China Miéville – Die Stadt & Die Stadt

China Miéville ist von Städten gefangen, vereinnahmt … ja fast hypnotisiert, so scheint es, wenn man sich durch seine Bibliografie liest. Immer neue Facetten entdeckt er und verarbeitet sie in den unterschiedlichsten, teils wunderbar abgefahrenen Romanen, denken wir nur an London, in das er bereits mehrfach seine Geschichten verfrachtete (zum Beispiel „König Ratte“ oder „Un Lon Dun“). Dort wird der im Sommer 2011 bei Lübbe erscheinende Roman „Der Krake“ ebenfalls angesiedelt sein und Miévilles Städten eine neue dunkle Seite hinzufügen.

Seine absonderlichste, brutalste, farbenprächtigste und dabei genialste Schöpfung ist New Crobuzon, die Hauptstadt seiner fiktiven Welt Bas Lag und wundervoll zu erleben in „Perdido Street Station“. Mit dem vorliegenden Roman entwirft er eine ebenso abstruse wie faszinierende Stadtschmelze, die beiden Städte Beszél und Ul Quoma, die sich durchdringen, teilweise aus identischen Straßen bestehen und doch unterschiedlicher nicht sein könnten …

Der Polizeiinspektor Borlú aus Beszél wird mit einem Mordfall betraut, bei dem es sich um eine junge, hübsche und unbekannte Frau handelt. Seine Recherche führt zu einem ungesetzlichen Telefonat mit einem Mann aus Ul Quoma, wo dieser zugibt, über die Grenze hinweg Plakate der Frau gesehen zu haben und sie zu erkennen – eindeutig Grenzbruch, das schwerste Verbrechen in den Städten, doch gibt es den ersten Hinweis auf die Herkunft der Frau. Borlú vermutet ein grenzüberschreitendes Verbrechen unter Grenzbruch und versucht, die Ermittlungen an die über-/zwischengeordnete Macht Ahndung abzugeben, die die Grenze zwischen den Städten bewacht und aufrecht erhält, indem sie Grenzbrecher grundsätzlich und radikal bestraft.

Plötzlich tauchen jedoch Videoaufnahmen auf, die den Grenzbruch ausschließen und damit wieder Borlú und seinen Ul Quoma’schen Kollegen Dhatt zu den verantwortlichen Ermittlern machen. Borlús Misstrauen ist geweckt, er scheint mit seinem Vorgehen einem größeren Verbrechen auf der Spur zu sein, als es bisher den Anschein machte. Was er schließlich entdeckt, sprengt all seine Vorstellungen; hier geht es um Dinge, die das sensible Gleichgewicht der Städte aushebeln und zum absoluten Chaos führen können, und das zwischen Macht- und Geldgier, dem Streben nach Anerkennung und der fanatischen Suche nach einer unsichtbaren dritten Stadt

Was sich in der einfachen Inhaltsangabe wie ein recht unspektakulärer Krimi anhört, liest sich mit einem ganz anderen Schwerpunkt. Wie bei dem Titel nicht anders zu erwarten, liegt die Stadt im Mittelpunkt des schöpferischen Interesses. Borlús Ermittlungen führen den Leser kreuz und quer durch die Städte und konfrontieren ihn immer wieder mit den absurdesten und faszinierendsten Situationen, die eine solche Stadtstaatenkonstruktion mit sich bringen würde. Anfangs glaubt man noch an eine irgendwie geartete phantastische zweite Stadt, die die reale Stadt hin und wieder überlagert oder nur manchen ausgewählten Menschen Zutritt gewährt, doch weit gefehlt.

Beszél und Ul Quoma sind zwei Städte auf einem Terrain. Man nehme sich eine beliebige Stadt (für die Vorstellung vorzugsweise eine, die man kennt) und teile sie folgendermaßen: Das Zentrum mit seinen Parks, Marktplätzen, Straßen und Gassen gehört zu beiden Städten und wird als „deckungsgleich“ bezeichnet. Je weiter man nach außen kommt, desto seltener werden die sogenannten Deckungsgleichen und desto mehr Stadtteile werden „total“ einer Stadt zugeordnet. Und die Trennung der beiden besteht ausschließlich in der Psyche der Bewohner: Quomani leben nur in ihren Bereichen, sehen nur ihre Landsleute und Fahrzeuge und Häuser und Straßen, während die Besz genichtsehen werden, wie auch ihre Fahrzeuge, Kneipen, Straßenbahnen, Autos und Häuser … Das Nichtsehen ist dabei der Knackpunkt: Von Kindesbeinen an lernen die Bewohner, sich auf bestimmte Arten zu bewegen, zu kleiden, bestimmte Farben zu meiden und alle anders charakterisierten Details zu nichtsehen. Das ist weit mehr als es nicht zu beachten, es ist ein psychischer Prozess, bei dem die Aspekte weitgehend aus dem Wahrnehmungsspektrum ausgeschlossen werden. Im Straßenverkehr auf Deckungsgleichen ist das besonders interessant …

Diese Konstruktion ist es, die Miéville in den faszinierendsten Farben beleuchtet und ein unglaubliches, weil eigentlich unvorstellbares Bild dieser speziellen Stadt vor den Leseraugen ausbreitet. Die möglichen Konflikte bieten seiner Geschichte dabei Ansatzpunkte, ebenso wie die spezielle Art, die Grenze zu überschreiten: Es gibt ein Gebäude in der Stadt, das von beiden Seiten durchfahren werden kann und als Grenzübergang fungiert. Unvorstellbar, dass jemand, der eben noch die Gerüche der quomanischen Kaffees genichtrochen hat und sie, sobald er die Grenze durchschritten hat, in ihrem vollen Aroma wahrnimmt, ebenso wie alles andere auf dieser Seite der Stadt.

Unvorstellbar, dass sich jemand an diese Zustände halten würde, doch auch dafür hat Miéville eine Lösung: Eine annähernd allmächtige Zuständigkeit in Form der Organisation Ahndung, die jeden Grenzbruch (also zum Beispiel, wenn ein Besz ohne Umweg über das Grenzgebäude in eine total in Ul Quoma liegende Straße geht oder, weniger offensichtlich, ein Quomani einen Gegenstand in einer deckungsgleichen Gegend ablegt und ein Besz ihn an sich nimmt) unnachgiebig und radikal ahndet.

Die Geschichte an sich ist eine durchaus spannende, unterhaltsame und wendungsreiche Ermittlungsgeschichte, deren Auflösung sich aber nicht einfach auf eine Kriminalgeschichte beschränkt, sondern eng verwoben mit den besonderen Zuständen der Stadt ein unausweichliches und anspruchsvolles Gesamtbild hinterlässt. Man kann das teilweise skurrile Flair und das Charisma der Schöpfung kaum beschreiben, und so bleibt als einzige Möglichkeit die uneingeschränkte Leseempfehlung!

Taschenbuch: 428 Seiten
Originaltitel: The City & The City
Deutsch von Eva Bauche-Eppers
ISBN-13: 978-3404243938

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