McDermid, Val – Nacht unter Tag (Hörbuch)

_Schicht im Schacht: verzwickter Bergarbeiterkrimi_

Ungelöste Fälle sind ihre Spezialität, doch dieser führt Detective Inspector Karen Pirie an ihre Grenzen. Ein Mann wird als vermisst gemeldet – nach über 20 Jahren. Karens Ermittlungen im schottischen Glenrothes stoßen auf eine Mauer des Schweigens. Ähnlich ergeht es einer Journalistin, die einen fast vergessenen Entführungsfall recherchiert. Bald landet auch dieser alte Fall auf Karens Schreibtisch – zusammen mit einem neuen Mord … (Verlagsinfo)

_Die Autorin_

Die 1955 geborene Val McDermid wuchs in Kirkcaldy, einem schottischen Bergbaugebiet nahe St. Andrews, auf und studierte dann Englisch in Oxford. Nach Jahren als Literaturdozentin und als Journalistin bei namhaften englischen Zeitungen lebt sie heute als freie Schriftstellerin in Manchester und an der Nordseeküste. Sie gilt als eine der interessantesten neuen britischen Autorinnen im Spannungsgenre – und ist außerdem Krimikritikerin. Ihre Bücher erscheinen weltweit in 20 Sprachen. Für „Das Lied der Sirenen“ erhielt sie 1995 den |Gold Dagger Award| der britischen |Crime Writers‘ Association|. (Verlagsinfo)

Val McDermid auf |Buchwurm.info|:

[„Echo einer Winternacht“ 703 (Hörbuch)
[„Der Erfinder des Todes“ 2602 (Hörbuch)
[„Das Lied der Sirenen“ 5647 (Hörspiel)
[„Das Lied der Sirenen“ 1498 (Buch)
[„Schleichendes Gift“ 5727 (Hörbuch)

_Die Sprecherin_

Andrea Sawatzki, Jahrgang 1963, reizen extreme Figuren, ihr Spiel kann in Sekundenschnelle von zarter Verlorenheit zu handfester Vitalität überspringen (FAZ). Für ihre Darstellung der „Tatort“-Kommissarin Charlotte Sänger wurde sie unter anderem mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet. (Verlagsinfo) Sie spielte unter anderem in Oliver Hirschbiegels „Das Experiment“ neben Mirotz Bleibtreu sehr eindrucksvoll die Rolle einer Verhaltensforscherin, die vergewaltigt wird. Diese Szene wird in TV-Ausstrahlungen stets unterdrückt. Der ganze Film geht an die Nieren, aber diese Szene besonders.

Regie führte Vera Teichmann, den Ton steuerte Christian Mevs.

_Handlung_

Am 27. Juni 2007 wird Detective Inspector Karen Peary von dem Ansinnen einer jungen Bürgerin überrascht. Michelle Gibson möchte ihren Vater Mick Prentiss als vermisst melden: nach 22 Jahren und sechs Monaten. Er sei am 14. Dezember 1984 verschwunden. Karen gehört zum Team für ungelöste Fälle im schottischen Glenrothes und fühlt sich eigentlich nicht zuständig, da ja kein Verbrechen vorliegt, geschweige denn ein unaufgeklärtes. Aber es handelt sich um einen Notfall: Michelles Sohn Luke leidet an Anämie und benötigt dringend eine Knochenmarksübertragung. Am besten natürlich von einem nahen Verwandten, und der nächste wäre zweifellos ihr Vater.

Angeblich war Prentiss ein Streikbrecher, der während des einjährigen Bergarbeiterstreiks zur anderen Seite überlief und mit fünf anderen Kumpels nach Nottingham fuhr. Dieser Verrat war für seine Frau natürlich schlimm, die danach in der Minengemeinde, in der die Gewerkschaft das Sagen hatte, fast wie eine Aussätzige behandelt wurde. Vergangene Zeiten: Die Gewerkschaft gibt es nicht mehr. Und Jenny Prentiss heiratete einen anderen Mann, einen wohlhabenden Steiger, der aber inzwischen auch tot ist, wie Karen herausfindet.

Zu ihrer Überraschung bekommen ihre Kollegen in Nottingham gesagt, dass Mick Prentiss nie mit den Streikbrechern fuhr. Wo aber blieb er dann? Merkwürdig findet Karen auch die Tatsache, dass fast zur gleichen Zeit auch Micks bester Freund Andy Kerr verschwand. Da man einen Abschiedsbrief fand, nahm man an, dass er sich umbrachte. Seine Schwester ließ ihn nach angemessener Zeit für tot erklären, um das Erbe antreten zu können, und wanderte anschließend nach Neuseeland aus, wo sie heiratete.

Karen schnüffelt mit ihrem langjährigen Kollegen Phil Pahatka herum. Während Jenny Prentiss mauert, ist ihre Nachbarin umso mitteilsamer. Ein Bild von der Prentissfamilie und ihrer Gemeinde entsteht. Mick war ein talentierter Aquarellmaler und obendrein Mitglied im Verein zur Erhaltung der Höhlen an der Küste des Landkreises Fife. Als sie ihre Freundin River Wild, eine forensische Anthropologin, bittet, mal hinter dem Einsturz in der größten Höhle nachzusehen, entdecken Rivers Doktoranden im Boden ein männliches Skelett. Doch um wen handelt es sich – Prentiss oder Kerr? Denn wenn Prentiss noch lebt, dann besteht noch Hoffnung für seinen Enkel Luke.

|Der Patriarch|

Karen bringt mit ihren unorthodoxen und vorschriftswidrigen Methoden regelmäßig ihren Chef Simon Lees zur Weißglut. Zum Glück konnte sie ihm bis jetzt vorflunkern, die Höhlenuntersuchung erfolge im Rahmen des neuen Falles, den er ihr übertragen hat: Sie soll die ungeklärten Umstände beim Tod von Catriona Grant untersuchen, der Tochter des bekanntesten Großindustriellen Schottlands, Sir Broderick Maclennan-Grant. Catriona starb nach offiziellen Polizeiberichten bei der Übergabe des Lösegeldes an ihre Entführer Anfang 1985. Angeblich erschoss einer der Entführer die Millionenerbin und flüchtete sowohl mit dem Geld als auch mit ihrem Sohn Adam.

Nun hat die britische Investigativreporterin Annabelle Richmond ein Exemplar jenes Posters entdeckt, mit dem sich die Entführer, der „Anarchistische Kampfbund Schottlands“, an Catrionas Vater wandten. Es zeigt einen Puppenspieler mit Marionetten. Interessanterweise fand Richmond das Poster nicht im Königreich, sondern in der Toskana, unweit Volterra und Siena. In einer alten, verlassenen Villa hatten Hausbesetzer gelebt, die zu einer Wandertruppe von europäischen Puppenspielern gehörten. Neben Posterstapeln fand Richmond auch einen großen Blutfleck. Fand hier ebenfalls ein Mord statt?

Während sie die italienischen Carabinieri um Amtshilfe bittet, ahnt Karen nicht, dass Brodie Maclennan-Grant sie hintergeht. Er schickt die Reporterin aus, um das Verbrechen in der Toskana aufzuklären, denn er vermutet, dass sich dort Adam, sein Enkelsohn und Erbe, befinden könnte. Was weder Richmond noch Karen noch die Carabinieri erwartet haben, ist, hier die Spur von Mick Prentiss zu entdecken …

_Mein Eindruck_

Dass es Val McDermid fertigbringt, auch die entlegensten Schauplätze und die jeweiligen Ereignisse spannend miteinander zu verknüpfen, habe ich inzwischen kapiert. Immerhin habe ich schon fünf Romane dieser Krimiautorin kennengelernt, stets in akustischer Form. Ich habe es kein einziges Mal bereut, sondern wurde stets von ihrer Sicherheit verblüfft, mit der sie ihre Ermittler durch die unwahrscheinlichsten Wendungen führt. Die Handlung war praktisch nie vorhersehbar.

Bis jetzt. Dass Mick Prentiss in Italien ebenso wieder auftauchen würde wie Catrionas entführter kleiner Sohn Adam hielt ich für höchst wahrscheinlich, auch durch die dramaturgische Notwendigkeit, die beiden auseinanderliegenden Handlungsstränge um die Toskana einerseits und das östliche Schottland andererseits zusammenzuführen. Nicht voraussehen konnte ich allerdings, wie es zu dem traurigen Schicksal Catrionas kam und was aus ihrem Sohn Adam wurde. Ich möchte hier nichts Näheres verraten, aber das Finale hat durchaus das Potenzial, recht blutig zu enden. Falls nicht doch noch die unerschrockene Karen Peary korrigierend eingreift.

Das Buch lebt von seinen Kontrasten, aus denen sich entsprechende Kritik ergibt. Auf der einen Seite erkundet Karen Peary die ehemalige Bergarbeiterstadt Weems und deren Ortsteile. Das Schicksal der mit ihrem Streik gescheiterten Bergarbeiter war bitter. Ich habe den Streik 1984 im Fernsehen selbst mitverfolgt und erlebt, wie sich Gewerkschaftsführer Arthur Scargill an die Regierung Thatcher verkaufte. Es war kaum zu fassen. Die wirtschaftlichen Folgen für die Region waren verheerend: Alle Zechen wurden nach und nach geschlossen.

Dem steht nun auf der anderen Seite ein neureicher Emporkömmling namens Broderick Maclennan-Grant gegenüber, der sein Geld vor allem durch seine Frau erwarb, sich aber nun aufführt wie ein Tyrann von altem Adel, der mit der eigenen Familie ebenso willkürlich umspringt wie mit der Polizei (etwa mit dem Speichellecker Simon Lees) und den Medien. Er ließ aus politischem Kalkül Polizeiberichte fälschen, um beispielsweise die peinliche Tatsache zu verschleiern, dass er zu der verhängnisvoll endenden Geldübergabe mit einer Pistole bewaffnet erschien. Der von Karen Peary ins Gefängnis gebrachte ehemalige Detective Inspector James Lawson packt einige Hämmer aus und schildert, was nicht im Polizeibericht stand. Karen Peary kommt ein furchtbarer Verdacht, wer Catriona in Wahrheit auf dem Gewissen haben könnte. Aber sie kann nichts beweisen.

Auftritt Annabelle Richmond. Karen bezeichnet die Reporterin tatsächlich einmal als Sir Brodies „Sklavin“, und da Richmond für sein Geld und den Presse-Ruhm fast alles tut, ist sie keineswegs ein rühmlicher Vertreter ihres Standes. Sie weiß sich wie ein Chamäleon zu tarnen und zu verstellen. Doch sie ist immens tüchtig in der Informationsbeschaffung. Dumm nur, dass sie keine Absicht hat, die Polizei an ihren Ergebnissen teilhaben zu lassen. Karen Peary setzt ihr gnadenlos die Pistole auf die Brust, und Richmond muss sich zwischen zwei Herren entscheiden. Elegant wie stets zieht sie sich aus der Affäre.

Doch wo bleibt hier die Romantik? Gemach, gemach! Es gibt ein leidenschaftliches und glückliches Liebespaar in diesem Buch, und dreimal darf man raten, um wen es sich dabei handelt. Wie schon bei D. H. Lawrence, dem Bergarbeitersohn aus Nordengland, und seiner Geliebten Frieda von Richthofen handelt es sich auch hier um eine verbotene, skandalöse Liebesbeziehung, die von dem Vater der Frau niemals abgesegnet worden wäre – und interessanterweise auch nicht von der Familie des Mannes.

Ob es jemals einen „Anarchistischen Kampfbund Schottlands“ gegeben hat oder je geben könnte, darf wohl mit Fug und Recht bezweifelt werden. Dafür sind die Schotten zu lange von den Engländern geknechtet worden, um jetzt noch etwas mit der Anarchie anzufangen. Und sie sind auch meist zu protestantisch (viele sind Presbyterianer) nüchtern in ihrem Verhalten. So machten sie selbst aus ihrer Vergangenheit noch ein Geschäft, wie ich bei meinem Besuch auf dem Schloss von Edinburgh, dem Holyrood Palace, feststellen konnte.

|Schwächen|

Den nächsten Kontrast bildet dazu die total katholische, sinnenfreudige Toskana, die bei vielen Engländern (und Deutschen) so beliebt ist. Richmond ist nur eine Vertreterin jenes Schlages Engländer, der hier „the good life“ zu genießen versteht. Greve, die Chiantistadt, ist fest in englischer Hand. Auch Sting hat hier ein Domizil. Und zufällig ist Greve neben Siena und San Gimignano einer der malerischen Schauplätze des Romans.

Ob hier die Autorin nicht ein wenig zu sehr auf ihr englisches Publikum geschielt hat? Auch die rasch wechselnden Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Figuren erinnern mich peinlich an Autoren vom Schlage einer Rosamunde Pilcher, in denen ja vielfach das Schicksal unverhofft zuschlägt. Dieses abgedroschene Element tritt auch noch im Epilog auf, indem ein kurzer Dialog einen weiteren Schlenker vollzieht, nur um den armen Luke Gibson vor einem üblen Tod zu bewahren.

|Die Sprecherin|

Die Kapitelüberschriften – Orte und Daten zur Orientierung – liest ein Mann mit einer sonoren Stimme vor, der aber nirgends als Mitsprecher genannt wird. Deshalb konzentriere ich mich in meiner Würdigung auf die Sprecherin.

Andrea Sawatzki ist zwar keine große Stimmkünstlerin, aber ihr gelingt der fast fehlerlose und recht flotte Vortrag dieses vielschichtigen Textes auf eine Weise, die das Verstehen einigermaßen leicht macht. Wir haben es ja hier mit Italienern, Schotten und Briten zu tun. Durchweg konnte ich die tiefere Tonlage für die männlichen Figuren leicht heraushören, wohingegen die weiblichen Figuren fast alle ziemlich gleich klingen.

Deshalb war es unabdingbar, dass die Sprecherin jeder Figur eine eigene Sprech- und Ausdrucksweise zugewiesen hat. So ist es leichter, die pedantische Assistentin von Sir Maclennan-Grant, Susan Charleson, etwa von der resoluten und verschlagenen Karen Peary zu unterscheiden. Und Karens Vorgesetzter, der dämliche Kontrollfreak Simon Lees, ist ebenso deutlich von dem Tyrannen Sir Broderick Maclennan-Grant zu unterscheiden.

Die Sprecherin legt anders als Kolleginnen wie Franziska Pigulla keinen Wert auf Sentimentalitäten oder den Ausdruck von Kurzatmigkeit, Seufzen usw. Es ist ihr wichtiger, eine Figur durch die eigentümliche Sprechweise zu charakterisieren. In diesen Charakterisierungen erweist sich die Routiniertheit der Sprecherin, die hierbei offenbar auf ihre Schauspielausbildung zurückgreift.

Das Hörbuch weist weder Musik noch Geräusche auf, so dass ich darüber kein Wort zu verlieren brauche.

_Unterm Strich_

Diesmal mischt die versierte Autorin in ihre klassische Ermittlung unter Beargarbeitern und Industriebaronen, Puppenspielern und Reportern einen gehörigen Schuss Schicksalsdrama. Die Wechselfälle in den Verwandtschaftsverhältnissen sind doch allzu auffällig häufig, besonders im letzten Drittel. Daher habe ich mich gefragt, ob die Autorin vielleicht die Leserinnen von Autoren des Schlages von Rosamunde Pilcher ansprechen will. Auch die Schilderung der ach so romantischen Toskana ist schon verdächtig, doch sie lässt ihre Reporterin über die vielen Touristen klagen. Dass sie mit Lukes Krankheit und Lebensrettung schwer auf die Tränendrüse drückt, ist ein weiteres Symptom für diesen sentimentalen Schwenk.

Immerhin aber schafft sie es, die wilde Zeit des englischen Bergarbeiterstreiks von 1984 heraufzubeschwören, die für die Entwicklung der britischen Wirtschaft von entscheidender Bedeutung war. Danach ging es unter Margaret Thatchers „Reaganomics“ steil bergauf, die sich bis zu Tony Blairs Regierungsjahren weiterführen ließen. Diesen Aufschwung konnte kein einziger Streik der Gewerkschaften mehr stoppen und wurde auf Kosten der entmachteten Exgewerkschaftler erkauft – bis zum Crash 2008. Nichts davon ist in diesem Roman nachzulesen, denn dies kann die Autorin bei ihren Lesern als sattsam bekannt voraussetzen, vielleicht sogar in der jungen Generation. Immerhin schreibt die Autorin hier über ihre eigene Heimatregion Kirkcaldy (siehe den Abschnitt „Die Autorin“ oben).

Dies ist der erste Krimi McDermids, dessen Handlungsverlauf ich einigermaßen voraussehen konnte. Das war etwas enttäuschend, aber das Finale entschädigte mich dann doch wieder für die vielen Schwächen dieses Buches.

|Das Hörbuch|

Andrea Sawatzki trägt kompetent und gut verständlich vor. Mit der individuellen Charakterisierung der Figuren trägt sie zur Spannung und Unterhaltung bei, aber auch zum Humor so mancher Szene zwischen der streitbaren Karen Peary und ihrem dümmlichen Chef Simon Lees. Und Karen bekommt endlich einen Lover, was richtig sinnlich wirkt. Der einzige Fehler in der Aussprache betrifft den Namen Ian, aber das ist wirklich der einzige Fehler.

|Originaltitel: A Darker Domain
Aus dem Englischen übersetzt von Doris Styron
443 Minuten auf 6 Cds
ISBN-13: 978-3-86610-637-6|
http://www.val-mcdermid.de

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