Moehringer, J. R. – Tender Bar

Der siebenjährige JR lebt mit seiner Mutter in Manhasset auf Long Island im Haus seines Großvaters, einem meist mürrischen alten Mann, mit dem schwer auszukommen ist. JRs Mutter versucht immer wieder, sich und ihren Sohn alleine zu versorgen und auszuziehen, kehrt jedoch früher oder später aus Geldmangel zurück. Seinen Vater, einen Radio-Moderator aus New York, hat sie wegen dessen Gewalttätigkeiten bereits kurz nach seiner Geburt verlassen. JRs Vater weigert sich, Unterhalt zu zahlen und nimmt keinen Anteil an seinem Sohn. Dafür verfolgt JR seine Radiosendungen als Ersatz für die väterliche Zuwendung.

Ein wichtiger Punkt in JRs Leben ist sein Onkel Charlie. Nachdem Charlie als junger Mann durch eine Krankheit sämtliche Kopf- und Körperhaare verloren hat, zieht er sich in die Bar zurück, in der er hinter der Theke arbeitet. Im „Dickens“ treffen sich Männer, um über bei Alkohol über Frauen, Wetten, Sport und das Leben an sich zu reden. Bereits als Kind ist JR fasziniert von diesem Ort. Mit neun wird sein Traum war und er darf das „Dickens“ betreten und wird sofort von der Atmosphäre gefangen genommen. Später nimmt ihn sein Onkel regelmäßig mit seinen Kumpels zu Ausflügen an den Strand und zu Baseballspielen ins Stadion mit.

Während JRs Mutter zum Geldverdienen nach Arizona zieht, um sich endlich ein wenig Unabhängigkeit zu verschaffen, besucht er die High School und arbeitet nebenbei in einem Buchladen. Die skurrilen Betreiber, Bud und Bill, unterstützen JRs Wunsch, an der Universität von Yale zu studieren. Wider Erwarten wird JR angenommen, die Freude durch die harte Arbeit in Yale aber gedämpft. JR begegnet hier seiner ersten Liebe und dem ersten Liebeskummer. Nach dem College zieht es ihn als Journalist zur Zeitung. Und immer wieder findet er Halt im „Dickens“, wo er sein erstes Bier trinkt, sein erstes Baseballspiel sieht, Sinatra hört und die Gesellschaft der Männer sucht, die ihm wie Ersatzväter sind …

Ein Junge und kein Vater, dafür eine gemütliche Bar und ein Haufen trinkfester Männer, welche die Vaterrolle gerne übernehmen – das ist der Dreh- und Angelpunkt dieses Werkes, das in den USA wie mittlerweile auch in Deutschland gefeiert wird und bereits zu einem der am höchsten gelobten Werke des frühen Jahrhunderts aufgestiegen ist.

|Eindrucksvolle Charaktere|

JR berichtet von seinem Leben, angefangen von seiner Kinderzeit bis er Mitte zwanzig ist und New York verlässt. In kleinen Episoden erzählt er von den Menschen, die ihn auf diesem Weg umgeben. Da ist sein knurriger Opa, der sein Vermögen gekonnt hinter seinem reparaturbedürftigen Haus und schmuddeliger Kleidung verbirgt und nur selten mal Anwandlungen von Zärtlichkeit für JR zeigt, die sich ihm dafür intensiver einprägen. Da ist Onkel Charlie, ein kahlköpfiges Abbild von Humphrey Bogart, mit Sonnenbrille und Hut vermummt, der sich in Opas Haus krankhaft zurückzieht und erst abends aufblüht, wenn er seiner Arbeit im Dickens nachgeht, den Gästen vorsingt, ihnen Spitznamen verpasst und lakonische Bemerkungen abgibt.

Da ist Joey D, ein liebenswerter Riese mit Muppet-Gesicht, der seine Worte in Hochgeschwindigkeit stets an seine Brusttasche zu richten scheint, was JR als Kind zur Überzeugung bringt, dass dort eine kleine Schmusemaus wohnt, mit der er sich unterhält; der Hausmeister „Fuckembabe“, der eben jenen Ausdruck bei jeder Gelegenheit in sein Kauderwelsch einflechtet; der Vietman-Veteran Cager, der vom Schrecken des Krieges erzählt; Bob the Cop, der Polizist mit dem dunklen Geheimnis, das er JR eines Tages anvertraut, und nicht zuletzt Steve, der rotgesichtige Besitzer der Bar, der jedem Gast sein herzliches Lächeln schenkt und dem „Dickens“ sein Herzblut opfert.

JR wird früh zu einer Sympathie- und Identifikationsfigur für den Leser. Durch sein ganzes Leben zieht sich ein permanenter Wechsel von Licht und Schatten. Wünsche, Hoffnungen und Träume wechseln sich mit Erfolgen und schmerzlichen Niederlagen ab. Mit dem Studiumsplatz in Yale scheint JR zunächst das Glück gepachtet zu haben, bis er feststellt, dass er weder zu den elitären Kreisen seiner Kommilitonen gehört noch die Professoren mit seinen Arbeiten beeindrucken kann. In Yale begegnet JR der bildhübschen Sidney, einer reichen Oberschichtstochter mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein, die ihn gekonnt um den Finger wickelt und ihm den Kosenamen „Trouble“ verpasst – mit Recht, denn Sidney verschafft JR den ersten ernsthaften Schmerz und Kummer in seinem Leben, und wieder ist es das Dickens mit den Männern darin, das er als Zuflucht wählt. In Yale trifft er auch auf seinen verehrten Frank Sinatra, der einen Vortrag über Kunst hält und plötzlich so viel greifbarer und menschlicher erscheint als auf Plattencovern und im Fernsehen und gleichzeitig nichts von seinem Charisma einbüßt. JRs Bewunderung für den Sänger ergibt sich fast von selbst, denn seine eigene Geschichte gleicht den melancholischen Sinatra-Songs, die von Liebe und Leid erzählen, ohne sich dabei in Selbstmitleid zu suhlen, sondern Würde und Haltung bewahren.

Mehr schlecht als recht quält sich JR durch das Studium, ohne sich darüber im Klaren zu werden, welchen Beruf er wählen soll. Schreiben möchte er, beschließt er schließlich, aber keine Gedichte oder Belletristik, sondern als Journalist arbeiten. Wieder scheint ihm das Glück zu winken, als er für ein Volontariat bei der |New York Times| genommen wird. Monatelang besteht sein Leben, abgesehen von den unvermeidlichen Ausflügen ins „Dickens“, aus Sandwichholen für die Reporter und kleinen Büroarbeiten. Seine erste Story wird ein blamabler Reinfall, der sich als Ente entpuppt, und auch in seiner Probe-Reporterzeit leistet er sich einen kapitalen Ausrutscher, der an seinem Selbstbewusstsein nagt. JR ist beileibe kein Gewinner, aber auch kein blasser Verlierer, sondern ein Kämpfer, der sich immer wieder aufrappelt, wenn alles verloren zu sein scheint.

Ein besonderes Schmankerl ist das Nachwort, in dem Moehringer eine kurze Bilanz seines Lebens nach seiner Zeit in New York zieht und den 11. September als traurigen Aufriss wählt, denn bei den Anschlägen starben auch Menschen, die er aus seiner Zeit im „Dickens“ kannte. Der Leser erfährt die weiteren Schicksale der Figuren, die er zuvor begleitet hat, manche stimmen froh, andere fanden leider kein glückliches Ende, aber in jedem Fall ist es schön zu erfahren, dass hier keine Romanfiguren, sondern echte Charaktere agierten. Erfreulich ist auch das anhängende Glossar, das die wichtigsten Namen und Anspielungen kurz erläutert, manche wie „Popey“ sicher populär genug, um nicht notwendig zu sein, andere dagegen eine nette Bereicherung.

|Kleine Längen|

„Tender Bar“ ist ein autobiographischer Roman, was in der deutschen Ausgabe, die auf die Originalbeigabe „A Memoir“ verzichtet, nicht sogleich offensichtlich ist. Moehringer gibt an, nichts als die nackte Wahrheit aufgeschrieben zu haben, sogar nur drei Namen wurden geändert, wie er im Epilog erklärt. Darin liegt einerseits der Reiz des Buches, die besondere Zusatzfreude, wenn man weiß, dass es all diese originellen Figuren tatsächlich gab und überwiegend heute noch gibt. Allerdings ist der autobiographische Stil auch dafür verantwortlich, dass „Tender Bar“ nicht frei von Längen ist. Manche Episoden sprühen vor Charme und leisem Humor, andere bewegen und berühren, aber manchmal ziehen sich belanglose Schilderungen allzu zäh über die Seiten und man wünscht, Moehringer würde der Lesefreundlichkeit zuliebe ein wenig straffen, denn nicht alle eigenen Erlebnisse sind für den Leser genauso interessant wie für den Autobiographen. Vor allem zu Beginn ist Geduld gefordert, denn Moheringer ist ein sehr gemächlicher Erzähler, der sich Zeit für seine Schilderungen nimmt, so unspektakulär sie manchmal auch daherkommen.

_Als Fazit_ bleibt ein ruhiger und bewegender autobiographischer Entwicklungsroman und zugleich eine liebevolle, nostalgisch-verklärte Hommage an die Bar, die den Erzähler von klein auf durch sein Leben begleitet. Vor allem die Vielfalt der faszinierenden Charaktere vermag zu überzeugen, ebenso wie die gelungene Mischung aus Humor und Melancholie. Kleine Abstriche gibt es für die manchmal ausufernden Abschweifungen und Längen, denen ein paar Straffungen gutgetan hätten.

_Der Autor_ J. R. Moehringer wurde 1964 in New York geboren, studierte in Yale und arbeitete als Reporter für die |Rocky Mountain News| und die |New York Times|. Heute schreibt er für die |Los Angeles Times|. 2000 wurde er für eine Reportage mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Sein autobiographisches Werk „Tender Bar“, der 2005 erschien, ist sein erster Roman.

http://www.tenderbar.com
http://www.fischerverlage.de

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