Val McDermid – Nacht unter Tag

Immer noch einen draufsetzen, sich stets neu erfinden, aber dennoch einem vertrauten Metier treu bleiben. Val McDermid ist in den vergangenen Jahren gerade deshalb als Bestseller-Autorin an der Spitze geblieben, weil ihre Kriminalgeschichten nie mit Fakten überfrachtet wurden, sondern stets an der Basis blieben und dort mit außergewöhnlichen Entwicklungen für ein Höchstmaß an Spannung sorgten.

Die Fortschritte, die McDermid seither macht, sind beachtlich, auch wenn die Legende „Ein Ort für die Ewigkeit“ immer noch als unerreicht gilt. Mit „Nacht unter Tag“, dem aktuellsten Werk der begehrten Britin, scheint hier aber endgültig die Wachablösung zu folgen.

_Story:_

Michelle Gibson ist hellauf verzweifelt. Ihr Sohn Luke wartet schier chancenlos auf eine Knochenmarkspende. Und da es in der näheren Verwandtschaft keinen geeeigneten Spender gibt, hat die Tochter von Jenny Prentice die Hoffnung schon fast aufgegeben, ihrem Kleinen das Leben zu erhalten.

Ein letzter Ausweg besteht darin, ihren seit mehr als 20 Jahren verschollenen Vater Mick aufzuspüren und auf geeignetes Material für eine Transplantation zu stoßen. Gibson erhält sehr schnell das Mitgefühl der knallharten Chefinspektorin Karen Prie, die erst kürzlich einen Jahrhundertcoup landete, als sie einen ihrer Vorgesetzten des dreifachen Mordes überführte.

Nun stöbert sie als Leiterin des Departments für ungelöste Fälle ind en Archiven und im Familienstammbaum der Familie Prentice, der seinerzeit einen erheblichen Knick in Kauf nehmen musste, als Bergmann Mick infolge des Streiks in den finanziellen Ruin getrieben wurde. Wie alle Schotten, die 1984 im Kampf gegen die Gewerkschaften den Kürzeren zogen und ihren Job als Bergmann aufgeben mussten.

Doch bis heute ist absolut nicht plausibel, warum Prentice damals unabgekündigt seine Familie im Stich ließ. Gerade deshalb nicht, weil die bisherige Spur plötzlich im Sande verläuft. Mick schien nämlich nicht, wie bis dato vermutet, mit einem Treck von Streikbrechern nach Nottingham gezogen zu sein …

Zur gleichen Zeit wird Karen auf den schwerreichen Bauunternehmer Brodie Grant angesetzt, dessen Familienschicksal zufällig um die gleiche Zeit einen tragischen Bruch erlitt. Seine Tochter Catriona wurde während der Lösegeldübergabe einer Entführung erschossen, sein Enkel wiederum verschleppt und nie wieder gesehen. Seit Jahr und Tag ist Grant bemüht, den Werdegang seines verschollenen Nachwuchses aufzudecken. Als die erfolgshungrige Journalistin Bel Richmond plötzlich mit einer Spur im Hause Grant hausiert, ist der alte Großunternehmer optimistischer denn je zuvor. Doch je mehr Bel und auch Karen unabhängig voneinander in Erfahrung bringen, desto verzwiclkter werden die Verstrickungen, in die der gesamte Grant-Clan involviert schien …

_Persönlicher Eindruck:_

Eine verzweifelte junge Frau, die ihren unter fragwürdigen Umständen verschwundenen Vater zu suchen beginnt, und dazu der Bedarf einer Knochenmarkspende, welche über Leben und Tod entscheidet: Pathetischer könnte ein Roman, und das völlig unabhängig von der bedienten Sparte, wohl kaum beginnen.

Doch Val McDermid nutzt diesen Aufhänger sehr effizient, um eine flüssige Einleitung in ihre neue Story zu gewährleisten, welche nur kurze Zeit später noch genügend Fahrt aufnehmen soll und den Leser mit einem ordentlichen Ruck ins kalte Wasser schmeißt.

Die Autorin lässt es dennoch bedächtig angehen und baut ihr Konstrukt mit einer Detailschärfe auf, die in diesem Genre ihresgleichen sucht. Die Figuren werden aus allen Perspektiven beleuchtet, ohne jedoch ihre individuell sehr geheimnisvolle Aura aufgeben zu müssen. Da wäre beispielsweise die verlassene Jenny Prentice, die eine Gefühlsachterbahn sondergleichen mitgemacht hat und nie so recht herausgefunden hat, ob die ziellose Flucht ihres Gatten nun Fluch oder Segen für sie sein sollte. Oder der griesgrämige Unternehmer Grant, der einerseits leidet, andererseits jedoch nicht bloß durch seine machtvolle Position mehr Dreck am Stecken zu haben scheint als so mancher Kleinkriminelle.

Und auch die übrigen Figuren haben ihre Geschichten, und jede von ihnen erzählt McDermid in einem rasanten Wechsel zwischen ausführlich dargestellten Flashbacks und lebendigen Momentaufnahmen, die schließlich immer wieder das Bindeglied zwischen der bewegten Vergangenheit und der unsicheren Gegenwart dienen.

In jenem Moment, in dem der Vermisstenfall seinen ersten Höhepunkt erreicht, wirft die Autorin dann ihr zweites Eisen ins Feuer: Die ebenfalls eigentlich schon verjährte, tragische Geschichte um die Entführung von Catriona Grant und ihrem Sohn Adam, deren Ursache ebenso ungeklärt blieb wie die Frage danach, was aus dem verschleppten Sohnemann der Ermordeten geworden ist.

Wieder ist es die fleißige Karen Prie, die ihren neuen Bürojob zwar aufgrund der verbesserten Hierarchie schätzt, aber dennoch lieber an der Basis arbeitet, die auf den Fall angesetzt wird und sich mit dem unbequemen und hinterhältigen Grant-Clan herumschlagen muss. In Tag- und Nachtschichten pendelt sie zwischen den Gedanken an den verschollenen Mick Prentice und der offenbar dringlicheren Aufgabe, die die neuen Spuren zur damaligen Entführung aufwerfen. Doch Prie ist sich nicht zu schade, misst sich mit den höherrangigen Vertretern der Gesellschaft, geht auf Konfromntationskurs, bleibt unterdessen aber souverän und menschlich, so dass ihre Rolle als Sympathieträgerin und Identifikationsfigur schnell verdient ist.

Aber auch ihr wohnt diese fast schon typisch wirkende, schottische Melancholie anheim, und obschon sie in ihrer Arbeit kompromisslos agiert, findet man auch in ihr diesen nachdenklichen Typus, der sich hinter nahezu allen Charakteren verbirgt, ohne dass auch nur eine Person es zu offensichtlich nach außen trägt – womöglich das stille Geheimrezept der genialen Charakterzeichnungen in „Nacht unter Tag“.

Das Geheimrezept der Story besteht hingegen darin, dass sich der Charakter der Handlung stets weiterentwickelt, zum Ende hin sogar entscheidend verändert, weil immer noch neue Aspekte aufgefahren werden, die alle Vermutungen und Spekulationen über den Haufen werfen. Es wirkt manchmal regelrecht unglaublich, was McDermid bei der Lösung der Fälle noch aus dem Hut zaubert, und letzten Endes ist alles so simpel und plausibel, dass man im Prinzip direkt alles hätte erahnen können.

Doch der komplexe Werdegang des Plots erlaubt erst gar nicht, sich mit den ersten Vermutungen festzulegen und darauf zu beharren. Alles ist möglich, alles ist machbar. Und trotzdem ist am Ende weniger mehr. Stark, faszinierend, und bis auf Weiteres auch unantastbar. Zumindest im Katalog dieser britischen Autorin, die sich hier selber übertrofffen hat …

_Fazit:_

Kein Brimborium, kein Bombast, vor allem aber auch kein Ballast: Val McDermid präsentiert in „Nacht unter Tag“ eine fabelhaft ausgearbeitete Kriminalgeschichte, die von ihrem galanten Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart zehrt, einen unverhofft spektakulären Spannungsaufbau für sich verbuchen kann und zuletzt auch ein ordentliches Stück schottische Geschichte einbezieht und damit auch die trübe Stimmung vieler Szenen maßgeblich prägt. Unterm Strich ist der Britin hier ein Meisterwerk gelungen, welches ihren Status weiter verbessern sollte!

Hardcover: 539 Seiten
Originaltitel: A Darker Domain
ISBN-13: 978-3-426-19844-5
http://www.droemer-knaur.de