Meaney, John – Tristopolis

_Gedankenakrobatik Made In Britain._

John Meaney hat in England das Licht der Welt erblickt und akademische Auszeichnungen in den Bereichen Physik und Computerwissenschaft erlangt. Seine erstes Sci-Fi-Lebenszeichen gab er 1992 von sich, als er die Kurzgeschichte „Spring Rain“ veröffentlichte. Es folgten einige weitere Kurzgeschichten sowie Kurznovelle „Sharp Tang“, ehe 1995 dann Meaneys Debütroman erschien: „To Hold Infinity“ – eine abgefahrene Geschichte über eine Welt, in der die Gehirne der herrschenden Schicht miteinander vernetzt sind, was einen Schurken auf den Plan ruft, dessen Ziel es ist, die neuronale Speicherkapazität der Herrschenden via „Vampir-Software“ für sich selbst zu „saugen“ (einen Euro in die Kalauer-Kiste, ich weiß …) Und zu missbrauchen.

2000 servierte der Brite die Trilogie „Nulapeiron Sequence“, und auch das ist ein exotisch aufregendes Geschichten-Gelage: „Nulapeiron“ spielt in einer bizarren Welt verflochtener Untergrundstädte, die von einem strikten Hierarchiesystem bestimmt werden. Es wurde bewiesen, dass das Universum deterministisch ist; so genannte Orakel können voraussagen, was wann geschieht, und für die Menschen dort gibt es keine schlimmeren Schimpfworte als „Chaos“ oder „Unsicherheit“. Der Protagonist dieser Trilogie will sich von der Sklaverei der festgelegten Zukunft befreien und beschließt deswegen, das Orakel umzubringen. Doch wie tötet man ein Orakel, das seinen Todeszeitpunkt weit in der Zukunft vorausgesagt hat?

_Ideen im Maschinengewehr-Takt._

2007 schließlich hat Meaney sich erneut ein abgefahrenes Universum überlegt und in „Tristopolis“ zum Leben erweckt: Donal Riordan ist Polizist in Tristopolis, einer Stadt, in welcher der Tod allgegenwärtig ist, und bekommt es dort mit einem seltsamen Fall zu tun. Irgendwer scheint es auf die Künstler dieser Zeit abgesehen zu haben, inmitten ihrer Vorstellungen werden die Künstler ermordet und vom „schwarzen Zirkel“ verschleppt.

Die Ermittlungen führen Donal in das Energiezentrum der Stadt, wo riesige Nekrofusionsmeiler Energie aus den Knochen der Verstorbenen ziehen. Malfax Cortindo, Leiter des Energiezentrums, zeigt dem Polizisten, was so verlockend ist, an den Knochen der Künstler: Ihr Genie vibriert noch in den Knochen und führt jeden, der sie berührt, zu Visionen von ekstatischer Schönheit.

Riordan hat keine Zeit weiterzurecherchieren, da eine Diva in die Stadt kommen soll, ein weiteres willkommenes Opfer für den „schwarzen Zirkel“. Donal ergreift alle Maßnahmen, die nötig sind, um sie zu schützen, aber von irgendwoher fällt ein Bann auf alle Besucher, dem Riordan selbst verfällt, während er die Diva zu schützen versucht.

Als er im Krankenhaus erwacht und sich einer „thaumaturgischen Reha“ unterzogen hat, um die Folgen des Banns loszuwerden, verändert sich alles für ihn: Eine Fremde bittet ihn, Mitglied einer geheimen Abteilung der Polizei zu werden. Riordan willigt ein und bekommt es fortan mit erotischen Zombies zu tun, mit lebendigen Motorrädern, telepathiebegabten Katzen, kriminalistisch versierten Geistern, gewalttätigen Zwergen und mit einer Verschwörung, die bis in oberste Schichten der Politik zu reichen scheint.

_Morbider Genre-Crossover._

In „Tristopolis“ sind die Ideen die Hauptfiguren. John Meaney hat ein Universum geschaffen, das es in dieser Form noch nicht gegeben hat: Tristopolis ist ein städtischer Moloch, der seine Energie aus den Knochen der Toten bezieht – und der Tod ist auch sonst allgegenwärtig: In den Flüchen seiner Bürger („blutiger Tod!“, „Thanatos!“ oder „Hades!“), in den Ortsbezeichnungen, in der Technik, in der Stimmung – einfach alles ist eine Metapher auf den Tod. Alles ist dunkel, grau, glänzend, trist und überaus morbide, es gibt Todeswölfe, versklavte Geister, Menschen, die nach Landessitte an Schlangen verfüttert werden, es gibt regelmäßigen Quecksilberregen und die Sonne scheint niemals.

Die Magie ist ein wichtiges Element, aber man sollte sich darunter kein kauziges Zauberstabgeschwenke vorstellen: Meaney hat seine Magie Regeln unterworfen, pseudowissenschaftlich natürlich, aber faszinierend und irgendwie „technikähnlich“. Wie soll man sich das vorstellen? Ein Beispiel mag der Erhellung dienen:

|Cortindo erklärte, dass die Mikrostrukturen lebendiger Knochen von den Wahrnehmungen und Handlungen des Körpers verändert werden, der sie umschließt. Doch nach dem Tod, wenn selbige Knochen Bestandteil des Meilers sind, heult und stöhnt der Nekroflux, dessen Wellen von der inneren Struktur der Knochen gebeugt werden, und erweckt die Erinnerungen der Toten wieder zum Leben.

„Aber nicht in einem zusammenhängenden Ganzen“, sagte Malfax Cortindo. „Es sind nur buntgemischte Erinnerungsfragmente von zweitausend Individuen. Dieses Konglomerat denkt und empfindet in Wahrheit gar nichts.“

Donal blieb stehen und schaute zu den langen, geraden Reihen der Reaktoren zurück.

„Nicht einmal Schmerz?“

„Nein.“ Malfax Cortindo sah ihn lange an, dann tippte er mit seinem Stock auf den Boden. „Das erzähle ich zumindest jedem, der mich offiziell fragt. Verstehen Sie, Lieutnant?“|

Das ist gleichzeitig auch ein wunderbares Beispiel für die kalte und beklemmende Welt von „Tristopolis“, die einen nicht mehr loslässt. Dazu trägt auch das tolle Cover bei, das tatsächlich einen Bezug zum Inhalt des Textes hat! Franz Vohwinkel hat hier hervorragende Arbeit geleistet und die Stimmung von Tristopolis eingefangen – das englische Originalcover kommt da nicht ansatzweise heran. Vohwinkels Cover erzeugt eine herrlich düstere Resonanz zur Story und unterstreicht die intensive Stimmung. Wenn ich ein Synästhet wäre, würde ich die Geschichte wahrscheinlich in der Farbe von schwarzem Chrom wahrnehmen: dunkel, kalt, makellos, mit einem bösen Glanz von Purpur.

Es sei noch erwähnt, dass Meaney ein paar überaus rasante und knackige Kampfszenen geschrieben hat, wobei ihm sein schwarzer Gürtel im Shotokan-Karate sicherlich sehr weitergeholfen hat.

_Eine große Kulisse überleuchtet ihre Akteure._

Leider erreicht das Loblied nicht jeden Winkel von „Tristopolis“. Die Story wird nämlich ziemlich zurückgedrängt von dieser grandiosen Kulisse, und Donal Riordan, ein recht gewöhnlicher Held, muss einen eher biederen Kriminalfall lösen, der mit keinen allzu großen Überraschungen aufwarten kann. Auch Zwischenmenschliches ist nicht unbedingt Meaneys Stärke, ebenso wenig wie die Erschaffung von Figuren mit Tiefe: Selten treten echte Konflikte auf, und wenn doch, lösen diese sich ebenso schnell in Wohlgefallen auf, wie sie aufgetaucht sind.

Außerdem schießt Meaney stellenweise über das Ziel hinaus, wenn er versucht, eine düstere Stimmung zu vermitteln: Immer wieder hat jemand Schmerzen, die über das „Zigfache dessen hinausgehen, was ein normaler Mensch je ertragen könnte“, und als ob das nicht schon genug wäre, kann es schon einmal vorkommen, dass diese Höllenqualen subjektiv erlebte Jahrhunderte andauern.

Das Gleiche muss leider auch über die Fantasy-Elemente gesagt werden. Oft hat Meaney die Gratwanderung gemeistert, lässt Geister Fahrstühle bedienen oder an Flughäfen die Passagiere durchsuchen, aber wer kann sich ein Schmunzeln verkneifen, wenn Autos plötzlich Fledermausflügel ausfahren oder wenn „Überwachungselfen“ im Krankenhaus über ihren Patienten schweben und ein EKG mimen, indem sie „Zwitscher-, Pieps- und Seufzlaute“ von sich geben …

Aber genug des Gemeckers. Auch wenn die Story fast schon Statistencharakter hat, das Universum von „Tristopolis“ ist einen Besuch allemal wert. Besonders der mutige Genre-Crossover hat Unterstützung und Bewunderung verdient; Meaney hat hier Pionierarbeit geleistet und diese mit einer Unmenge solider Ideen zementiert. Außerdem schickt uns Meaney schon 2008 zum nächsten Mal nach Tristopolis, um uns von „Dark Blood“ zu berichten, und wer weiß: Vielleicht hat sich Meaney zum tollen Universum auch noch eine tolle Geschichte ausgedacht! „Tristopolis“ jedenfalls dürfte sich in jedem gut sortierten Phantasten-Regal recht wohlfühlen.

http://www.heyne.de
http://www.johnmeaney.com