Mötley Crüe & Neil Strauss – Dirt, The

Es gibt da so eine Band, die heißt |GUNS ‚N ROSES|, war zu Beginn der Neunziger ganz, ganz oben, fetzte sich dann aber derart heftig, dass man statt der sicheren Millionen den Split in Kauf nahm, woraufhin ein gewisser Axl Rose seinen ehemaligen Mitstreitern allen Frust heimzahlen wollte und es fortan unter altem Namen mit neuer Band solo versuchte. Wie’s weiter ging, ist bekannt: „Chinese Democracy“ ist nach jahrelanger Ankündigung und massiven Vorscusszahlungen noch immer nicht in den Läden, die Band aber trotzdem ständig in den Schlagzeilen. Nicht schlecht für jemanden, der seit gut einer Dekade keine neue Note mehr von sich hat hören lassen.

Doch all diese Eskapaden sind nichts im Vergleich zu einer anderen Band aus derselben Ära: |MÖTLEY CRÜE|. Vince Neill, Mick Mars, Tommy Lee und Nikki Sixx gehören wohl zweifelsohne zu den größten Skandalnudeln, mit denen das Rockbusiness sich jemals auseinander setzen musste, und haben diesen Ruf auch über mehrere Jahrzehnte tapfer verteidigt.

Welche Band hatte schon mehr prominente Groupies als das verruchte Skandalquartett? Immerhin hat sich ungefähr die halbe „Baywatch“-Belegschaft in den Betten von Lee, Sixx und Co. eingenistet. Oder die Drogen – während vergleichbar große Rock-Acts wie |AEROSMITH| nie einen großen Hehl aus ihren Problemen gemacht haben und zwischenzeitlich sogar so tief am Boden waren, dass der Tod wahrscheinlicher als das Comeback war, wurden die Experimente der |CRÜE| nie an die große Glocke gehängt. Gut, wenn man heute einen Mick Mars wie eine Mumie auf der Bühne stehen sieht, werden einem die Spuren, die die unerlaubten Substanzen hinterlassen haben, schon bewusst, aber damals war es halt nicht das große Ding.

Doch warum schreibe ich dies alles überhaupt? Nun, ganz einfach: MÖTLEY CRÜE waren schon immer eine Band, die sämtliche Rock-’n‘-Roll-Klischees bis zum Exzess ausgelebt hat und im Nachhinein auch immer verdammt stolz auf sein ‚Geleistetes‘ war. Das macht die Band nicht zum Abziehbild von |SINAL TAP| – dafür ist die Musik auch viel zu gut –, lässt aber eindeutige Parallelen zur Trash-Ikone erkennen. Und weil sich die ganzen Storys, die die Viererbande in ihrer langen Karriere gesammelt hat, ziemlich gut verkaufen lassen, haben sich |MÖTLEY CRÜE| zur Jahrtausendwende dazu entschlossen, gemeinsam an ihrer offiziellen Biografie zu arbeiten, die in den Staaten auf sofortigem Wege in die Bestsellerlisten schoss.

„The Dirt“ ist der Titek des unheilvollen Buches, in dem die Vielzahl der Eskapaden aus der Perspektive der verschiedenen Bandmitglieder dargestellt wird. Die Highlights, der rasante Aufstieg, das große Chaos, der Zwist und die abertausenden Affären – all das ist in dieser dreckigen Lektüre zu finden, und entgegen allen Befürchtungen ist dieses Buch dabei alles andere als ein langweiliger Ritt auf dem Klischeepferd. Gut, sieht man mal von den ganzen Geschichten um Alkohol und sonstige zweifelhafte Mittelchen ab. Was „The Dirt“ so unheimlich lesenswert macht, sind die verschiedenen Ansichten der einzelnen Bandmitglieder. Auf der Bühne sind sie der pure Rock ’n‘ Roll, abseits aber vier vollkommen unterschiedliche Individuen, bei denen man sich im Anschluss an diese Lektüre wundern muss, dass sie als Einheit überhaupt funktionieren können.

Besonders die Betrachtung des Mick Mars lassen mich bisweilen daran zweifeln, dass dieser Mann ein Teil dieser Band ist. Kühl und nüchtern, meist auch sehr sachlich wird seine Sicht der Dinge erzählt, und selbst im Bezug auf die zahlreichen Exzesse prahlt er nicht mit den Erfahrungen, die ihn teilweise zu einem echten Wrack haben verkommen lassen. Wirklich bewegend, und das überrascht sicherlich die meisten, sind auch die Schilderungen von Frontmann Vince Neill. Die Geschichte mit Razzle von |HANOI ROCKS|, der auf Neills Mitverschulden hin den Tod fand, wird erstmals etwas intensiver und auch persönlich abgehandelt – und dies gänzlich, ohne dass man den Eindruck bekommt, Neill würde hier eine Pflichtaufgabe erledigen, um diesen festen Bestandteil der |CRÜE|-History nicht ausklammern zu müssen. Auch die hier etwas detailreicher beschriebene Auseinandersetzung mit dem Tod von Vinces Tochter geht unter die Haut und zeigt den Sänger von einer eher ungewohnten, sehr nachdenklichen Seite.

Dem entgegen stehen mit Tommy Lee und Nikki Sixx die beiden Partykanonen der Band, die auch in ihren Schilderungen ausschließlich das darstellen wollen, was ihrem wüsten Image als absolute Rockstars gerecht wird. Während die Geschichte von Mr. Sixx noch halbwegs glaubwürdig erscheint, ist der Bericht des ehemaligen Pamela-Anderson-Lovers ziemlich flach, ganz so nach dem Motto „20 Jahre Sex, Drugs, Rock ’n‘ Roll und gar nichts anderes“. Vielleicht hätte der Mann mal ein wenig mehr von seiner Persönlichkeit preisgegeben als lediglich das zu pinseln, was die Leser eh schon wissen. Aber das macht das Buch jetzt auch nicht dringend schlechter …

Was mich ein wenig überrascht, ist die Tatsache, dass man auch dem kurzzeitig eingesprungenen Sänger John Corabi Gelegenheit gegeben hat, ein paar vernichtend ehrliche Worte zu seiner Zeit bei der Band zu verlieren. Vielleicht ist dies sogar die interessanteste Handlungsebene in der ganzen Biografie, da sie eine sehr schwierige Periode dieser Band beschreibt und dazu als einziger Beitrag völlig ohne Klischees auskommt. Selbst die wenigen Sätze, die Manager und Leute aus dem Bandumfeld loswerden durften, orientieren sich da eher am Stil der Band und treffen dabei genau das, was die Egomanen sich für diesen Part wohl gewünscht haben.

Aber warum ist „The Dirt“ jetzt so herausragend, dass man gerade sogar intensiv an einer Verfilmung arbeitet? Nun, ganz einfach: Weil so etwas noch nie dagewesen ist. Es ist tatsächlich wahr. Fast alle Bandbiografien sind lediglich ein Überblick über das Schaffen der Künstler, enthalten aber meist nichts wirklich Persönliches. „The Dirt“ ist da anders; man taucht tiefer in das Seelenleben der Musiker ein und entdeckt so an vielen Stellen Dinge, die in einer ‚herkömmlichen‘ Geschichtsaufarbeitung nicht zu lesen sind. Sicherlich, die Inhalte sind berechnend und deutlich auf ein gewisses Zielpublikum zugeschnitten. Und damit ist der Infogehalt auch auf einem gleichen Level mit dem Unterhaltungsfaktor. Aber ist es nicht genau das, was man von einer Biografie erwartet? Gerade dann, wenn die beschriebene Band zu den wohl interessantesten Phänomenen der gesamten Geschichte der Rockmusik gehört? Und in Sachen Entertainment kommt „The Dirt“ nun wirklich nicht zu kurz.

Ich legte mir das Buch bereits vor drei Jahren bei einer Stockholm-Reise in englischer Sprache zu und amüsierte mich bereits damals in der Originalvariante über die vielen schmeichelhaften Zitate. Daran hat sich bei der deutschen Fassung nichts geändert; die Übersetzung ist astrein und gibt das Flair des Ursprungsbuches authentisch wieder. Stellenweise fühlt man sich dabei selber wie ein Teil der |CRÜE| und kann vieles nachvollziehen. Und ehrlich gesagt fühlt sich dies ziemlich cool an!

Ein Wort noch zum Buchtitel; ja, das Buch ist der pure Dreck! Hier wird eine Menge schmutziger Wäsche gewaschen und dazu werden zahlreiche skandalöse Schoten neu aufgebahrt. Die Band nimmt wie auch sonst kein Blatt vor den Mund, treibt es aber dabei nicht zu weit. Oberflächlichkeit und Plattitüden liegen den Autoren des Buches fern, Ernsthaftigkeit in Kombination mit Humor und Ironie sind bei den Herren da schon gefragter. Bissig bis zur Gürtellinie, aber nur selten darunter, im Rahmen des Erlaubten, aber in jedweder Hinsicht bis ans Limit – wenn ich selber auch einmal eine solche Biografie schreiben müsste, dann soll sie mit diesem Vorzeigewerk verglichen werden.

Endlich ist das Buch nun auch hierzulande regulär als preiswerteres Paperback erhältlich, und zwar über das neue Sub-Label |Heyne Hardcore|. Abgerundet mit einigen Fotos, ergibt sich hier ein vorzügliches Beispiel einer Bandbiografie, an der sich alles Folgende wird orientieren müssen. Egal ob man diese Band jetzt mag oder nicht, „The Dirt“ sollte man gelesen haben!

http://www.heyne-hardcore.de