Montgomery, L. M. – Anne auf Green Gables. Folge 3: Jede Menge Missgeschicke

_Grüne Haare und andere Verbrechen_

Kanada Ende des 19. Jahrhunderts. Das ältere Geschwisterpaar Marilla und Matthew Cuthbert hat sich entschlossen, einen Waisenjungen aufzunehmen, der Matthew bei der Arbeit auf der Farm unterstützen soll. Versehentlich schickt das Waisenhaus jedoch ein Mädchen nach Prince Edward Island – die quicklebendige und sehr mitteilsame Anne Shirley. Als Anne Green Gables, das schöne Farmhaus der Cuthberts, erblickt, ist sie sich sicher, dass dies der Platz ist, an dem sie für immer bleiben möchte… (Verlagsinfo)

Folge 2: Mittlerweile hat sich Anne gut eingelebt. Sie erwartet aufgeregt den ersten Besuch auf der Nachbarfarm Orchard Slope, wo die Familie Barry mit ihren Töchtern lebt. Anne hofft, dass die gleichaltrige Diana die von ihr ersehnte „verwandte Seele“ sein wird, die erste leibhaftige beste Freundin. Allerdings ist Mrs. Barry eine sehr strenge Frau, die ihre Töchter nicht mit jedem spielen lässt…

Folge 3: Annes Leben auf Green Gables geht turbulent weiter. Der mit Spannung erwartete erste Besuch eines Balls mit ihrer Busenfreundin Diana endet in einer Katstrophe. Dianas griesgrämige Tante Josephine ist nämlich überraschend zu Besuch gekommen und die beiden übermütigen Mädchen erregen versehentlich ihren Zorn. Wird es Ann auch diesmal gelingen, die Wogen zu glätten?

Pünktlich zum 100-jährigen Jubiläum gibt es die Abenteuer des Waisenmädchens Anne Shirley als Hörspiel-Serie, geeignet für die ganze Familie.

_Die Autorin_

Lucy Maud Montgomery (1874-1942) war eine kanadische Schriftstellerin, die besonders ihre Jugendbücher um Anne Shirley bekannt wurde: „Anne of Green Gables“ und sechs Fortsetzungen.

Das Manuskript wurde zunächst von mehreren Verlagen abgelehnt, bevor es Montgomery gelang, es zu platzieren. 1908 war sie bereits 34 Jahre alt. Das Buch wurde zu einem Theaterstück verarbeitet, mehrmals verfilmt und in mehr als 40 Sprachen übersetzt.

Die erste Staffel: Anne auf Green Gables

Folge 1: [Die Ankunft 4827
Folge 2: [Verwandte Seelen 4852
Folge 3: Jede Menge Missgeschicke
Folge 4: Ein Abschied und ein Anfang

Die 2. Staffel: Anne auf Avonlea (ab Herbst 2008)
Folgen 5 bis 8

Die 3. Staffel: Anne in Kingsport (Frühjahr 2009)
Folgen 9 bis 12

_Die Inszenierung:_

|Die Rollen und ihre Sprecher:|

Erzähler: Lutz Mackensy (Rowan Atkinson, Christopher Lloyd, Al Pacino)
Anne Shirley: Marie Bierstedt (Kirsten Dunst, Kate Beckinsale)
Marilla Cuthbert: Dagmar von Kurmin (Bühnenschauspielerin, Hörspiel-Regisseurin für Europa, Stammsprecherin für |Titania Medien|)
Matthew Cuthbert: Jochen Schröder (James Cromwell, Lionel ‚Max‘ Stander, Lloyd Bridges)
Rachel Lynde: Regina Lemnitz (Whoopi Goldberg, Kathy Bates, Diane Keaton)
Diana Barry: Uschi Hugo (Brittany Murphy, Tara Reid, Julie ‚Darla‘ Benz)
Gilbert Blythe: Simon Jäger (Josh Hartnett, Heath Ledger, Matt Damon)
Tante Josephine: Barbara Adolph (Rosemary ‚Tante May Parker‘ Harris)
Muriel Stacy: Rita Engelmann (Catherine Deneuve, Gates ‚Dr. Crusher‘ McFadden)
Mrs. Allan: Traudel Haas (Diane Keaton, Kathleen Turner)
Mr. Allan: Uwe Büschken (Matthew Broderick, Hugh Grant)
Josie Pye: Anja Stadlober (Samaire Armstrong, Paris Hilton)
Ruby Gillis: Melanie Hinze (Holly Marie Combs, Busy Philipps)
Jane Andrews: Cathlen Gawlich (Jaime King, Amy ‚Fred‘ Acker)
Miss Blair: Dascha Lehmann (Katie Holmes, Jennifer Love Hewitt, Keira Knightley)
Mr. Barry: Roland Hemmo (Brendan Gleeson, Brian Cox, James Gandolfini, Colm Meaney)

Regie und Aufnahmeleitung lagen in den Händen von Stephan Bosenius und Marc Gruppe, der auch das „Drehbuch“ schrieb. Die Tontechnik betreuten Martin Wittstock und Kazuya. Die Illustration stammt von Firuz Askin.

_Handlung_

Februar 1877, bald wird Anne Shirley zwölf Jahre alt. Diana, ihre Busenfreundin, hat sie zu ihrem eigenen Geburtstag eingeladen – und zu einem Ball! Ob Anne auf den Ball darf, ist ein Gegenstand des Streits zwischen ihren Pflegeeltern Matthew (pro) und Marilla Cuthbert (contra). Der Geburtstag jedenfalls wird wunderbar, bis auf den Gedichtvortrag des ekligen Gilbert Blythe, Annes Intimfeind.

Um 23 Uhr wollen die erschöpften Mädels endlich ins Bett, und sie lassen sich hineinfallen. Doch o je! Da liegt ja schon jemand drin, und es ist keine andere als ausgerechnet Dianas Tante Josephine! Sie ist alt und sehr entrüstet. Na, das gibt garantiert ein Donnerwetter. Sie streicht das Geld für die Klavierstunden der beiden Mädchen. Nur wenn Anne sie in Charlottestown besuchen würde, könne sie sich erweichen lassen. Anne strengt sich an, und es gelingt ihr, sich mit Tante Josephine zu versöhnen.

Das Schuljahr endet Ende Juni mit dem Abschied von Lehrer Phillips. An der Sonntagsschule soll der neue Pfarrer Allan lehren, der mit seiner Frau bei Rachel Lynde logiert, bis er ein Haus gefunden hat. Weil er also gerade in der Nähe ist, lädt Marilla das neue Paar ein. Anne, die zurzeit unter einem Schnupfen leidet, hat eine Schichttorte gebacken, die nun serviert wird. Doch sie schmeckt ein wenig seltsam. Kein Wunder, denn Anne hat das Vanillearoma mit den Rheumatropfen verwechselt …

Mr. Phillips‘ Nachfolger an der Alltagsschule wird jedoch Miss Muriel Stacy. Diese überrascht die Schüler mit neuen Ideen: Sie will Gymnastik und Naturkunde als Fächer einführen – wow! Und dann auch noch Theater und Gedichte, Annes Lieblingsthemen! Kein Wunder, dass sich Anne nun sogar in Geometrie verbessert. Sie wird gebeten, auf der Weihnachtsfeier zwei Gedichte vorzutragen, damit von den Spenden eine neue Schulfahne gekauft werden kann.

Zu diesem besonderen Tag will Matthew seinem Schützling ein neues Kleid kaufen, doch alle seine Versuche scheitern an seiner Schüchternheit. Also näht Rachel Lynde liebenswürdigerweise ein neues: hellblau und aus Seide, sogar mit Annes geliebten Puffärmeln. Und Tante Josephine schenkt ihr Seidensandalen. Kein Wunder also, dass Annes Vortrag von Lord Alfred Tennysons „The Lady of Shalott“ ein voller Erfolg wird. Gilbert Blythe versteigt sich sogar zu der Äußerung, sie könnte Schauspielerin werden. Doch auch diese Freundlichkeit kann Annes Herz für ihn nicht erweichen.

Im März feiert Anne ihren 13. Geburtstag und gründet mit Diana einen Geschichtenklub. Eines Abends findet Marilla sie jedoch im Bett liegend, verzweifelt jammernd, dass sie Einsiedlerin werden will. Anne hat GRÜNE Haare! Sie hat ihre Farbe ändern wollen und sich ein Mittel von einem Hausierer gekauft. Das Mittel lässt sich nicht auswaschen. Marilla schüttelt den Kopf und meint nur: Da gibt’s nur eines: Die Haare müssen ab. O je, das wird einen Skandal geben!

Aber es soll noch schlimmer kommen …

_Mein Eindruck_

Auch Folge drei ist für Anne Shirley wieder eine wilde Achterbahnfahrt aus Erfolgen und Unglücken. Zwar begeht sie diesmal keine „Verbrechen“ mehr, aber es finden sich doch noch Fettnäpfchen, in die sie treten, und Kalamitäten, die sie erleiden muss.

Der eine oder andere heutige Hörer könnte sich allerdings fragen, warum es schlimmer sein soll, kurze Haare zu tragen als grüne (was ja schon schlimm genug wäre). Auch dies ist wieder eine geschlechtsspezifische Sache. Kurze Haare waren den Männern vorbehalten, und wenn eine Frau kurze Haare tragen musste, dann wurde sie damit als Verbrecherin gebrandmarkt. Kein schönes Schicksal, wenn man bedenkt, dass freie mittellose Frauen entweder im Arbeitshaus (= Ausbeutung der Arbeit) oder auf der Straße (= sexuelle Ausbeutung) landeten. Erst in den 1920er Jahren erkühnten sich junge Frauen, kurze Haare zu tragen, weil sie als besonders emanzipiert und gleichberechtigt angesehen werden wollten. Das wagten aber nur die Künstler und Intellektuellen.

Erst grüne, dann kurze Haare – kann es für Anne Shirley noch schlimmer kommen? Es kann! Anne wird für tot gehalten … Mehr darf aber nicht verraten werden, um die Spannung nicht zu zerstören.

Der Höhepunkt an Erfolg in dieser Folge ist sicherlich Annes Auftritt mit dem Gedichtvortrag. „The Lady of Shalott“ ist ein schmachtend romantischer Klassiker von Tennyson. Im Umfeld der arthurischen Dichtung „Idylls of the King“ angesiedelt, schildert das Gedicht, wie besagte Lady sich – vermutlich im Liebeskummer – in ihr Boot legt, um sodann den Fluss hinunterzutreiben. Wird irgendein strahlender Ritter zu ihrer Hilfe und Rettung eilen? Ach und Weh, es soll nicht sein! So vergehen Liebe und Schönheit – und das stellten sich die Viktorianer als das edelste Motiv für hohe Dichtkunst vor. Na ja, Schwamm drüber! Hauptsache, Annes Vortrag ist ein voller Erfolg.

„Das schöne Geschlecht“ wurden Frauen genannt, aber auch „das schwächere Gefäß“ (im Gegensatz zum Mann), und „der Efeu an der Eiche“ (Efeu = Treue und Zierde, Eiche = Halt und Stärke) und was nicht alles mehr, um ihre Schwäche und Abhängigkeit zu betonen. Um ihr Gedicht vortragen zu dürfen, muss sie sich auch dem hohen Anlass gemäß ankleiden, denn schließlich geht erstens um Kunst und zweitens um einen öffentlichen Auftritt. Seide ist für sie gerade gut genug, ebenso Puffärmel und Halsketten von Tante Josephine. Welcher Mann würde eine solche junge Dame nicht schön finden und begehren? An dieser Stelle dürften einige junge Damenherzen höher schlagen.

Diese Pseudo-Romantik weiß die Autorin aber wenig später mit komischen Zwischenfällen zu konterkarieren und so dem Spott preiszugeben. Da ist zum einen die Sache mit den grünen Haaren, und zum zweiten „ertrinkt“ Anne, als sie „The Lady of Shalott“ mit ihrem Geschichtenklub aufführt – natürlich in einem Boot auf einem See, ganz wie es sich gehört.

Dumm nur, dass die Vision des Gedichts der profanen Wirklichkeit in keiner Hinsicht standhalten kann. Es kommt nur Komik dabei heraus, wenn beide aufeinandertreffen. Damit signalisiert die Autorin, wie überholt diese schwärmerische Romantik ist. Und sie lässt es Marilla in Worte fassen: Romantik ist ja schön und gut, aber bitte nur in Maßen.

_Die Inszenierung_

|Die Sprecher|

Die Hauptrolle der Anne Shirley wird von Marie Bierstedt, der deutschen Stimme von Kirsten Dunst und vielen anderen jungen Schauspielerinnen, mit Enthusiasmus und Einfühlungsvermögen gesprochen. Obwohl Bierstedt wesentlich älter ist als die elfjährige Heldin, klingt ihre Stimme doch ziemlich kindlich. Später, sobald Anne älter ist, darf sie auch ein wenig langsamer und überlegter sprechen.

In Episode eins überschlägt sich Annes Wortflut geradezu. Das fand ich sehr sympathisch und charmant. Den Cuthberts, so ist anzunehmen, muss es wohl ähnlich ergangen sein. Dagmar von Kurmin und Jochen Schröder klingen sehr sympathisch und ihrem fiktiven Alter entsprechend.

Sehr passend fand ich die Stimme der Nachbarin Rachel Lynde, gesprochen von Regina Lemnitz, der Stimmbandvertretung von Whoopi Goldberg. Wenn Rachel und Anne aufeinandertreffen, fliegen die Fetzen, und Anne darf sie schon mal anschreien. Sie ist ja in diesem Frühstadium ihrer Domestizierung noch sehr ungehobelt. Weitere tragende Rollen gibt es nur wenige.

|Geräusche|

Die Geräusche im Hintergrund sorgen für die Illusion einer zeitgenössischen Kulisse für das Jahr 1876, doch sind sie so sparsam und gezielt eingesetzt, dass sie einerseits den Dialog nicht beeinträchtigen, andererseits den Hörer nicht durch ein Übermaß verwirren. Wenn gleichzeitig die Vögel sängen, die Brandung rauschte |und| noch eine Kutsche ratterte, würde das als etwas zu viel des Guten empfunden werden. Deshalb erklingen Geräusche in der Regel stets nacheinander. Hinzukommt ja noch die Musik.

|Musik|

Die Musik ist ebenfalls ziemlich romantisch, voller Streichinstrumente, Harfen und Pianos. Das Klavier wird meist für melancholische Passagen eingesetzt, und diese sind ebenso wichtig wie die heiteren. Der kontrastreiche Wechsel zwischen Heiterkeit, Drama und Melancholie sorgt für die emotionale Faszination beim Zuhörer. Die Musik steuert die Emotionen und untermalt die wichtigsten Szenen, kommt aber nicht ständig im Hintergrund vor. Ebenso wie mit den Geräuschen darf man es nicht übertreiben.

Am Schluss erklingt als Outro die Erkennungsmelodie der Serie: In einem flotten Upbeat-Tempo lassen Streicher, Holzbläser und ein Glockenspiel Romantik, Heiterkeit und Humor anklingen. Alle diese Elemente sind wichtige Faktoren für den Erfolg des Buches gewesen. Warum sollten sie also ausgerechnet im Hörspiel fehlen?

_Unterm Strich_

Das Hörspiel hat mir auch im dritten Durchgang wider Erwarten Spaß gemacht. Ich dachte vor dem Anhören des ersten Teils, dies würde so eine romantische Schmonzette à la „Hanni und Nanni“ oder sogar „Heidi“ sein, aber die Umsetzung lässt nicht nur eine Menge Humor und ernste menschliche Probleme durchblicken, wie man sie in jedem alten Jugendroman findet, sondern legt auch einen Sinn für die ernsten wirtschaftlichen Hintergründe an den Tag.

Allerdings beschritt die Autorin den idealistischen Weg, um die gravierenden gesellschaftlichen Probleme der viktorianischen Epoche zu lösen: Statt wirtschaftlicher und politischer Reformen setzt sie auf die uramerikanische Tugend der Selbstverbesserung, ermöglicht durch Liebe, Bildung und Verantwortungsgefühl. Der Hörer darf sich auf das Aufblühen der Heldin freuen. Ihre Abenteuer sind stets leicht zu verstehen, dienen aber immer wieder der Bewältigung von mehr oder weniger ernsten Schwierigkeiten, auf die Anne Shirley stößt.

Besonderes Vergnügen bereitet auch die akustische Umsetzung des Buches. Hörbaren Spaß haben die Sprecher an ihren Rollen, und insbesondere die Hauptfigur ist von Marie Bierstedt ausgezeichnet gestaltet. Sie schluchzt, lacht, schmollt, flüstert und quasselt, dass man sich wundern muss, woher diese Vielseitigkeit stammt. In den Spider-Man-Filmen ist Kirsten Dunst nie so vielseitig. Bierstedts Anne muss sich nicht nur durch Höhen und Tiefen des Herzens lavieren, sondern auch noch weiterentwickeln. Diese Entwicklung ist in Folge drei zunehmend deutlich zu bemerken, aber da kommt noch einiges auf den treuen Hörer zu.

Fazit: Da ich mir nichts vorstellen kann, womit sich dieses teils romantische, teils komische Hörspiel verbessern ließe – allenfalls etwas mehr Spannung -, vergebe ich die Bestnote.

|Originaltitel: Anne of Green Gables, 1908
69 Minuten auf 1 CD
ISBN 978-3-7857-3527-5|

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