Michael, Livi – Flüstern der Engel, Das

Kate lebt in Manchester, zusammen mit ihrem Vater, der allerdings nicht gerade das ist, was man als treusorgend bezeichnen könnte. Wenn er nicht gerade betrunken ist oder versucht, Kate die Welt zu erklären, ist er mit der Suche nach einem Mittel zur Erlangung der Unsterblichkeit beschäftigt. Kein Wunder, dass Kates Leben alles andere als geregelt verläuft, sodass sie sich gezwungen sieht, an einem Projekt über die Zeit der Pest teilzunehmen, um ihre vielen Fehlzeiten in der Schule auszugleichen. Wer will schließlich schon mit dem Sozialamt zu tun haben?

Nur, was hat es mit der seltsamen Frau auf sich, die Kate seither immer wieder begegnet, und die dann plötzlich wie vom Erdboden verschluckt ist? Was ist so besonders an dieser seltsamen, unfertigen Engelsstatue in der Kathedrale von Manchester, und warum fühlt Kate sich in der Krypta so extrem unwohl?

Als dann auch noch ihr Vater verschwindet, beschließt Kate, dass sie etwas unternehmen muss …

|Die Charaktere|

Im Grunde beschreibt dieser kurze Abriss allerdings nur die Rahmenhandlung, denn die eigentliche Geschichte spielt im Mittelalter. Sie erzählt von Marie und ihrem Sohn Simeon, der so wunderschön singen kann, von Kit, dem Waisenkind und besten Schüler des College mit Aussicht auf ein Stipendium in Oxford, und von Dr. Dee, dem weitgereisten Gelehrten und jetzigen Kirchenvorsteher mit dem schlechten Ruf.

Simeon ist ein ungewöhnlicher Junge. Die meisten Leute halten ihn für blöde, aber im Grunde ist er nur anders. Man könnte ihn als übersensibel bezeichnen. Er ist tief verbunden mit der Natur – selbst im Lärm und Gedränge der Stadt kann er die Mäuse auf den Feldern wahrnehmen – und mit seiner Mutter, deren Herzschlag er beständig neben seinem eigenen spürt. Simeon besitzt die Fähigkeit, die Wahrheit hinter der Fassade zu erkennen. Er als Einziger erkennt, dass Kit ein Geheimnis hat, und auch den bedrohlichen Schatten hinter dem Kirchenvorsteher, dessen wahre Natur er erkennt, ohne die weitergehende Bedeutung dieser Tatsache zu begreifen. Simeon lebt schlicht in einer anderen Welt!

Kit dagegen ist nicht nur klug, sondern auch mutig. Niemand sonst, nicht einmal die Erwachsenen, trauen sich, dem Kirchenvorsteher offen in die Augen zu sehen. Außerdem zeichnet sich das Kind katholischer Eltern durch Anpassungsfähigkeit – immerhin lebt es in einer anglikanischen Schule – und durch Verantwortungsbewusstsein aus. Sein Gefühl für Recht und Unrecht sorgt dafür, dass es sich um Simeons Willen mit seinem besten Freund Chugg überwirft und sogar duelliert.

Dr. Dee (basierend auf der Person des Universalgelehrten und Mystikers [Dr. John Dee)]http://de.wikipedia.org/wiki/John__Dee dagegen ist der Prototyp des mittelalterlichen Alchemisten. Sein ganzes Leben hat er mit Studien und Forschungen verbracht, ohne jedoch eine Antwort auf die eine ihn beherrschende Frage zu finden: wie kann der Mensch unsterblich werden! In seiner Besessenheit erinnert er fast ein wenig an Doktor Faust, nur dass Dr. Dee nicht vom Satan persönlich heimgesucht wird, sondern von einem Dämon in Gestalt seines früheren Partners Kelly, und dass er ein paar Skrupel mehr hat.

Alles in allem ist die Charakterzeichnung recht ordentlich geraten. Das gilt auch für die Nebenfiguren wie die Magd Susan, die Gastwirtin Mrs. Butterworth oder den puritanischen Prediger.

|Handlung & Geschichte|

Gestützt wird die Charakterzeichnung der Hauptpersonen durch den Handlungsverlauf, den ich einerseits als interessant aber auch als gewöhnungsbedürftig empfand. So beginnt das Buch mit Kate, die Ereignisse in diesem ersten kurzen Kapitel wirken allerdings zunächst vor allem verwirrend und ergeben erst einen Sinn, wenn man sich dem Ende des Buches nähert. Der Teil danach widmet sich Simeon, erzählt von seiner Ankunft in Manchester bis zu dem Zeitpunkt, wo seine Mutter ihn in die Schule gibt. Nach einem kurzen Abstecher zu Kate wird im Folgenden von Kit erzählt, und zwar ab dem Zeitpunkt, wo Dr. Dee anbietet, ihm Zusatzunterricht zu erteilen, bis zum Ausgang des Duells mit Chugg, um nach einer erneuten Szene mit Kate von Dr. Dee zu erzählen.

Das Interessante daran ist, dass jedes Mal über ein und denselben Zeitraum berichtet wird, und nur die Perspektive wechselt. Das ist keinesfalls langweilig, denn die Überschneidungen im Leben der drei Beteiligten sind vorerst äußerst gering, dafür aber in der Regel wortgenau identisch, was einen ganz eigenen Effekt ergibt. Erst nachdem alle drei Handlungsstränge sich getroffen haben, wechselt die Perspektive sich ab, während die entstandenen Verwicklungen auf den Höhepunkt zutreiben. Der ist dann kurzzeitig noch einmal etwas verwirrend geraten, da sich hier einiges zeitlich überschneidet, letztlich aber löst sich der Knoten in Wohlgefallen auf.

Vordergründig geht es in der Geschichte um das Streben nach Wissen, etwas, das Kit und Dr. Dee durchaus gemeinsam haben. Nur über die Art des Wissens, nach dem zu streben sich lohnt, können sie sich nicht ganz einigen. Kit teilt Dr. Dees Besessenheit nicht, was dieser darauf schiebt, dass die Jugend noch so viel Lebenszeit vor sich hat – was in jener Zeit so natürlich nicht unbedingt stimmt -, dass sie sich um den Tod nicht kümmert. Kit dagegen kann zwar nicht das erkennen, was Simeon erkannt hat, spürt aber trotzdem deutlich die Bedrohung, die von dem Dämon ausgeht, gegen den Dr. Dee zu kämpfen hat. Dr. Dees Wissen und der Gegenstand seiner Forschung schrecken Kit mehr ab als seine Wissbegierde ihn anzieht. Flankiert von Simeon, dessen Wissen völlig verschieden ist von dem Dees und Kits, und Kate, die mit dem Erlangen von Wissen zunächst einmal überhaupt nichts am Hut hat, ergibt sich daraus eine gewisse Spannung, welche die Geschichte bereits zu einem Zeitpunkt trägt, als der Höhepunkt noch zig Seiten entfernt ist.

Ganz nebenbei hat die Autorin außerdem eine treffende Skizze jener Zeit geliefert. Markttage, Wirtshaustrubel und Schulalltag sind lebendig beschrieben, aber auch historische Details wie das Massaker an den Zigeunern, die nach Schottland kamen, weil ihnen dort Land versprochen wurde, oder das Erstarken der Puritaner, die gut dreißig Jahre später in einem blutigen Bürgerkrieg unter Cromwell an die Macht gelangen werden und dabei solch tiefe Wunden zurücklassen, dass sie nach Cromwells Sturz mit Gewalt unterdrückt wurden und schließlich massenweise auswanderten. Ob allerdings die Maßnahmen dieser Splittergruppe der Anglikanischen Kirche bereits zu diesem frühen Zeitpunkt so ausarteten wie hier beschrieben, weiß ich nicht.

_Mit anderen Worten:_ Wenn man sich erst einmal eingelesen hat, entwickelt sich auch eine ganz eigene Faszination. Ich würde diese Lektüre nicht unbedingt als besonders spannend oder hochdramatisch bezeichnen, aber sie hat ein gewisses Flair und – abgesehen von der Beziehung zwischen Kate und Kit – einen Mangel an Vorhersehbarkeit, der durchaus geeignet ist, den Leser bei der Stange zu halten. Jugendliche, denen diese Art von Thematik zusagt, sind hier sicherlich nicht falsch.

_Livi Michael_ stammt selbst aus Manchester und unterrichtet Englisch und Kreatives Schreiben. Ursprünglich schrieb sie für Erwachsene, wandte sich aber schließlich ihren Kindern zuliebe auch der Jugendbuchsparte zu. Von ihren Büchern, für die sie diverse Preise erhielt, ist auf Deutsch außer „Das Flüstern der Engel“ bisher nur „Die flüsternde Straße“ erschienen.

http://www.carlsen.de

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