Wolfgang Menge /Jürgen Roland – Stahlnetz 2: Das Haus an der Stör (Hörspiel)

Das Geheimnis des Toten im Seesack

Zwei Kinder finden 1946, ein Jahr nach Kriegsende, einen in einen Seesack eingenähten Toten. Handelt es sich bei ihm jenen Helmut Noack, der angeblich mit 15.000 Mark in der Tasche in die sowjetische Besatzungszone fahren wollte, um einen LKW für eine Spedition zu kaufen? Er kehrte nie wieder. Zehn Jahre später setzt sich Kommissar Roggenburg mit größer Zähigkeit wie ein Terrier auf die Spur des Verbrechens. Sie führt von Schleswig-Holstein nach Oberbayern …

Die TV-Serie „Stahlnetz“, die der NDR produzierte, ist vom Design her eine Übernahme der US-Krimiserie „Dragnet“, von der auch die markante Titelmelodie stammt. Doch die Inhalte sind quasi urdeutsch und entstammen deutschen Kriminalakten. Besonderes Kennzeichen von „Dragnet“: nur die Fakten zählen! – Die Tonspur wurde fürs Hörspiel bearbeitet und digitalisiert.

Die Autoren

Jürgen Roland (Regie), bekannt u. a. für seine TV-Serie „Großstadtrevier“ und mehrere Kriminalspielfilme, die ihn zu einem Pionier und Mentor der deutschen TV-Krimilandschaft gemacht haben.

Wolfgang Menge (Buch) verarbeitete echte Unterlagen der Kripo und schrieb sie Schauspielern auf den Leib. Er ist besonders bekannt für die Comedy-Serie „Ein Herz und eine Seele“ (mit Heinz Schubert).

Zusammen legten die beiden Pioniere den Grundstein für die Endlosserie „Tatort“ der Fernsehanstalten der ARD. In jeder Folge ermittelt ein neues Kommissarengespann in einer anderen Region Deutschlands, insbesondere in Großstädten.

Die Mitwirkenden

Kommissar Roggenburg: Rudolf Platte
Frl. Johannsen (Leiterin der weibl. Kripo): Andrea Grosske
Frau Noack: Mady Rahl
Bruder von Noack: Richard Lauffen
Eduard Vollmer: Fritz Beckhaus
Straßenverkäufer: Ernst Hilbich
Emil Mankowitsch: Harry Wüstenhagen
Frl. Fette: Helga Feddersen
Frau Iversen: Hela Gruel
Prof. Bildt: Henry Vahl
Selma Kartuschke: Gerda Maria Jürgens
Kommissar Behlau: Friedrich Schütter
Und weitere Rollen.

Die Produktionsleitung lag in den Händen von Günther Handke, die Aufnahmeleitung hatte Gerhard Riedel inne, die Hintergrundmusik stammt von Erwin Halletz.

Handlung

Zwei Angehörige der Kriminalpolizei Itzehoe fahren im Jahr 1958 von Schleswig-Holstein in den Süden. Doch was ihr Zielort ist, wird erst am Schluss klar und darf nicht verraten werden, denn das wäre ein Hinweis auf den Täter, dem sie auf der Spur sind. Neben Kommissar Roggenburg (Platte) sitzt die Kollegin Fräulein Johannsen im Zug, und er hat das Vergnügen, dieser aufmerksamen und kompetenten Zuhörerin (und uns) von den Fortschritten in seiner seit Tagen andauernden Ermittlung im Mordfall Noack erzählen zu dürfen. Da die Fahrt fast zwei Tage dauert, hat er genügend Gelegenheit, ihr alles haarklein zu erklären.

Anno 1946, als der Mord begangen wurde, befand sich Roggenburg noch in Kriegsgefangenschaft. Im Jahr danach fanden die zwei Kinder Manfred und Hildegard in einem Teich bei Melldorf in Dithmarschen einen mit Draht verschnürten Seesack. In dem befand sich die Leiche eines Mannes, dem man den Schädel mit einem Beil eingeschlagen hatte. Seltsamerweise vermisste ihn niemand. So war das eben in der Nachkriegszeit: Es ging alles drunter und drüber, und die Männer waren noch nicht wieder zu Hause; es gab nur Rationen auf Lebensmittelmarken zu essen; Flüchtlingsströme schleppten sich von Land zu Land. Man recycelte, und der Schwarzmarkt blühte.

1952 kommt Roggenburg zur Kripo in Itzehoe und tut seinen Dienst, aber erst vor vier Tagen bekommt er den entscheidenden Hinweis, der den Fall ins Rollen bringt. Der Kollege Diemeritz hat in den Akten eines frisch verhafteten Einbrechers namens Eduard Vollmer eine Notiz gefunden: „Verdächtig des Mordes im Jahr 1947“. Da inzwischen einiges von den über zehn Jahre alten Asservaten des Mordfalls verschwunden sind, ist Roggenburg auf Aussagen von Zeugen und Gutachtern angewiesen. Zunächst: Wer war der Tote?

In der Tat belastet Vollmers Ex-Freundin Selma ihn schwer. Im August 1946 habe sie ihn beim Schlachten mit einem Beil gesehen und eines Tages sogar mit einem Fremden, unter dem sich eine Blutlache befand. Die sollte sie, Selma, wegwischen. Roggenburg prüft die Angaben und ertappt eine freche Lügnerin, als er Vollmer im Knast besucht. Der und seine Kumpel bringen die Sprache auf Helmut Noack. Der ging angeblich 1946 in die „Zone“, d. h. in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) fuhr, um dort einen LKW für ein Fuhrgeschäft zu kaufen. Kehrte aber nie zurück. Hatte einen Bruder, der inzwischen im Modegeschäft ist und gut verdient.

Immer wieder fragt Roggenburg nach dem Goldzahn, den Noack hatte, doch er erhält die widersprüchlichsten Angaben. Manche haben den noch nie gesehen, andere erinnern sich genau daran, doch Frau Noack, die in einem schönen Haus an dem Fluss gelebt hat, erinnert sich nicht daran, ob ihr Ex-Gatte einen Goldzahn hatte oder nicht. Das findet der Kommissar bemerkenswert und gräbt ein bisschen tiefer in der Vergangenheit der Noacks …

Mein Eindruck

Die Erzählstruktur dieser sehr langen Episode von immerhin rund 75 Minuten (ohne Abspann) ist viel ausgefeilter als die von „Das 12. Messer“ aus dem Jahr 1958. Fünf Jahre Drehbucharbeit liegen dazwischen, und das merkt man der Episode an. Von Anfang an fragt sich der Zuhörer, wohin wohl die Zugreise unsere beiden taffen Kriminaler führen soll. So verfolgt man mehr oder weniger gespannt die Stationen, an denen sie halten oder umsteigen. (Leider ist der Name des letzten Bahnhofs kaum zu verstehen, und das könnte Absicht sein.)

Der zweite Erzählstrang wird uns nur in Rückblenden zugänglich gemacht, und das erfordert eine genaue Einsortierung der jeweiligen Szene in die Chronologie von Roggenburgs Ermittlung. Diese findet im Jahr 1958 statt, also elf Jahre nach Entdeckung von Noacks Leiche. Dies wird aber nie genau gesagt, sondern muss durch Annäherung und Eliminierungstechnik erschlossen werden. Die Handlung spielt keineswegs im Jahr der Ausstrahlung der Episode, 1963! Der Melldorfer Apother Richter (Ernst Hilbich) hat seinen Laden aber „vor einem Jahr“ verkauft: 1957, sagt er.

Nachdem dies geklärt ist, gibt es eine weitere Zeitebene, nämlich jene, auf die sich die jeweiligen Zeugenaussagen beziehen. Dies kann 1946 sein, als Noack zurückkehrte und bald darauf wieder verschwand, aber auch spätere Zeitpunkte, als gewisse Hauptfiguren in diesem Mordfall ebenfalls das Weite suchten. Die Zeitlinie, auf der sich Roggenburg selbst zeigt – von 1946 über 1952 bis 1958, der Gegenwart – kann man zum Glück guten Gewissens ignorieren, denn da er nicht vor 1958 mit dem Fall zu tun hatte, veränderte er ihn auch nicht. Die raffinierte Zeitstruktur und der Off-Kommentar durch „Roggenburg“ selbst macht einen Erzähler vollkommen überflüssig – ein Meisterstück der Dramaturgie.

Auch im Finale heißt es wieder „Aufpassen!“. Jubel, Trubel, Heiterkeit – es ist Fasching in jenem Ort, wo der oder die Täter dingfest gemacht werden sollen. Da fragte ich mich, ob der kühle, ruhige Nordländer Roggenburg wirklich der Typ ist, um in diesem Chaos einen Täter zu fassen. Es gelingt ihm wider Erwarten, aber leider auch nur halb, denn den anderen Täter bekommt er nicht zu fassen.

„Das Haus an der Stör“ ist eine Geschichte über die Verdrängung. Nach den Dutzend Jahren des braunen Wahns und Terrors schloss sich eine Zeit des Hungers und der Entbehrung an – und eine der Abrechnungen. Noack war nur einer der vielen willigen Soldaten (er diente auf der „Tirpitz“), die dem neuen Geist in der deutschen Gesellschaft nicht geheuer waren und die man los sein wollte – um das, was man sich mühselig aufgebaut hatte, nicht zu gefährden. Eine Vergangenheit, die Ansprüche stellt, ist nicht gefragt.

Und dann greift der Arm des Gesetzes bis weit in diese begrabene Vergangenheit und verfolgt altes Unrecht. Statt eines Mörders könnte es auch ein Nazi-Verbrecher wie Adolf Eichmann sein. Dass beileibe nicht alle Nazis vom Entnazifizierungsprogramm der Alliierten er- und gefasst wurden, zeigten später die Fälle Filbinger (war Marinerichter) und Kurt-Georg Kiesinger (war später Kanzler der BRD). Was Roggenburg tut, ist mithin keineswegs Routine, sondern steht für einen nötigen Reinigungsprozess einer neuen, einer demokratisch konstituierten Gesellschaft. Die Episode demonstriert (oder fordert), dass keiner ungestraft davonkommen soll. Löblich, aber etwas blauäugig.

Die Inszenierung

Wie es sich für die Hörspielfassung eines TV-Films gehört, sind jede Menge realistische Geräusche zu hören. Da pfeifen die Züge, und auf jedem Bahnhof sind die Ansagen zu hören. Das akustische Ambiente ändert sich sogar hörbar, wenn sich die beiden Kriminaler vom Zugabteil hinaus auf den Gang begeben. Den akustischen Höhepunkt bildet natürlich das bunte Faschingstrieben an ihrem Bestimmungsort, wo sogar gesungen wird („Wer soll das bezahlen, wer hat so viel Geld …“ usw). man kann sich förmlich die Petticoats und Strohhüte vorstellen, die man damals im Sommer trug. (Wer sich das Titelbild der CD genau ansieht, kann Platte mit Strohhut erkennen, der in einem Party-bereiten Zimmer steht. Rechts im Bild baumelt eine Luftschlange von der Decke.)

Rudolf Platte spielte eine Menge Rollen, aber nur wenige zeigten ihn so integer und ernsthaft wie die Episode „Das Haus an der Stör“. Auch Henry Vahl vom Ohnsorg-Theater durfte endlich mal eine ernste Rolle spielen. Sein Gerichtsmediziner hat einiges Wesentliche zur Beweislage beizutragen. Helga Feddersen klingt als Fräulein Fette überhaupt nicht wie die spätere Ulknudel, sondern wie eine ganz normale, hart arbeitende junge Frau. Mady Rahl, der frühere UFA-Star, tritt als Frau Noack recht eindrucksvoll auf und lässt tiefe Wasser erahnen.

Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir der wundervolle Ernst Hilbich. Er ist ja von Natur aus ein Schnellsprecher und kommt binnen Sekunden vom Hundertsten ins Tausendste. So auch in dem kurzen Gespräch, das seine Figur des alerten Straßenverkäufers mit Roggenburg führt. Hier erfährt der Kommissar etwas sehr Wichtiges, das er uns aber erst viel später in der Lösung des Falls und der Überführung des Täters präsentiert. Wer also bereits frühzeitig Bescheid wissen, sollte die Ohren spitzen.

Die Musik im Hintergrund der Erzählung stammt von Erwin Halletz. Sie hat mir überhaupt nicht gefallen, denn sie drängt sich mit sehr schrägen, um nicht zu sagen: schrillen Tönen in den Vordergrund. Man hätte statt der Jazz- lieber eine klassische Instrumentierung einsetzen sollen.

Im Abspann macht der nachträglich hinzugefügte Sprecher aus der Gegenwart beim Verlesen der Darstellernamen einige Fehler, aber sie sind nur für den sehr aufmerksamen Zuhörer zu bemerken. Da wird aus Mady Rahl seltsamerweise eine „Madi Dahl“ und aus Kurt Jaggberg wird ein „Karl Jaggbert“. Man kann es wohl verschmerzen, aber schön ist es nicht.

Unterm Strich

„Das Haus an der Stör“ ist in dramaturgischer Aufbereitung, Schauspielerleistung und kritischer Aussage zur bundesrepublikanischen Gesellschaft um Längen besser als die erste Episode „Das 12. Messer“, die noch recht bieder daherkam. „Das Haus“ stellt an den Hörer hohe Ansprüche hinsichtlich seiner Aufmerksamkeit, denn er muss mehrere Zeitlinien im Auge behalten und drei Handlungssträngen folgen: Roggenburgs Erzählung, seine viertägige Ermittlung und den Verlauf des ursprünglichen Verbrechens, der rekonstruiert wird. Die dafür notwendige Mühe lohnt sich jedoch vollauf.

Die Serie lieferte den deutschen TV-Zuschauern damit sowohl Unterhaltung als auch Dokumentation. Diese Kombination stieß ab 1958 auf ein enormes Echo und verschaffte dem Rezept eine lange Lebensdauer – die vorliegende Episode 2 dieser Hörspielserie stammt aus dem Jahr 1963.

Die Tonqualität kann sich durchaus hören lassen. Stellenweise ist zwar bei großer Lautstärke noch das berüchtigte Knistern zu hören und die ganze Chose erklingt in Mono- statt Stereoton, aber im Großen und Ganzen erweist sich die digitale Überarbeitung als wahrer Segen für die Rettung solcher Schätzchen – ein Beleg dafür, dass schon damals das deutsche Fernsehen zu guten Leistungen in der Lage und nicht mehr unbedingt auf den Import ausländischer Krimikost wie „Dragnet“ oder „Kommissar Maigret“ angewiesen war.

Ganz am Schluss erklingt die Titelmelodie in voller Länge. PAMM-PA-RAMM-PAM! Mir schlackerten die Ohren, als das Bass-Saxophon durch die Lautsprecher dröhnte. Wer kann, sollte sich eine gehörige Dosis Krimi-Nostalgie verabreichen und die eine oder andere Episode der Stahlnetz-Serie reinziehen.

Fazit: Diese Episode verdient eine uneingeschränkte Empfehlung.

78 Minuten auf 1 CD.
ISBN-13: 9783898134590

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Der Autor vergibt: (5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Folge 1: „Das 12. Messer

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