McCrery, Nigel – Fremde ohne Gesicht , Die

Dr. Samantha Ryan, gerichtsmedizinische Gutachterin und Pathologin in der englischen Universitätsstadt Cambridge, wird an den Schauplatz eines Prominentenmordes gerufen. Das Opfer: Sophie, Gattin des Unterhausabgeordneten John Clarke. Erdrosselt liegt sie nackt und gefesselt auf ihrem Bett. Die Medien belagern die Stätte und belauern die ermittelnden Beamten. Ein Skandal liegt in der Luft, und vielleicht lässt sich den prominenten Beteiligten sogar quotenförderlich am Zeug flicken!

Zumal sich ausgerechnet Detective Sergeant Stanley Sharman für diesen Fall interessiert. Er ist ein ausgezeichneter Polizist, dessen Privatleben jedoch ein Trümmerfeld ist. Außerdem unterliegt er einem Drang zur beruflichen Selbstzerstörung. Gern würde ihn Superintendent Tom Adams endgültig kaltstellen. Er lässt ihm einen Fall weit ab vom Clarke-Getümmel übertragen: Auf einer wilden Müllkippe wurde eine skelettierte Leiche gefunden. Ein Fixer, der sich hier den „goldenen Schuss“ gesetzt hat, so heißt es.

Doch schon wieder muckt Sharman auf. Einige Indizien am Fundort deuten für ihn auf Mord hin. Da es kein Geld und keine Leute gibt, versichert sich Sharman der Unterstützung Sam Ryans, die selbst ein Hühnchen mit Adams zu rupfen hat, der bis vor einiger Zeit ihr Lebensgefährte war und sie dann für eine andere Frau verließ. Seitdem herrscht Krieg zwischen dem Superintendent und der Pathologin, der zum Tagesgespräch in den Revieren und Seziersälen von Cambridge geworden ist.

Dass Sharman Recht hat und dies dank Ryans Hilfe beweisen kann, fördert die Harmonie keineswegs. Schlimmer noch: Sharman mischt sich weiterhin auch in den Clarke-Mordfall ein. Dort hat ein anonymer Tipp inzwischen zur Festnahme des Assistenten von John Clarke geführt. Seine DNS wurde an der toten Sophie festgestellt. Sharman glaubt an ein Komplott, das der Polizei einen Sündenbock präsentieren soll. Zu seinem Schrecken muss Adams feststellen, dass dies zutreffen könnte.

Unverdrossen setzen Sharman und Ryan – inzwischen unterstützt von Sharmans Freundin, einer Prostituierten, und einem unternehmungslustigen Kunststudenten – ihre „inoffiziellen“ Ermittlungen fort. Sie locken nicht nur einen völlig neuen Verdächtigen aus seiner Deckung, sondern stoßen auf Verbindungen zwischen der Toten auf der Müllkippe und der ermordeten Sophie. Dahinter stecken Leute, die viel zu verlieren haben und wenig Rücksicht kennen. So wird aus der Suche nach der Wahrheit für Sam Ryan und ihre Mitstreiter bald ein Kampf ums Überleben, den einige Teilnehmer verlieren werden …

Zwei Morde und ihre Aufklärung – so lässt sich der Plot dieses vierten Abenteuers um die Pathologin Samantha Ryan zusammenfassen. Nichts Originelles also, aber das ändert sich rasch (auch wenn sich Verfasser McCrery da eher auf dem Holzweg befindet; dazu später Näheres). Die Hindernisse, die einer raschen Aufklärung entgegenstehen, sind primär hausgemacht: Wie die Kesselflicker raufen Kriminalpolizei, Politik und Medien. Die einen treiben Ehrgeiz und Profilsucht zur möglichst raschen Aufklärung, die anderen fürchten genau das, denn es gilt noch einige Tatsachen zu vertuschen, die kein gutes Licht auf manchen Beteiligten werfen.

Ein Prominentenmord ist kein einfacher „Fall“, das macht Nigel McCrery uns deutlich. Da ergeben sich Möglichkeiten und Gefahren, Seilschaften werden aktiviert, alte Gefälligkeiten eingefordert, neue Mauscheleien in Gang gesetzt. Wehe dem, der sich in dieser Schlangengrube „nur“ als Ermittler sieht, der vor allem das Verbrechen klären will. Wie das zu geschehen hat, das wird „von oben“ diktiert!

Diese internen Querelen zu verfolgen, ist mindestens ebenso spannend zu beobachten wie die Art und Weise, wie sich Sam Ryan und Stanley Sharman unbeirrbar auf ihren Kreuzzug für Gerechtigkeit begeben. Das ist gut so, denn mit fortschreitender Handlung wird diese leicht fadenscheinig. Die Verknüpfung des Clarke-Mords mit dem Leichenfund auf der Müllkippe ist schon konstruiert genug. Dann bastelt McCrery noch eine gar schröckliche Brücke zum Klischee-Grusel Snuff-Porno, der sich hier publikumswirksam mit dem realen Balkangrauen der unmittelbaren Vergangenheit verleimen lässt.

Die vom Verfasser gelieferten „Erklärungen“ überzeugen nicht. McCrery setzt den Plot endgültig mit einer Last-Minute-Entlarvung des Mörders in den Sand, die so unvermittelt wie lächerlich in Szene gesetzt wird. Glücklicherweise sind wir da bereits auf den letzten Seiten. Die bis dahin positive, weil spannend erzählte Story kann dadurch nur noch marginal beschädigt werden.

Der britische Kriminalroman ist mit Recht bekannt für seine gelungene Mischung aus Spannung und Alltagsrealität. Keine Deduktions-Maschinen gehen hier heldenhaft & vollautomatisch ihrem Job nach. Menschen sind es, die sich gern selbst im Weg stehen, während sich Beruf und Privatleben ständig vermischen.

Samantha Ryan ist daher ein angemessen widerborstiger Charakter. (So muss man es wohl im Zeitalter glatt gebügelter Ermittlerfiguren bezeichnen.) Sie ist ein echtes Arbeitstier und gut in ihrem Job; fast zu gut, denn sie ist sich ihres Könnens durchaus bewusst und legt großen Wert darauf, fachlich ernst genommen zu werden. Freilich neigt sie zur Kleinkrämerei. Im Kriminalroman ist das ein wertvoller Charakterzug, sticht Sam Ryan doch deshalb so manches Indiz ins Auge, das die eher nach Dienstplan agierenden Kollegen übersehen.

Dank kann Dr. Ryan dafür nur selten erwarten: Genau wie im richtigen Leben schildert Autor McCrery ein Arbeitsklima, in dem Genialität unerwünscht ist bzw. sich dem hierarchischen Denken unterzuordnen hat. Missgünstig und neidvoll beobachten die Ermittler einander. Karriere machen vor allem Streber und Arschkriecher mit den „richtigen“ politischen Verbindungen und guten Kontakten zur Presse.

Die wirklich fähigen Männer und Frauen fristen dagegen allzu oft ein frustriertes Berufsleben im Verborgenen. Stanley Sharman ist so ein Quertreiber, der sich einfach nicht anpassen kann und will. In einem US-amerikanischen Kriminalroman würde man so eine Figur vermutlich nicht entdecken: ein ruppiger, ständig die Konfrontation suchender Polizist, der privat in eine bizarre Liebesgeschichte mit einer Nutte verwickelt ist, woraus er nicht einmal einen Hehl macht. Sam Ryan leidet hingegen noch immer unter den Nachwirkungen einer hässlich gescheiterten Liebesbeziehung zu Superintendent Tom Adams, mit dem sie zur engen Zusammenarbeit gezwungen und sich dabei für eine hässliche Privatfehde keineswegs zu schade ist.

Die ständigen Streitigkeiten zwischen den handelnden Personen wirken keineswegs – auch hier ist McCrery lobenswert realistisch – katalytisch auf die Ermittlungen. Stattdessen zermürben sie und binden Energie, die besser in die Suche nach dem Mörder investiert werden sollte. Aber harmonisch ideensprühend funktioniert ein kriminalistisches Team halt nur in mittelmäßigen TV-Serien.

Das kriminalistische Prozedere ist gut recherchiert und dort, wo es nicht diversen dramatischen Zuspitzungen zum Opfer fällt (der Bulle & die Nutte; also bitte, Mr. McCrery!), überzeugend in der Schilderung – kein Wunder, war der Verfasser (geboren 1953 in London) doch selbst neun Jahre als Polizeibeamter tätig. Als akademischer „Spätberufener“ studierte er später in Cambridge (aha!), arbeitete dann für die BBC und entwickelte dort die Figur der Samantha Ryan. Sie sollte ihm Glück und klingende Münze einbringen, denn sie fand 1996 nicht nur ihren Weg ins Fernsehen, sondern wurde dort vor und hinter der Kamera außergewöhnlich sorgfältig und kundig in Szene gesetzt.

„Silent Witness“, eine Serie spielfilmlanger, lose verbundener Episoden, entwickelte sich umgehend zum Straßenfeger und wird bis heute mit Amanda Burton in der Rolle ihres Lebens fortgesetzt. McCrery kam mit dem Schreiben bald nicht mehr nach, so dass andere Autoren die Drehbücher verfassten, was aber dem Erfolg keinen Abbruch tat, da es – diese Rezension hat es wohl deutlich gemacht – viele Schriftsteller gibt, die McCrery in Sachen Einfallsreichtum das Wasser reichen können.

In Deutschland wurde „Silent Witness“ ausgerechnet von RTL, dem dümmsten aller großen Privat-TV-Sender, ins Programm aufgenommen, und fiel dort lange wohl nur den hartgesottensten Krimifreunden auf. Auch den Büchern zur Serie war das Schicksal zunächst wenig hold, wurden sie doch im |vgs|-Verlag, der sich auf Reißbrett-Romane zu billigen TV-Serien spezialisiert hat, deutlich unter Wert verheizt. Nun geschieht den Bänden zumindest im Taschenbuch Gerechtigkeit – eine Chance, die der Krimifreund nutzen sollte!

Denn Nigel McCrery zeigt sich ungewöhnlich anpassungsfähig. Wie viele Kriminalrätsel kann das beschauliche Cambridge noch hergeben? Mit wem kann sich Sam Ryan noch verkrachen? McCrery mag kein begnadeter Autor sein; er ist sich jedenfalls der Tatsache bewusst, dass er sich zu wiederholen beginnt. „Die Fremde ohne Gesicht“ legt daher das Fundament für jene Veränderungen, die in der „Silent Witness“-TV-Serie, die nach den Romanen entsteht, bereits vollzogen wurde: Dr. Ryan zieht einen Strich, kündigt ihren Job und geht nach London. Ein neuer „Spielplatz“ mit neuen Möglichkeiten tut sich damit auf.

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