Moore, Alan / Campbell, Eddie – From Hell

_Apokalypse im Londoner East End_

Herbst 1888, London – Whitechapel. Eine Stadt hält den Atem an. In den dunklen Gassen des East Ends werden innerhalb weniger Wochen fünf Frauen ermordet – alle auf brutale Weise verstümmelt. Die Polizei tappt im Dunkeln und streitet sich um Zuständigkeiten. Der Täter bleibt bis heute ein Phantom: Jack the Ripper.

Die wahren Hintergründe von Jack the Ripper dürften wohl nie befriedigend aufgeklärt werden. Teilweise, weil die Ripper-Morde einfach schon zu lange zurückliegen, teilweise, weil es damals bei den Ermittlungen einige Schlampereien gab. Es gibt die vielfältigsten Theorien von den unterschiedlichsten Autoren. Nicht wenigen hat dabei der Mythos Jack the Ripper ein bisschen zu sehr die Phantasie beflügelt. Plausible und nachvollziehbare oder gar beweisbare Theorien sind rar.

Als wichtigste Grundlage für „From Hell“ kann vor allem ein Autor genannt werden: Stephen Knight. In seinem Buch „Jack the Ripper – The Final Solution“ gibt er seine Theorie der Ripper-Morde wieder und deckt eine Verschwörung auf, die bis ins englische Königshaus hinaufreicht. Sein Buch ist bis heute umstritten, auch wenn seine Argumentation plausibel klingt. Jack the Ripper bleibt bei allem Enthusiasmus für Knights Werk auch weiterhin ein Phantom …

_Melodrama in Schwarzweiß_

Licht in das Dunkel versuchen Alan Moore und Eddie Campbell mit ihrem Comic-Buch „From Hell“ zu bringen, das häppchenweise erstmals von 1989 bis 1992 in der amerikanischen Comic-Anthologie Taboo erschien. Moore und Campbell lassen den Herbst 1888 auf dem Papier noch einmal aufleben und den Leser durch die Gassen des East Ends wandeln – auf den Spuren von Jack the Ripper. Mit einfachen Schwarzweiß-Zeichnungen, teils nur schemenhaft mit einigen Strichen angedeutet, teils intensiv und düster, wird die Handlung zum Leben erweckt.

Nach einem Prolog beginnt die eigentliche Geschichte mit Hintergründen, die Stephen Knight recherchiert hat. Prince Albert nimmt 1884 Malstunden bei dem Maler Walter Sickert und lernt bei seinen Besuchen Annie Elizabeth Crook kennen, die im Süßwarenladen gegenüber des Ateliers arbeitet. Die beiden beginnen eine Beziehung, aus der ein Kind hervorgeht, und heiraten heimlich, ohne dass Annie wirklich weiß, wen sie da ehelicht. Die Queen erfährt von der Affäre ihres ohnehin schon skandalträchtigen Sohnes und lässt Annie wegschaffen, um zu verhindern, dass die Geschichte publik wird.

Anschließend wird Sir William Gull vorgestellt, der Mann, der auch im weiteren Verlauf des Buches immer wieder im Mittelpunkt steht. Der Leser erhält einen Einblick in Gulls Lebenslauf, angefangen von seiner Kindheit über seinen Aufstieg zum Außerordentlichen königlichen Leibarzt bis hin zu seiner Initiierung bei den Freimaurern.

Jahre später (1888) setzt die Handlung wieder ein und erzählt die Geschichte einer Erpressung. Annie, die mittlerweile Prostituierte im East End ist, schmiedet mit ihren Freundinnen einen Plan, um an Geld zu kommen, damit sie ihre fälligen Schutzgelder an die Old-Nichol-Bande bezahlen können. Sie wollen das Königshaus mit ihrem Wissen um das Kind und die heimliche Heirat von Prince Albert erpressen. Als die Queen davon erfährt, gibt sie Sir Gull den Auftrag, sich um die Angelegenheit zu kümmern – auf seine Art.

Und so begleitet der Leser Gull in den folgenden Kapiteln zusammen mit dem Kutscher Netley auf seinen nächtlichen Touren durch das East End. Sir Gull kümmert sich in der Tat auf seine Art um die Angelegenheit und verbreitet für mehrere Wochen Angst und Schrecken in den dunklen Gassen von Whitechapel. Der Rest ist Geschichte …

_|“Ein abgründiges, 600-seitiges Monster“|_

… mit diesen Worten hat der |Guardian| eine sehr treffende Beschreibung für „From Hell“ geliefert. Atmosphärisch dicht, vor Spannung geradezu knisternd, so werden dem Leser die Geschehnisse von 1888 präsentiert. Es geht dabei weniger um die Frage, wer der Täter war (das weiß der Leser schon sehr früh), sondern mehr um seinen Antrieb. Was kann einen hochangesehenen, intelligenten Mann aus gutem Hause zu so einer unbeschreiblichen Brutalität bringen? Diese Hintergründe versuchen Moore und Campbell zu erleuchten. Das Verbrechen an sich bleibt dabei unfassbar. Die Taten des Rippers werden mit geradezu kriminalistischer Genauigkeit geschildert und in verwirrenden und erschreckend realen Bildern dargestellt.

In Sachen Täter-Theorie stützen sich die beiden Autoren auf unterschiedliche Bücher, am stärksten sind aber die Bezüge zu Stephen Knight, dessen Buch ich vor ein paar Jahren ebenfalls gelesen habe. Das Schöne an „From Hell“ ist, dass die Handlung in Bezug auf die wirklichen damaligen Geschehnisse sehr nachvollziehbar bleibt. Es gibt einen 56 Seiten starken Anhang, in dem zu jeder Seite des Comics Anmerkungen gemacht werden. Man kann daran sehr gut nachvollziehen, auf welche Quellen sich die Handlung stützt und wo aus dramaturgischen Gründen etwas „interpoliert“ wurde. Man merkt dem Buch an, dass viel harte Recherche dahinter steckt und es nicht nur darum geht, eine spannende Geschichte zu erzählen, sondern auch um den Versuch, die tatsächlichen damaligen Geschehnisse nachzuzeichnen.

Das Packende an „From Hell“ bleibt aber die düstere und beklemmende Atmosphäre. Man wird als Leser sofort in den Bann der Geschichte gezogen. Moore versteht sich darauf, eine dichte Atmosphäre aufzubauen, Andeutungen einzustreuen und das Ganze mystisch auszuschmücken. Abgerundet von Campbells intensiven und düsteren Darstellungen, entsteht ein wahres Meisterwerk. Die schwarzweißen Bilder verleihen der Geschichte eine gewisse Tiefe, die das Buch mit Farbbildern wahrscheinlich nicht zu erreichen vermocht hätte. Aus feinen Strichen und wilden Schraffuren entsteht vor dem Auge des Betrachters das Londoner East End am Vorabend des 20. Jahrhunderts.

Moore und Campbell vermögen es, so gut wie alle Facetten der Ripper-Saga auszuleuchten. „From Hell“ ist keine kriminologische Dokumentation, aber auch keine Horror-Geschichte. Vielmehr wird das Buch zu einer Gesellschaftsstudie, zu einem Blick auf die dunkle Seite des viktorianischen Zeitalters. Moore und Campbell wollen zeigen, wie die Gesellschaft sich zu der Zeit gewandelt hat, am Beginn „des Jahrhunderts des Massenmordes“. Die These der Autoren, dass mit den Ripper-Morden im Grunde das 20. Jahrhundert eingeläutet wurde, wird sehr deutlich und überzeugend vermittelt. Sir Gull bildet dabei den zentralen Punkt, um den sich alles dreht. Moore und Campbell erstellen eine Art Psychogramm und leuchten die Person Gulls bis in den letzten Winkel aus.

Dieser Anspruch der Autoren schlägt sich sehr deutlich in dem Werk nieder. „From Hell“ ist alles andere als seichte Unterhaltung. Auch wenn vieles im Anhang erläutert wird, so sind viele Passagen, insbesondere mit Bezügen auf Freimaurertum, philosophische und mystische Sachverhalte nicht gerade leicht verständlich. Es werden einzelne Stränge unterschiedlicher Verschwörungstheorien aufgegriffen und in den Zusammenhang eingeordnet. Verwirrend wirken auch immer wieder die Halluzinationen, die Gull im Laufe der Handlung mehrmals durchlebt, insbesondere während der Morde, die einen fast schon rituellen Charakter annehmen. Wer sich in Sachen Freimaurertum und Verschwörungen gar nicht auskennt, wird sicherlich hier und da Probleme haben, Andeutungen und Symbole zu verstehen. Der unheimlichen und mysteriösen Gesamtstimmung des Buches tut das aber vermutlich keinen Abbruch.

Doch auch ganz banale und offensichtliche Andeutungen würzen immer wieder die Geschichte. Sei es Walter Sickert, der vor Beginn der Morde in einer Unterhaltung mit Marie Jane Kelly (dem letzten Ripper-Opfer) sagt: „1888 scheint ein teuflisches Jahr zu sein“, oder Bilder, die unkommentiert zunächst eine gewisse Zweideutigkeit in sich bergen, z. B. Walter Sickert, der mit einem Messer hantiert oder Sir William Gull, der mit blutigen Händen eine Ratte seziert. Es gibt viel in den Abbildungen und zwischen den Zeilen zu lesen.

Auch viele der Abbildungen sind harter Tobak. Gnadenlos wird das Leben der damaligen Zeit in all seiner Härte dokumentiert. Nichts wird beschönigt, nichts wird aufgebauscht, nichts wirkt verzerrt. Diese Härte in der Darstellung zeigt unvermittelt den brutalen und trostlosen Alltag der Frauen im East End und ist damit sicherlich authentisch. Das Buch hat keine wirklich schöne Szene, selbst wenn es um Liebe und Sex geht. Es erschüttert und stimmt nachdenklich, und gerade wenn man sieht, wie Gull im Wahn seine Opfer mit dem Messer traktiert, möchte man oft am liebsten wegschauen. „From Hell“ ist also nicht unbedingt Lektüre für zartbesaitete Gemüter.

Bleibt unterm Strich ein durchweg positiver Eindruck zurück. „From Hell“ ist ein außergewöhnlich mitreißender und spannender Comic. Gesellschaftsstudie, Mörder-Psychogram und visualisierte Geschichte in einem: Unbedingt empfehlenswert.

|Ein Melodrama in sechzehn Teilen
Ausgezeichnet mit dem Max-und-Moritz-Preis
ISBN-13: 978-3-936068-29-0|

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