zustellungen geht Jeremy auf, dass Leben lang sind, Erinnerungen ebenfalls, Schicksale niemals zu enden scheinen und es darauf ankommt, wie man sich entscheidet. Alle diese Beobachtungen, so verlangt es der Polizist, trägt er in ein Notizheft ein.

|Sucher und Sammler|

Aber das ist erst der Anfang von Jeremys Odyssee durch das moderne New York City. Zum Glück artet diese jedoch in eine bedrückende Vergangenheitsbewältigung aus, wie sie Jonathan Safran Foer in seinem 9/11-Roman [„Extrem laut und unglaublich nah“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=2168 zelebrierte. Da sowohl Jeremy als auch Lizzy fanatische Sammler sind – in seiner Sammlung sind Fehlproduktionen von Süßigkeiten, in ihrer ein fast kompletter Satz von Spielkarten -, gibt es immer etwas zu finden. Und die Funde erweisen sich als sehr wichtig.

|Lebensweisheiten|

Die Figuren, welche die beiden Zwölfjährigen antreffen, sind nicht einfach nur Lieferanten von weisen Zitaten, sondern bringen jeweils ihre Lebensgeschichte mit ein. So musste sich etwa Mabel vor sechzig Jahren zwischen ihrer Freundin und einem potentiellen Mann entscheiden, denn sie heiraten konnte: Sie brauchte ein Abendkleid und versetzte dafür ihre signierte Erstausgabe von „Pu der Bär“, die heute ein Vermögen wert ist. Merke: Nicht jede Wahl ist eine leichte, aber manchmal erringt man etwas, das das ganze Leben verändert.

Ein anderer Junge versetzte ein wertvolles Fernrohr. Als Jeremy und Lizzy ihn besuchen, ist er der Direktor der Astronomieabteilung des Nationalen Wissenschaftsmuseums in New York City, eines der größten weltweit. Dr. Grady ist zwar zu Tränen gerührt, aber er hat auch etwas Wichtiges über den sogenannten „Sinn des Lebens“ zu sagen. Und da Jeremy sowieso Physikfan und Zeitmaschinensucher ist, fallen diese Weisheiten auf offene Ohren. Ich werde euch nicht langweilen, indem ich sie wiederhole, aber es läuft auf einen Satz hinaus: Wir sind hier, weil wir hier sind – denn wir haben in der Evolutionslotterie den Hauptpreis gezogen. Nun sollten wir das Beste draus machen. Aber worin besteht das?

|Humor|

Die Großmutter auf dem Lande hätte dazu einiges zu sagen, aber sie schickt die beiden Beinahe-Geschwister auf einen Jahrmarkt des Bundesstaates New Jersey, damit sie an einem Talentwettbewerb teilnehmen. Dieser erweist sich als komischer Höhepunkt des Buches, ein schönes Gegengewicht zu all den gewichtigen Worten, die zuvor gefallen sind. Das Talent von Lizzy? Hula-Hoop-Tanz. Wie sich herausstellt, ist jedoch Jeremy noch viel besser in dieser Disziplin. Er muss einspringen, weil ausgerechnet jetzt bei Lizzy ihre erste Periode einsetzt. Es wird unvergessliches Erlebnis – und er gewinnt 35 Dollar für den zweiten Platz! Es gibt noch etliche weitere solcher Szenen.

|Ente gut, alles gut?|

Mr. Oswalds Krimskramskoffer enthält drei der vier gesuchten Schlüssel, und Lizzy hat den vierten über eine Woche lang verborgen gehalten – ist es zu fassen?! Endlich gelangen wir zu jener Szene, die wir schon im Prolog geschildert bekommen: Jeremy kann endlich die Kassette aufschließen, die ihm sein Vater vor sechs Jahren vermacht hat. Es klappert etwas darin. Aber was sich als viel wichtiger erweist, sind ein langer Brief von Dad und eine kurze Notiz von einem alten Bekannten. Die ganze Schnitzeljagd nach den Schlüsseln erweist sich nun als etwas völlig anderes – und darauf wäre Jeremy nie im Leben gekommen (wir aber schon!).

_Die Übersetzung _

Der Sprachstil ist einfach, anschaulich und die Geschichte ist stets im Präsens erzählt, was alle Vorgänge unmittelbar wirken lässt. Kein reflektierender oder gar zensierender Erzähler weit und breit, so scheint es (die Autorin versteckt sich sehr clever).

Daher bot die Übersetzung wenig Schwierigkeiten, selbst bei Themen wie Astronomie und Astrophysik. Dennoch schaffte es die Übersetzerin, eine dicken Fehler zu produzieren – Glückwunsch! Er findet sich auf Seite 264: „Die Frau [eine Wahrsagerin in Atlantic City] versucht, uns nicht aufzuhalten.“ Das klingt schon reichlich merkwürdig – weil es nämlich nicht geht. Richtig wird der Satz, wenn man das Komma und ein Wörtchen versetzt: „Die Frau versucht nicht, uns aufzuhalten.“

_Unterm Strich_

Das Buch ist einigermaßen spannend, stets lustig, wartet mit zwei sonderbaren, aber sympathischen Hauptfiguren auf und liefert dem junger Leser, was er von Anfang an wissen will: Worin besteht der Sinn des Lebens? Angesichts des Umstands, dass Jeremys Vater mit erst 39 Jahren ums Leben kam und er sich seitdem selbst Vorwürfe macht, ist auch für Jeremy diese Frage von höchster Bedeutung: Wozu überhaupt leben, wenn es doch so kurz ist?

Dann doch lieber gleich den Nachtisch essen. Jeremy futtert nämlich Unmengen von Süßigkeiten das ganze Buch über und ist erst zufrieden, wenn er sich mit Zucker vollstopfen kann. Wir bekommen es zwar nie verraten, wie viel Jeremy wiegt, aber ich stelle ihn mir als zumindest moppeligen Proto-Diabetiker vor. Lizzy scheint hingegen mehr eine Bohnenstange zu sein, deshalb tritt sie als rothaariges Energiebündel auf. Was nicht verhindert, dass sie kleptomanisch agiert und wie eine Elster stiehlt. Auch ihr fehlt ein Elternteil, so dass die Diebstähle einen Ausgleich für fehlende Mutterliebe zu bieten scheinen.

Was den Plot angeht, der an ein Wunder grenzt, so hätten wir (und Jeremy) uns ja gleich denken können, dass irgendein Trick dabei ist. Wie sonst könnte es sein, dass Jeremy und Lizzy in kürzester Zeit alle vier Schlüssel finden UND noch die letzte Karte, die Lizzy in ihrem Spielkartensatz fehlt? Ich werde mich allerdings hüten zu verraten, wer dahintersteckt. Es ist auf jeden Fall ein guter Geist.

Und alle haben sich wieder lieb und wischen sich die Tränen aus den Augen. Das ist die unausweichlich sentimentale Seite, auf die man sich offenbar in jedem Jugendbuch, das von einer Amerikanerin geschrieben wird, gefasst machen muss. Nichts gegen ehrliche Gefühle, aber es gibt ja noch ein paar harte Realitäten am Rande des Geschehens. Dass Mr. Oswald eine Stretch-Limousine vorfahren lässt, um die zwei Kinder zu ihrer Strafarbeit abzuholen, kommt uns ebenfalls spanisch vor. Warum nicht gleich eine Kutsche, die von Mäusen gezogen wird? Aber auch dies gehört, wie so vieles, zum Komplott des guten Geistes.

Was der Leser mitnimmt, sind einige Einsichten, die durchaus wertvoll zu nennen sind. Da ist die Evolutionstheorie Dr. Gradys, da ist das völlig lächerliche Ouija-Brett, der sonderbare Mr. Rudolph, der von allem nur ein Exemplar hat, vor allem aber das beruhigende, ja, erhebende Gefühl, dass alles miteinander zusammenhängt. Es gibt Schlechteres, was man mitnehmen könnte. Aber vor allem bietet das Buch Heranwachsenden einige Stunden witziger Unterhaltung. Und das ohne eine einzige E-Mail oder SMS.

|Originaltitel: Jeremy Fink and the Meaning of Life, 2006
352 Seiten
Aus dem US-Englischen von Barbara Küper|
http://www.cbj-verlag.de

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