Montgomery, L. M. / Gruppe, Marc / Bosenius, Stephan – Anne auf Green Gables. Folge 2: Verwandte Seelen

_Die Verbrechen der Heldin_

Folge 1: Kanada Ende des 19. Jahrhunderts. Das ältere Geschwisterpaar Marilla und Matthew Cuthbert hat sich entschlossen, einen Waisenjungen aufzunehmen, der Matthew bei der Arbeit auf der Farm unterstützen soll. Versehentlich schickt das Waisenhaus jedoch ein Mädchen nach Prince Edward Island – die quicklebendige und sehr mitteilsame Anne Shirley. Als Anne Green Gables, das schöne Farmhaus der Cuthberts, erblickt, ist sie sich sicher, dass dies der Platz ist, an dem sie für immer bleiben möchte …

Folge 2: Mittlerweile hat sich Anne gut eingelebt. Sie erwartet aufgeregt den ersten Besuch auf der Nachbarfarm Orchard Slope, wo die Familie Barry mit ihren Töchtern lebt. Anne hofft, dass die gleichaltrige Diana die von ihr ersehnte „verwandte Seele“ sein wird, die erste leibhaftige beste Freundin. Allerdings ist Mrs. Barry eine sehr strenge Frau, die ihre Töchter nicht mit jedem spielen lässt …

Pünktlich zum 100-jährigen Jubiläum gibt es die Abenteuer des Waisenmädchens Anne Shirley als Hörspiel-Serie, geeignet für die ganze Familie.

_Die Autorin_

Lucy Maud Montgomery (1874-1942) war eine kanadische Schriftstellerin, die besonders durch ihre Jugendbücher um Anne Shirley bekannt wurde: „Anne of Green Gables“ und sechs Fortsetzungen.

Das Manuskript wurde zunächst von mehreren Verlagen abgelehnt, bevor es Montgomery gelang, es zu platzieren. 1908 war sie bereits 34 Jahre alt. Das Buch wurde zu einem Theaterstück verarbeitet, mehrmals verfilmt und in mehr als 40 Sprachen übersetzt.

Die erste Staffel: Anne auf Green Gables

Folge 1: [Die Ankunft 4827
Folge 2: Verwandte Seelen
Folge 3: Jede Menge Missgeschicke
Folge 4: Ein Abschied und ein Anfang

Die 2. Staffel: Anne auf Avonlea (ab Herbst 2008)

Folgen 5 bis 8

Die 3. Staffel: Anne in Kingsport (Frühjahr 2009)

Folgen 9 bis 12

_Die Inszenierung_

Die Rollen und ihre Sprecher:

Erzähler: Lutz Mackensy (Rowan Atkinson, Christopher Lloyd, Al Pacino)
Anne Shirley: Marie Bierstedt (Kirsten Dunst, Kate Beckinsale)
Marilla Cuthbert: Dagmar von Kurmin (Bühnenschauspielerin, Hörspiel-Regisseurin für |Europa|, Stammsprecherin für |Titania Medien|)
Matthew Cuthbert: Jochen Schröder (James Cromwell, Lionel ‚Max‘ Stander, Lloyd Bridges)
Rachel Lynde: Regina Lemnitz (Whoopi Goldberg, Kathy Bates, Diane Keaton)
Diana Barry: Uschi Hugo (Brittany Murphy, Tara Reid, Julie ‚Darla‘ Benz)
Gilbert Blythe: Simon Jäger (Josh Hartnett, Heath Ledger, Matt Damon)
Mr. Phillips: Dennis Schmidt-Foß (Freddie Prinze jr.)
Mrs. Barry: Petra Barthel (Nicole Kidman, Uma Thurman, Julianne Moore, Bridget Fonda)
Doktor: Daniel Werner
Mary Joe: Dascha Lehmann (Katie Holmes, Jennifer Love Hewitt, Keira Knightley)
Minnie May Barry: Friedel Morgenstern (Abigail Breslin in „Little Miss Sunshine“ und „Vielleicht, vielleicht auch nicht“)

Regie und Aufnahmeleitung lagen in den Händen von Stephan Bosenius und Marc Gruppe, der auch das „Drehbuch“ schrieb. Die Tontechnik betreuten Martin Wittstock und Kazuya. Die Illustration stammt von Firuz Askin.

_Handlung_

Anne hat es geschafft, von ihren neuen Pflegeeltern/Arbeitgebern akzeptiert zu werden. Marilla schenkt ihr sogar eine wertvolle Amethystbrosche. Nun sucht sie sich eine Freundin, eine „Busenfreundin“. Zufällig sucht auch die gestrenge Mrs. Barry auf dem Nachbarhof Orchard Slope eine Freundin für ihre älteste Tochter Diana. Als Anne sie fragt, ist Diana einverstanden und schwört wie verlangt einen heiligen Eid: Sie geloben einander Treue für immer. Anne will im Wald ein Puppenhaus bauen und viel mit Diana unternehmen.

Die Brosche ist verschwunden! Und Anne war angeblich die Letzte, die sie in die Hand genommen hat. Sie beteuert ihre Unschuld, bekommt aber trotzdem Stubenarrest von Marilla. Ist sie eine gewissenlose Diebin? Am nächsten Tag gesteht sie endlich, dass sie die Brosche im nahen See verloren habe. Später erblickt Matthew die Brosche jedoch an einem Schal. Anne hat das Geständnis erfunden, damit Marilla nicht durch die Wahrheit, dass sie selbst ja die Brosche verloren haben könnte, beleidigt wird. Zur Belohnung darf Anne auch zu den anderen Kindern, um mit ihnen am See zu picknicken.

|Ernst des Lebens|

Im September beginnt die Schule – die erste richtige in Annes Leben. Sie darf neben Diana sitzen, mit der sie sich das Pausenbrot teilt. Anne macht unter der Obhut von Lehrer Phillips schnelle Fortschritte und strengt sich an. Daheim erzählt sie von ihrem vierzehnjährigen Mitschüler Gilbert Blythe, der aus der Provinz New Brunswick kommt und der Exfreund von Julie Bell ist. Er durfte drei Jahre lang nicht zur Schule gehen. Anne findet, er sehe „schrecklich gut“ aus.

Im Schulhaus von Avonlea braut sich etwas zusammen. Gilbert Blythe zieht Anne an den Zöpfen und nennt sie „Karotte“. Zur Strafe zerbricht sie eine Schiefertafel, auf die sie sonst schreibt, auf seinem Kopf. Mr. Phillips bestraft beide, und Gilbert entschuldigt sich bei ihr, doch Anne vergibt nicht so leicht. Sie ignoriert ihn, und das nicht bloß für Tage oder Wochen, sondern für Jahre!

Anne will nie wieder in die Schule, was Marilla doch einigermaßen ratlos macht. Vielleicht weiß Rachel Lynde Rat, die immerhin zehn Kinder großgezogen und zwei zu Grabe getragen hat. Ihr Rat lautet: Hausunterricht, denn offenbar sei Mr. Phillips ein schlechter Lehrer. Gegenüber Gilbert bleibt Anne weiter unversöhnlich.

Da Marilla zum Frauenverein gegangen ist, darf Anne Diana selbst bekochen und Johannisbeersaft kredenzen. Doch auf einmal wird Diana schwindlig und übel, sie geht heim und vor ihrem Elternhaus erbricht sie sich in die Büsche. Kein Wunder, dass Dianas Mutter bitterböse reagiert. Wollte Anne ihre beste Freundin etwa umbringen? Anne ist untröstlich. Da findet Matthew endlich die Erklärung: Statt Johannisbeersaft hat sie Johannisbeerwein kredenzt!

Schon wieder muss Marilla Feuerwehr spielen und versucht, Annes „Verbrechen“ auszubügeln. Doch Mrs. Barry stellt sich als harte Nuss heraus. Doch das wird sie bereuen, denn im Januar rettet Anne ihrem Töchterlein unter dramatischen Umständen das Leben …

_Mein Eindruck_

Auch diese Folge weist mehrere Höhepunkte auf und macht die Handlung sehr abwechslungsreich. Während Anne in Folge eins nur drei neue Menschen kennenlernte, nämlich Rachel Lynde und die beiden Cuthberts, bekommt sie es nun mit einer neuen Familie, den Barrys, und einer ganzen Schule zu tun. Folglich müssen ihre sozialen Kompetenzen erheblich ausgebaut werden.

Die Sache mit der „Busenfreundschaft“ bekommt sie ausgezeichnet hin, doch was die Freundschaft zum anderen Geschlecht angeht, muss sie noch üben. Gabriel Blythe ist es bestimmt, später Anne Shirleys Mann zu werden, aber davon sind die beiden weiter entfernt als je. Dass sich Männlein und Weiblein nicht zu nahe kommen, war den Lesern von Montgomerys Buch sicher nicht unrecht, denn die Viktorianer achteten anno 1908 noch streng auf Sitte und Anstand (zumindest äußerlich).

In dieser Folge begeht Anne zwei „Verbrechen“. Ist sie wirklich eine Diebin und Giftmischerin? In diesen Anschuldigungen spiegeln sich die Ängste der damaligen Gesellschaft vor unmoralischen und „gefallenen“ Frauen, die es an Anstand und Moral fehlen lassen. („Gefallene Frauen“ waren Frauen, die zum Beispiel ein uneheliches Kind hatten oder abtreiben ließen, wenn sie sich nicht gleich prostituierten.) Und da Prince Edward Island klein und exponiert gelegen ist, zählt jeder Verstoß eines Gemeindemitgliedes, das die Regeln nicht befolgt, doppelt schwer. Für die Leser war es ebenso wichtig wie für die Figuren im Buch herauszufinden, auf welcher Seite des Gesetzes Anne steht. Zum Glück ist das erste „Verbrechen“ schnell aufgeklärt: Anne ist unschuldig. Und das zweite „Verbrechen“ ist ein Unfall wegen eines Versehens.

Sollte aber dennoch ein Fleck auf Annes Ehre zurückgeblieben sein, wie Mrs. Barry annimmt, so wird dieser Fleck geradezu porentief abgewaschen, als Anne dem kleinen Töchterchen der Barrys das Leben rettet. Weit und breit ist kein Arzt zu bekommen, denn Telefon gibt es hier noch nicht, von Handys und E-Mail natürlich ganz schweigen. Hier ist jeder letzten Endes auf sich selbst angewiesen. In dieser Situation kann sich Anne bewähren und zeigen, dass sie die optimale Krankenschwester wäre.

Schon hier zeigt die Autorin, wo der Platz der Frau als Heldin ist: am Krankenbett, am Herd und später in der Schule und auf der Theaterbühne. Kunst, Bildung, Leben retten – das ist die Domäne der Frau, und sie sollte sich nicht in die Domäne des Mannes einmischen, die da Handel und Politik sowie Militär heißt. Solche Botschaften kommen heute nicht mehr allzu gut an, aber je mehr die Familie und der Nachwuchs schwinden, desto wichtiger werden genau die Werte, die sie erhalten sollen. Und wer weiß, ob die alten Rollenvorstellungen nicht wieder an Boden gewinnen werden.

_Die Inszenierung_

|Die Sprecher|

Die Hauptrolle der Anne Shirley wird von Marie Bierstedt, der deutschen Stimme von Kirsten Dunst und vielen anderen jungen Schauspielerinnen, mit Enthusiasmus und Einfühlungsvermögen gesprochen. Obwohl Bierstedt wesentlich älter ist als die elfjährige Heldin, klingt ihre Stimme doch ziemlich kindlich. Später, sobald Anne älter ist, darf sie auch ein wenig langsamer und überlegter sprechen.

In Folge eins überschlug sich Annes Wortflut geradezu. Das fand ich sehr sympathisch und charmant. Den Cuthberts, so ist anzunehmen, muss es wohl ähnlich ergangen sein. Dagmar von Kurmin und Jochen Schröder klingen sehr sympathisch und ihrem fiktiven Alter entsprechend. In Folge zwei lässt die Redseligkeit Anne etwas nach, aber nicht besonders viel.

Sehr passend fand ich die Stimme der Nachbarin Rachel Lynde, gesprochen von Regina Lemnitz, der Stimmbandvertretung von Whoopi Goldberg. Wenn Rachel und Anne aufeinandertreffen, fliegen die Fetzen, und Anne darf sie schon mal anschreien. Sie ist ja in diesem Frühstadium ihrer Domestizierung noch sehr ungehobelt.

Etwas unerklärlich ist der durchgängig gemachte Aussprachefehler aller Sprecher: Sie sprechen Orchard Slope stets mit K statt Tsch aus, also [orkad] statt [ortschad]. „Orchard“ bedeutet Obstgarten.

|Geräusche|

Die Geräusche im Hintergrund sorgen für die Illusion einer zeitgenössischen Kulisse für das Jahr 1876, doch sind sie so sparsam und gezielt eingesetzt, dass sie einerseits den Dialog nicht beeinträchtigen, andererseits den Hörer nicht durch ein Übermaß verwirren. Wenn gleichzeitig die Vögel sängen, die Brandung rauschte UND noch eine Kutsche ratterte, würde das als etwas zu viel des Guten empfunden werden. Deshalb erklingen Geräusche in der Regel stets nacheinander. Hinzu kommt ja noch die Musik.

|Musik|

Die Musik ist ebenfalls ziemlich romantisch, voller Streichinstrumente, Harfen und Pianos. Das Klavier wird meist für melancholische Passagen eingesetzt, und diese sind ebenso wichtig wie die heiteren. Der kontrastreiche Wechsel zwischen Heiterkeit, Drama und Melancholie sorgt für die emotionale Faszination beim Zuhörer. Die Musik steuert die Emotionen und untermalt die wichtigsten Szenen, kommt aber nicht ständig im Hintergrund vor. Ebenso wie mit den Geräuschen darf man es nicht übertreiben.

An Anfang und Schluss erklingt als Intro und Outro die Erkennungsmelodie der Serie: In einem flotten Upbeat-Tempo lassen Streicher, Holzbläser und ein Glockenspiel Romantik, Heiterkeit und Humor anklingen. Alle diese Elemente sind wichtige Faktoren für den Erfolg des Buches gewesen. Warum sollten sie also ausgerechnet im Hörspiel fehlen?

_Unterm Strich_

Das Hörspiel hat mir wider Erwarten Spaß gemacht. Ich dachte, das würde so eine romantische Schmonzette à la „Hanni und Nanni“ oder sogar „Heidi“ sein, aber die Umsetzung lässt nicht nur eine Menge Humor und ernste menschliche Probleme durchblicken, wie man sie in jedem alten Jugendroman findet, sondern legt auch einen Sinn für die ernsten wirtschaftlichen Hintergründe an den Tag.

Allerdings beschritt die Autorin den idealistischen Weg, um die gravierenden gesellschaftlichen Probleme der viktorianischen Epoche zu lösen: Statt wirtschaftlicher und politischer Reformen setzt sie auf die uramerikanische Tugend der Selbstverbesserung, ermöglicht durch Liebe, Bildung und Verantwortungsgefühl. Der Hörer darf sich auf das Aufblühen der Heldin freuen. Ihre Abenteuer sind stets leicht zu verstehen, dienen aber immer wieder der Bewältigung von mehr oder weniger ernsten Schwierigkeiten, auf die Anne Shirley stößt.

Besonderes Vergnügen bereitet auch die akustische Umsetzung des Buches. Hörbaren Spaß haben die Sprecher an ihren Rollen, und insbesondere die Hauptfigur ist von Marie Bierstedt ausgezeichnet gestaltet. Sie schluchzt, lacht, schmollt, flüstert und quasselt, das man sich wundern muss, woher diese Vielseitigkeit stammt. In den Spider-Man-Filmen ist Kirsten Dunst nie so vielseitig. Bierstedts Anne muss sich nicht nur durch Höhen und Tiefen des Herzens lavieren, sondern auch noch weiterentwickeln. Diese Entwicklung ist nun zwar in Folge zwei viel deutlicher zu bemerken, aber da kommt noch einiges auf den treuen Hörer zu.

|Originaltitel: Anne of Green Gables, 1908
66 Minuten auf 1 CD
ISBN: 978-3-7857-3457-5|

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