Meyer, Kai – Buch von Eden, Das

Aelvin ist ein junger Novize und für seinen Stand ziemlich unternehmungslustig. Das sollte allerdings nicht heißen, dass er sich eine Reise in den Orient gewünscht hätte. Doch genau in eine solche Reise schlittert er hinein, als eines Tages ein Mann und ein Mädchen in seinem Kloster auftauchen. Der Mann ist der berühmte Albertus Magnus, das Mädchen eine junge Novizin namens Favola. Sie haben eine geheimnisvolle Pflanze bei sich, die Lumina. Sie soll aus dem Garten Eden stammen und die letzte ihrer Art sein. Albertus ist davon überzeugt: Sollte es gelingen, die Lumina an ihrem ursprünglichen Heimatort wieder einzupflanzen, würde das Paradies wieder neu erstehen und die Welt zu einem besseren Ort machen. Leider ist es so, dass der machtgierige Erzbischof von Köln das neu erstandene Paradies lieber in seinem Küchengarten hätte! Und schon wird aus der Reise in den Orient eine halsbrecherischen Flucht …

Sinaida ist eine Prinzessin. Ihre Schwester Doquz ist die Frau Hulagu Khans, des Bruders des Mongolenherrschers. Mit einem Heer von dreihunderttausend Mann belagern die Mongolen Alamut, die Burg der Nizari. Gegen diese Übermacht haben die Nizari, trotz ihrer ungewöhnlichen Fähigkeiten im Töten, keine Chance. Das wissen die Mongolen und auch die Nizari. Um sein Volk zu retten, bietet der Alte vom Berge dem Khan der Mongolen an, sich zu unterwerfen und die Mongolen die Kampftechniken der Nizari zu lehren. Eine politische Heirat zwischen dem Herrn der Assassinen und Sinaida soll den Pakt besiegeln.

Auf ihrem langen Weg von den mongolischen Steppen bis in die Elburzberge hat Sinaida genug Tod und Blutvergießen gesehen, und eine politische Heirat steht ihr ohnehin bevor. Also stimmt Sinaida zu, den Alten vom Berge zu heiraten. Zu ihrer eigenen Überraschung verlieben sich die beiden sogar in einander, und alles wäre in bester Ordnung. Gäbe es nicht Neid und Ehrgeiz und Verrat …

|Charakter-Reigen|

Es ist klar, dass es zwischen diesen beiden Handlungssträngen irgendwann einen Berührungspunkt geben muss. Doch Kai Meyer lässt sich Zeit damit. Erst im letzten Viertel des Buches treffen die Personen aus beiden Teilen aufeinander.

Die Gruppe, die aus den Eifelbergen Richtung Osten flieht, ist ziemlich seltsam zusammengesetzt:
ein alter Mönch, ein blinder Ritter, eine Taube, eine Wildkatze und ein Held, der davon nichts weiß. In Bagdad kommt noch eine Rachegöttin dazu.
Die Zusammensetzung als solche zieht ihre Absonderlichkeit hauptsächlich aus der Tatsache, dass ausgerechnet der Ritter blind ist, und ausgerechnet der Mönch der Anführer. Wobei man es vielleicht auch schon als Besonderheit ansehen kann, dass Albertus Magnus keinem der beiden sonst gern bemühten Klischees des mittelalterlichen Mönchs entspricht: er ist weder der fanatische Eiferer noch der väterliche Weise.

Abgesehen davon bleiben an Außergewöhnlichem hauptsächlich die Gaben der beiden Mädchen. Libuse kann das Erdlicht beschwören, eine magisches Licht aus Kraft und Wärme, das der Erde und den Bäume innewohnt. Favola hat – außer einer ungewöhnlichen Bindung zur Lumina – einen besonderen Sinn, der ihr bei Berührung anderer deren Tod zeigt. Zumindest glaubt sie das, aber davon später mehr. Im Übrigen zeichnen sich die Protagonisten eher durch Charakterschemata aus, die man bereits kennt und die durch die oben verwendete Typisierung bereits ausreichend beschrieben sind.

Weniger exotisch fallen die Gegner der Protagonisten aus:

Der eine ist ein Mann auf der Suche nach dem Garten Allahs. Außer dieser Suche scheint es in seinem Leben keine Leidenschaften zu geben. Aber für diese eine Sache ist er bereit, alles zu tun. Wobei man sagen muss, dass er sogar mehr tat als nötig. Zum Beispiel war es für die Erreichung seines Ziels völlig überflüssig, die Bibliothek in Bagdad zu zerstören. Von einem Mann, der gegen alles andere als seine große Leidenschaft so gleichgültig war wie dieser, hätte ich so viel Beachtung einer belanglosen Sache gar nicht erwartet.

Der nächste ist Gabriel, ein typischer Söldner. Sein einziger Ehrgeiz ist es offenbar, die Aufträge seines Herrn auszuführen und sich dessen Wohlwollen zu erhalten. Um sein Ziel zu erreichen, setzt er vor allem brutale Gewalt ein, um sich die Menschen gefügig zu machen. Und so ist es kein Wunder, dass er ausgerechnet denjenigen Mann am meisten fürchtet, dem er nicht mit Gewalt kommen kann: Oberon, den Nigromanten des Erzbischofs. Auch hierzu später mehr.

Außerdem gibt es am Rande noch einen Dritten. Aus Corax‘ Erzählung ist vor allem zu entnehmen, dass er einer von den Machtgierigen ist, zu hinterhältigen Methoden wie Erpressung und Bestechung neigend, und außerdem ein Lüstling. Sein Zusammentreffen mit Sinaida macht darüber hinaus eine ausgeprägte Eitelkeit deutlich, die sich in diesem Fall nicht auf Äußerlichkeiten bezieht, sondern auf Stellung und Ruf. Sinaidas Eindringen in den Palast bedeutet für ihn eine Blamage, deshalb lässt er die junge Frau im Haarem verschwinden und verschweigt ihre Warnung. Das hätte ihn selbst dann den Kopf gekostet, wenn er nicht so dumm gewesen wäre zu übersehen, dass seine größte Rivalin um die Macht, die Mutter des Kalifen, die Herrin über den Haarem ist! Denn die Mongolen hätten ihn in jedem Fall einen Kopf kürzer gemacht!

Diese Personenkonstellation zeigt schon ziemlich deutlich, dass hier keine allzu große Vielschichtigkeit gegeben ist. Von Anfang an ist klar, wer die Guten und die Bösen sind, und dabei bleibt es auch.

|Handlungsebenen|

Am meisten Bewegung bietet naturgemäß der Handlungsstrang um die Lumina, allein durch die Tatsache bedingt, dass Favola und ihre Gefährten unterwegs nach Osten sind. Die stetige Verfolgung durch die Schergen des Erzbischofs sowie die Bedrohung durch Räuberbanden sorgen dafür, dass die Reise turbulent bleibt. Die Erzählsicht wechselt unauffällig immer wieder mal, hauptsächlich zwischen Libuse und Aelwin, gelegentlich auch zu Favola. So werden die Gefühle aller Beteiligten sichtbar und plausibel, und die Entwicklung der Beziehungen zwischen den einzelnen Personen innerhalb der Gruppe bleibt objektiv.

Im zweiten Handlungsstrang um Sinaida geht es ruhiger zu, was auch daran liegt, dass der Gegner hier kein Wolf ist, sondern eine Spinne. Allerdings wechselt hier die Erzählsicht nicht. Von den Motiven und Absichten des Verräters erfährt man also nur aus Sinaidas Sicht. Das macht die Verfolgung des Komplotts einerseits ziemlich hautnah, man wird von der Entwicklung ähnlich überrascht wie die Protagonistin. Andererseits hinterlässt diese Vorgehensweise auch Lücken. So fragte ich mich zum Beispiel, wie der Verräter Hulagu davon überzeugen konnte, es seien Attentate auf ihn geplant gewesen, wenn er keinen Attentäter präsentieren konnte. Und wenn er einen präsentieren konnte, wo hat er ihn hergenommen? Wer von den Nizaris war wohl so verrückt, nach der Heirat ihres Herrschers mit der Mongolenprinzessin noch ein Attentat auf den Khan zu versuchen? Vielleicht hat der Autor diese Dinge bewusst im Dunkeln gelassen.

Was der Geschichte einen gewissen Pfiff verleiht, ist der Hauch von Fantasy, der sich gerade in Romanen über das Mittelalter sehr gut unterbringen lässt. Der Glaube der Menschen, der in vielen Dingen eher an Aberglaube grenzt als an Religiosität, bietet dafür die beste Grundlage.
Eine Legende über die Lumina habe ich bei meiner zugegebenermaßen kurzen Suche nicht gefunden. Dennoch bietet sie genau die Art Stoff, um die sich zu jener Zeit Wunder- und Aberglaube gerankt hätten!

Etwas weniger handfest als die Lumina ist die Schlange ausgefallen, die sich in Gabriel eingenistet hatte. Eine kurze Sequenz ziemlich weit hinten, als der Mann schon fast Bagdad erreicht hat, bietet einen ziemlich deutlichen Hinweis darauf, dass da jemand buchstäblich den Teufel im Leib hat, und zwar bereits in Regensburg. Oder ist der Kerl doch einfach nur wahnsinnig geworden? Denn wieso hätte die Schlange nach Gabriels Tod einfach verschwinden sollen? Das passt nicht ganz zu dem, was beim Kampf gegen die serbischen Räuber geschehen ist, wo es heißt, dass die Schlange ihre volle Präsenz nach Oberons Tod voll auf Gabriel übertragen hat. Wieso hat sie das nicht auch in Bagdad versucht? Fehlte ihr dafür ein Nigromant, wie Oberon einer war? Aber für ihren Wechsel von Oberon zu Gabriel hatte sie auch keinen, denn Oberon starb schließlich gerade! – Hier sind die Grenzen fließend und verwischt, und es bleibt dem Leser selbst überlassen, was er davon halten will.

Auch Favolas Todsicht, wie sie es nennt, bietet nichts, was man präzise benennen oder feststellen könnte. Das Problem mit dem Voraussehen der Zukunft und dem Eintritt der Voraussagen allein deshalb, weil sie bekannt waren, ist ein altbekanntes, vor dem auch Favola steht. Eine Antwort entzieht sich dadurch, dass das, was Favola über Aelvins Tod sieht, nicht eindeutig ist. Hat sie selbst sich durch ihre letzte Tat ihren Visionen entzogen, waren sie also doch nicht zwangsläufig? Oder war ihre Sicht von Aelvin einfach keine Todsicht, sondern etwas anderes? Aber warum etwas anderes, wenn es bei allen anderen eindeutig der Tod war, den sie gesehen hat?

Dieses Ausweichen in das Uneindeutige macht die Geschichte interessant. Hier geht es nicht um Fantasy, wo die Magie einen festen Bestandteil der Welt bildet und mehr oder weniger detailliert ausgebaut und plausibel erklärt wird. Hier geht es um Historie, und da wären Beweise und Plausibilität im Hinblick auf Magie eher ein Stilbruch. Insofern hat Kai Meyer genau die richtige Prise an Wundern erwischt, die der Geschichte zuträglich war und sie vor dem Austrocknen bewahrte, ohne sie damit zu überladen, wie [„Baudolino“ 776 damit überladen wurde.

Die sprachliche Gestaltung unterstützt diesen Hauch von Magie sehr gekonnt. Die Wortwahl ist nicht übermäßig poetisch, bringt aber – hauptsächlich in den ruhigeren Passagen – ein deutliches Bild mit viel Stimmung zustande.

|Unterm Strich| muss ich sagen, das Buch hat durchaus seine Momente. Die Spannung konnte sich trotz aller Turbulenzen allerdings nicht immer halten. Da die beiden so unterschiedlichen Handlungsstränge so lange getrennt bleiben, fragt sich der Leser irgendwann, was die beiden überhaupt miteinander zu tun haben. Es zieht sich ziemlich … Die Charaktere bleiben zwar menschlich – so hat Libuse trotz allen Zorns und aller Rachegelüste immer noch eine Heidenangst vor Gabriel, selbst als er gefesselt ist -, durch die starke Polarisation Gut-Böse verlieren sie jedoch an Tiefe und Echtheit. Und auch das Ende empfand ich als seltsam und etwas enttäuschend. Oder vielleicht sollte ich besser sagen: Albertus wäre enttäuscht! Denn obwohl ihm Libuse und Aelvin berichteten, die Lumina sei gepflanzt und habe Blüten getrieben, ist das Paradies bis heute nicht wiedererstanden. Zumindest ist die Welt nicht besser geworden, wie Albertus es gehofft hat. Vielleicht wäre es im Hinblick darauf doch passender gewesen, die Lumina wäre nicht neu erblüht.

|Kai Meyer| hat mit vierundzwanzig Jahren seinen ersten Roman geschrieben. Seither hat er sowohl im Jugendbuchbereich als auch für Erwachsene zahlreiche Bücher veröffentlicht, unter anderem „Die fließende Königin“, die Wellenläufer-Trilogie und die Merle-Trilogie. Für [„Frostfeuer“ 2111 erhielt er den internationalen Buchpreis Corine. Sein neuestes Buch „Seide und Schwert“ ist der Auftakt zu einer neuen Trilogie, deren zweiter Band unter dem Titel „Lanze und Licht“ im Januar nächsten Jahres erscheinen soll. Zur Entstehung des „Buches von Eden“ hat der Autor eine Art Tagebuch geführt, das er auf seiner Homepage veröffentlicht hat.

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|Siehe ergänzend dazu auch unsere [Rezension 890 zur Hörbuchfassung.|