Moloney, Susan – Schnee im September

Bastion Falls, ein winziges Städtchen mit 613 Einwohnern, gelegen irgendwo in Nordkanada unweit des Polarkreises; zehn Monate von zwölfen liegt hier Schnee. Die Bürger müssen folglich ein besonderer Menschenschlag sein, um hier auszuharren. Vom rauen Klima geprägt, sind sie eigensinnig, naturverbunden und – notgedrungen – gottesfürchtig, vor allem aber ihrer seltsamen Heimat verbunden.

Trotzdem ist es sogar in Bastion Falls ungewöhnlich, dass der erste Schnee des Winters heuer bereits im September zu fallen beginnt. Binnen weniger Stunden hat sich ein Sturm entwickelt, der den Ort von der Außenwelt abschneidet. Selbst in der Stadt wird die Lage heikel, denn die Menschen wurden vom Kälteeinbruch völlig überrascht. Die Schule und das große Einkaufszentrum werden zum sicheren Hafen für jene, die den Weg nach Hause nicht mehr schafften. Es gibt keine Panik, aber ein großes Durcheinander, und so bleibt lange unbemerkt, dass Schnee und Kälte nicht die einzige Gefahr bilden, die sich über den Einwohnern von Bastion Falls zusammenbraut. Seltsames geht vor außerhalb der warmen Stuben. Menschen verschwinden spurlos, nachdem sie im Schnee die Geister längst verstorbener Verwandte und Freunde zu sehen glaubten.

Die 15-jährige Schülerin Shannon Wilson weiß bald mehr als ihr lieb ist über die Schatten, die Bastion Falls bedrohen. Das junge Mädchen verfügt über seherische Fähigkeiten. Nur sie kann zunächst die formlosen schwarzen Wesen sehen, die aus der Wildnis in die Stadt schweben, in die Körper ahnungsloser Menschen schlüpfen und diese von innen heraus auszehren, bevor sie ihr nächstes Opfer suchen. Aber Shannon findet bald heraus, woher die Schatten kommen: aus dem alten, jenseits der Stadtgrenze gelegenen Fort, das Bastion Falls zwar seinen Namen gab, aber von den Bewohnern seit jeher gemieden wird. In den Tagen der ersten Siedler diente es als Straflager für Schwerverbrecher. Unvorstellbares soll sich innerhalb der dicken Mauern abgespielt haben, und bis heute blieb der Ort verrufen.

Während die Schatten bereits über die Außenbezirke von Bastion Falls hergefallen sind und sich nun um Schule und Einkaufszentrum zu versammeln beginnen, macht sich Shannon zum alten Fort auf, der Quelle allen Übels, um dort das Böse buchstäblich auszubrennen …

„Schnee im September“ ist der Debütroman der Journalistin Susan Moloney, die tatsächlich im hohen Norden Kanadas geboren wurde und noch heute dort (auf einer Insel in der Provinz Ontario) lebt und arbeitet. Die Erfahrungen, die sie mit Land und Leuten in diesem unwirtlichen Teil der Welt machen konnte, fließen direkt in die Handlung ein und verleihen ihr Überzeugungskraft.

Die Story klingt dagegen vertraut: „Schnee im September“ wirkt wie ein Roman von Stephen King. Eine kleine Gruppe von Herkunft und Charakter verschiedener Männer und Frauen wird zufällig zusammengewürfelt und muss versuchen, miteinander auszukommen und sich gegen eine Bedrohung von Außen zu wehren – das ist eine klassische King-Situation. Es gibt sogar eine Geschichte des Meisters, die seine Moloney recht offensichtlich „inspiriert“ hat. Die Rede ist von „Der Nebel“/“The Mist“ (1985), eine Novelle, die in einem Supermarkt spielt, der vom Titel gebenden Nebel eingehüllt wird, aus dem sich allerlei Ungeheuer auf die Kunden stürzen …

Aber schließlich gibt es nicht nur im Horror-Genre keine wirklich neue Ideen mehr, sondern höchstens unterhaltsame Variationen. So überwiegt denn bei der Lektüre von „Schnee im September“ zunächst die stille Freude darüber, endlich wieder einmal eine „klassische“ Gruselgeschichte lesen zu dürfen. Telepathische Serienmörder, genmanipulierte Monster, schleimig-außerirdische Relikte aus der Urzeit – das standardisierte Personal des modernen Horrors, der die phantastische Szene beherrscht, hat man längst gründlich satt! Da das Genre hierzulande lange ziemlich am Boden lag, ist es als Freund des Unheimlichen schwierig, neue und im Ausland womöglich längst aktuelle Autoren mit eventuell neuen Ideen kennen zu lernen. Aber auch hier gibt es talentierte Schriftsteller, wie man bei dieser Gelegenheit erfahren kann.

Bei näherer Betrachtung relativiert sich indes das schöne Bild. Während Milieu und Figurenzeichnung in „Schnee im September“ jederzeit vollauf überzeugen können, trifft dies auf die Geschichte leider mit ihrem Fortschreiten nicht mehr zu. Nachdem Moloney die Bühne für ihr Drama vorbereitet hat, scheint ihr für das große Finale so recht nichts mehr einzufallen. In Bastion Falls versuchen die Menschen, mit der Situation und der Belagerung fertig zu werden. Die Mehrheit ahnt aber nicht einmal etwas von der wahren Bedrohung, und das ist der Spannung wenig förderlich.

Auch das alte Fort kann Moloney nie als Hort des Grauens darstellen. Was sind denn das für Gespenster, die dort umgehen? Die Autorin möchte den Schrecken namenlos lassen und ihn dadurch um so nachdrücklicher beschwören, ließe sich einwenden, doch das stimmt nicht – Moloney hatte ganz offensichtlich nie wirklich eine Idee, wie sie ihre Geschichte auflösen konnte. Der Schlussakt lässt daher nicht nur witterungsbedingt recht kalt (von dem definitiv blödsinnigen Einfall, ein Fort aus Kalkstein und meterdicken Holzbohlen inmitten heftigen Schneetreibens mit Hilfe einiger Flaschen Feuerzeugbenzin in Brand zu stecken, einmal ganz abgesehen …).

So kann „Schnee im September“ die Versprechungen, die der Roman zunächst macht, im letzten Drittel nicht einlösen. Unterm Strich bleiben aber noch genug Spannung und Stimmung, um die Lektüre zu lohnen und neugierig zu machen auf Susan Moloneys zweiten hierzulande erschienenen fantastischen Roman, dessen Titel – „Die Dürre“ (ebenfalls bei |Heyne| erschienen) – verrät, dass die Autorin dieses Mal ihre winterliche Heimat zumindest thematisch verlassen hat.

Unberücksichtigt bleiben musste in der deutschen Übersetzung übrigens das hübsche Wortspiel des Originals: „Bastion Falls“ bezeichnet nicht nur den Ort der Handlung, sondern beschreibt auch genau jenen Moment, in dem die Grenze zwischen der Realität und dem Übernatürlichen zusammenbricht.

Schreibe einen Kommentar