Menge, Wolfgang / Roland, Jürgen – Stahlnetz 4: Saison

_Feinfühlig: Expedition in ein Mordhaus_

Wintersaison in einem Harzer Kurort. Die 25-jährige Helga Zeller wird erdrosselt in ihrer Wohnung aufgefunden. Im Haus sagt man der Toten Bösartigkeit und Falschheit nach. Doch was verbirgt sich tatsächlich hinter dem Gerede?

Die TV-Serie „Stahlnetz“, die der NDR produzierte, ist vom Design her eine Übernahme der US-Krimiserie „Dragnet“, von der auch die markante Titelmelodie stammt. Doch die Inhalte sind quasi urdeutsch und entstammen deutschen Kriminalakten. Besonderes Kennzeichen von „Dragnet“: nur die Fakten zählen! – Die Tonspur wurde fürs Hörspiel bearbeitet und digitalisiert.

_Die Autoren_

Jürgen Roland (Regie), bekannt u. a. für seine TV-Serie „Großstadtrevier“ und mehrere Kriminalspielfilme, die ihn zu einem Pionier und Mentor der deutschen TV-Krimilandschaft gemacht haben.

Wolfgang Menge (Buch) verarbeitete echte Unterlagen der Kripo und schrieb sie Schauspielern auf den Leib. Er ist besonders bekannt für die Comedy-Serie „Ein Herz und eine Seele“ (mit Heinz Schubert).

Zusammen legten die beiden Pioniere den Grundstein für die Endlosserie „Tatort“ der Fernsehanstalten der ARD. In jeder Folge ermittelt ein neues Kommissarengespann in einer anderen Region Deutschlands, insbesondere in Großstädten.

_Die Mitwirkenden_

Wer welche Rolle spielt, muss sich jeder Hörer zusammenreimen, denn die CD macht dazu keine Angaben:

Grit Boettcher
Hans Hessling
Richard Lauffen
Dieter Eppler
Klaus Kindler
Tilly Lauenstein
Werner Buttler
Thomas Braut
Marina Ried
Vasa Hochmann
Otto Lüthje

Über Produktionsleitung und Aufnahmeleitung macht die CD keinerlei Angaben, was ich schade finde. Die Titelmusik stammt wie stets von Walter Schumann und Ray Anthony – sie ist der amerikanischen TV-Krimiserie „Dragnet“ entnommen.

_Handlung_

In dem kleinen Harzer Kurort ist gerade Misswahl, als zwei der Besucher eine merkwürdige Meldung erhalten: Aus dem Haus der Familie Schinzel, wo einige der Skiortbesucher wohnen, stinkt es gewaltig. Ob man wohl die Polizei benachrichtigen soll? Na, klar doch.

Vor Ort bricht ein Helfer für den Dorfpolizisten Henry Wohlers die Tür zum Zimmer von Helga Zeller auf. Leichengestank schägt den Eintretenden entgegen, eine Scheibe wird eingeschlagen, um frische Luft einzulassen. Sieht so aus, als habe man Zeller den Schädel eingeschlagen, aber Wohlers‘ erster Eindruck ist ein Irrtum. Die Frau wurde erdrosselt. Auf ihrem Nachttisch findet sich ein Abschiedsbrief, aber nicht von ihr …

Nach Wohlers‘ Meldung rücken Kriminalkommissar Hauck und ein Staatsanwalt aus Goslar und Braunschweig an, um die Hintergründe des Mordes aufzuklären. Die Zeller muss schon fast sechs Wochen tot sein, denn sie wollte am 3.1. zurück nach Flensburg reisen. Tags zuvor wurde sie zum letzten Mal lebend gesehen. Schon bald schält sich aufgrund der Zeugenaussagen der Hausbewohner ein wenig schmeichelhaftes Bild von ihr heraus.

Die 25-Jährige hatte offenbar viele Männerbekanntschaften, die sie seit Mitte des vorhergehenden Jahres pflegte. Darunter war nicht nur ein Schrotthändler namens Dieberitz, der im Dezember heiratete, sondern auch Herbert Schinzel, der Sohn der Hauswirtin Clara Schinzel. Er hatte mit Zeller ein Verhältnis, bevor er vor drei Monaten seine jetzige Frau Gisela heiratete. Er wohnte neben Zellers Zimmer, und sofort fällt der Verdacht auf ihn.

Belastend wirkt sich beispielsweise ein mysteriöser Zettel aus, der neben einem 50-Mark-Schein lag, als er am Morgen des 3. Januar vor Frau Schinzels Tür gefunden wurde. Die 50 Mark sollten wohl die Miete der Zeller für den Februar sein, nimmt Hauck an. Der Zettel war jedoch in Sütterlinschrift geschrieben, wie man sie im Dritten Reich lernte und wie sie im Haus nur noch Herbert Schinzel beherrscht … Der Zettel aber sei verschwunden, behauptet seine Mutter. Genau wie der Koffer der Zeller.

Und dann ist da noch die Sache mit dem Schlüssel. Der Küchenschlüssel passt eigenartigerweise auch zum Zimmer der Zeller. Für den Kommissar ist die Sache klar wie Kloßbrühe, und er lässt Herbert Schinzel festnehmen, aber noch nicht in Haft nehmen. Denn erstens gibt ihm dessen Frau ein Alibi und zweitens müssen noch die diversen Männerbekanntschaften der Zeller überprüft werden. Und da ist immer noch die Frage offen, an die zunächst keiner der Beamten zu denken scheint: Wusste Gisela vom Verhältnis ihres Mannes mit der Zeller? Falls ja, dann …

_Mein Eindruck_

Man sieht also, dass es die Hauptaufgabe der Ermittler in diesem authentischen Fall ist, das soziale Umfeld des Mordopfers auszuloten. Bei diesem kniffligen Vorgehen sind die Beamten auf Fingerspitzengefühl angewiesen, und so wendet sich Wohlers nicht nur einmal an seine Frau, die etwas mehr Einfühlungsvermögen besitzt als er, zumal in Frauendingen. Ihre Meinung trägt zur Aufklärung des Falls bei.

Doch Empathie in allen Ehren – die Beamten müssen auch Durchsetzungskraft und Objektivität aufbringen. Sollen sie vielleicht nur einen Mann als Täter in Frage kommen lassen? Das wäre wohl ein Fall von Parteilichkeit, wenn nicht sogar von Sexismus. Warum sollte nicht auch eine Frau in der Lage sein, eine andere Frau zu erdrosseln, zumal im Affekt? Dem Krimiexperten kommt gleich zu Beginn der Vernehmungen die kühl-nüchterne Unbeteiligtheit von Gisela Schinzel bemerkenswert vor. Sie gibt sogar unumwunden zu, dass sie die Zeller nicht mochte – beim häuslichen Hintergrund nur zu verständlich. Aber kann man sie eines Mordes für fähig halten? Das wird sich noch herausstellen.

Wieder stellt dieser Fall die Grundprinzipien der ordnungsgemäßen Polizeiarbeit vor. Und er tut dies mit solcher Akribie, dass der Drehbuchautor den Polizisten Suhrbier einführt, der die Regeln sogar aus dem Lehrbuch herunterbetet. Dies ist das einzige Aufblitzen von ironischem Humor im ganzen Handlungsverlauf.

Denn das, was Helga Zeller unter Humor verstand und in einer Rückblende an den Tag legt, ist alles andere als lustig: Sie freut sich, dass ihre Nachbarin, Frau Pfeifer, offenbar zu betrunken ist, um unbeschadet die Treppe hinterzugehen. Nicht genug damit, tratscht sie dies auch noch im ganzen Haus herum – wie soll man da nicht wütend werden? Die Diffamierungen, auch von anderen, hören überhaupt nicht mehr auf. Mörderkandidaten gibt es also einige. Merke: Ein Mord kann auch im bestgeführten Haus(halt) vorkommen. Niemand ist sicher.

|Der Sprecher/Die Inszenierung|

Die Geräusche sind wie aus dem richtigen Leben und so, wie man sie aus einem Fernsehfilm kennt. Allerdings erscheinen sie sehr zurückgenommen – kein Vergleich mit dem aufdringlichen und überlagernden Bahnhofsambiente aus „Das Haus an der Stör“. Hier geht alles recht dezent zu, und den lautesten Hintergrund liefert sicherlich die Misswahl und die abschließende Aufführung der „Heiligen Johanna“ (siehe Titelbild). Irgendwo in der Mitte gehen zwei Herren durch den Schnee des Harzes, und ein gemischtes Paar tritt eine Erzhalde hinunter – denn es gibt einen Anachronismus am Ort: eine Erzgrube. Hier lässt so manches zutage fördern …

Da das Booklet keine Rollenzuweisungen ausweist, kann eine Einschätzung der Schauspieler- und Sprecherleistungen nur durch Vermutungen, gestützt auf berechtigte Annahmen, ausgeführt werden. Ich nehme an, dass Grit Boettcher die Rolle der Gisela Schinzel spricht. Sie tut dies auf eine eindringliche und recht ernst zu nehmende Weise, die ihrem späteren Image als Komödiantin ziemlich widerspricht. Am Schluss hat auch Polizeimeister Henry Wohlers, vermutlich gespielt von Hans Hessling, Mitgefühl für sie. Ich glaube nicht, dass ihre Rolle sich mit dem Thema des Stückes der „Heiligen Johanna“ deckt (dessen Auswahl durch den Autor sicherlich kein Zufall ist). Für Gisela wäre wohl schon eher die wütende Amazone „Penthesilea“ oder eine andere Figur von Kleist infrage gekommen gewesen. Aber sie hätte schlecht ins Kurprogramm gepasst.

In der Mitte tritt der obligatorische sorgenerfüllte Kurdirektor auf. Natürlich ist der Tod schlecht für den Tourismus, aber muss man dann gleich so ein Aufhebens darum machen? Das Argument kommt uns bekommt vor und erinnert an selige Zeiten, als Spielbergs Schocker „Der weiße Hai“ die Leute in Scharen vom Strand ins Kino lockte.

_Unterm Strich_

Diese Folge von „Stahlnetz“ ist solide Handwerksarbeit. Der Hörer kann dem Verlauf der Ermittlung ohne weiteres folgen, denn es wird einerseits die Einheit von Ort und Zeit eingehalten (was bei Rückblendentechnik selten der Fall ist), andererseits werden alle Anwesenden stets mit Name identifiziert, so dass man auch ohne Bild stets auf dem Laufenden gehalten wird, wer anwesend ist. Natürlich muss man bei den häufigen Szenenwechseln aufpassen, aber dafür sind die Szenen relativ lang und steuern stets auf eine nützliche, wertvolle Information zu.

Auf diese Weise baut sich ein Gebäude aus Hinweisen auf, sodass der gewiefte Hörer schon nach kurzer Zeit mit dem Finger auf den Täter oder die Täterin weisen könnte. Dieses Wissen entwertet aber nicht den Schluss, vielmehr trägt das Indiziengebäude dazu bei, ein soziales und emotionales Umfeld hervortreten zu lassen, das teilweise zur Erklärung der Mordtat beitragen kann. Dies ist der eigentliche Lerneffekt, den diese Episode, ganz im Sinne der beiden Stahlnetz-Designer Menge und Roland, vermitteln will. Und dabei beachten sie stets auch die Regeln der Spannungserzeugung.

Die Serie lieferte den deutschen TV-Zuschauern damit sowohl Unterhaltung als auch Dokumentation. Diese Kombination stieß ab 1958 auf ein enormes Echo und verschaffte dem Rezept eine lange Lebensdauer.

Die Tonqualität kann sich durchaus hören lassen. Stellenweise ist zwar bei großer Lautstärke noch das berüchtigte Knistern zu hören und die ganze Chose erklingt in Mono- statt Stereoton, aber im Großen und Ganzen erweist sich die digitale Überarbeitung als wahrer Segen für die Rettung solcher Schätzchen – ein Beleg dafür, dass schon damals das deutsche Fernsehen zu guten Leistungen in der Lage und nicht mehr unbedingt auf den Import ausländischer Krimikost wie „Dragnet“ oder „Kommissar Maigret“ angewiesen war.

Ganz am Schluss erklingt die Titelmelodie in voller Länge. PAMM-PA-RAMM-PAM! Mir schlackerten die Ohren, als das Bass-Saxophon durch die Lautsprecher dröhnte. Wer kann, sollte sich eine gehörige Dosis Krimi-Nostalgie verabreichen und die eine oder andere Episode der Stahlnetz-Serie reinziehen.

|74 Minuten auf 1 CD|
http://www.audioverlag.de
Folge 1: [„Das 12. Messer“ 3394
Folge 2: [„Das Haus an der Stör“ 3430
Folge 3: [„Verbrannte Spuren“ 3469