Richard Morgan – Skorpion. SF-Thriller

Auf der Erde des 22. Jahrhunderts gerät die politische Lage zunehmend außer Kontrolle. Der Konflikt zwischen den Religionen droht zu einem Weltkrieg zu werden. Da fehlt es gerade noch, dass ein mit gentechnischen Mitteln erschaffener Supersoldat aus dem Gefängnis ausbricht und dem Kopfgeldjäger Carl Marsalis die Aufgabe zufällt, ihn wieder einzufangen. Denn dieser flüchtige Soldat trägt Informationen in sich, die die Zukunft der Menschheit entscheidend verändern werden. (Verlagsinfo)

Handlung

Anfang des 22. Jahrhunderts ist die Welt ein brodelnder Hexenkessel unter enormen Druck. Religiöse Spannungen und kulturelle Konflikte schaffen immer neue Krisenherde, in denen Megakonzerne und kriminelle Kartelle, wobei man diese fast nicht mehr voneinander trennen kann, sich Schlachten mit den schwachen Regierungen liefern. Die Vereinigten Staaten von Amerika gibt es nicht mehr, die Union ist zersplittert in das christlich-fundamentalistische Jesusland und zahlreiche kleinere Staaten. In diese Zeit fällt jedoch auch die beginnende Kolonisierung des Mars, liberalere Staaten beginnen mit Forschungen zur Veränderung des menschlichen Genoms, die neue, spezialisierte Menschenrassen hervorbringen soll.

Drei Varianten erwiesen sich als besonders erfolgreich. Die erste stellen die für die Raumfahrt gezüchteten |Hibernoiden| dar, Menschen die in Wachphasen enorm leistungsfähig und ausdauernd sind und kryogenischen Tiefschlaf besonders gut vertragen, allerdings auch unter planetaren Bedingungen nicht auf regelmäßige Tiefschlafphasen zur Regeneration verzichten können. Die zweite sind die |Bonobos| (benannt nach einer recht friedlichen und sexuell sehr aktiven Schimpansenart), ausschließlich weibliche Wesen, die zierlich, unterwürfig und sexuell hyperaktiv sind, der feuchte Traum des Patriarchats, quasi zur Prostitution gezüchtet.

Die dritte Variante, die sich durchsetzen konnte, ist das unter der Unglücksnummer als |Variante Dreizehn| bekannt gewordene absolute Gegenteil der Bonobos. Um den Supersoldaten und Gesetzeshüter der Zukunft zu schaffen, hoch gewachsen, zäh und gewalttätig und mit natürlicher Autorität versehen, wurde sie als das Epitom der Männlichkeit selbst entwickelt. Doch die aufgerüsteten Alpha-Männchen mit Charakterzügen der Jäger-und-Sammler-Zeit passen nicht in diese Welt, und noch viel weniger lassen sie sich kontrollieren, dazu sind sie viel zu egoistisch und eigensinnig.

Im Jahr 2091 wird nach dem so genannten Jacobsen-Report die Schaffung weiterer Varianten gesetzlich streng reglementiert, alle bisherigen werden als Fehlschlag eingestuft. Bei Variante Dreizehn geht man noch einen Schritt weiter: Sie werden als Gefährdung des Staats und der Öffentlichkeit klassifiziert und lebenslänglich zwangsinterniert, wogegen die Dreizehner rebellieren. Viele versuchen in entlegenen Gebieten der Erde unterzutauchen, einige auf der gerade terraformten Marskolonie, die ein hartes, aber freies Leben ermöglicht.

Einige wenige arbeiten für Konzerne, die sich ihre besonderen Fähigkeiten nützlich machen und ihnen Ausnahmelizenzen erteilen. So auch Carl Marsalis, der als Kopfgeldjäger für |COLIN| (|COL|onial |IN|itiative) vom Mars zurückgekehrt ist, um auf der Erde perfiderweise andere seiner Art zu jagen.

Der Absturz eines vom Mars heimkehrenden COLIN-Raumschiffs beschert Carl einen besonders heiklen Fall: Der Absturz wurde bewusst inszeniert. Ein Besatzungsmitglied ist zu früh aufgewacht und hat sich während des monatelangen Rücksturzes zur Erde kannibalisch von den Körperteilen der anderen ernährt. Der öffentliche Zorn kocht über, als man den Täter anhand von Spuren als Dreizehner identifizieren kann. Gemeinsam mit der Polizistin Sevgi Ertekin macht sich Marsalis auf die Spur des Täters, der scheinbar wahllos unter neuer Identität lebende Personen tötet. Carl vermutet einen Zusammenhang und macht sich auf die Jagd auf den Dreizehner und seine Hintermänner.

Der Autor

Richard K. Morgan wurde 1965 in Norwich geboren. Er studierte Englisch und Geschichte in Cambridge und arbeitete danach mehrere Jahre als Englischlehrer im Ausland. Nachdem seinem Roman [„Das Unsterblichkeitsprogramm“ 464 2002 internationaler Erfolg beschieden war – unter anderem wurde er mit dem |Philip K. Dick Award| prämiert -, arbeitet er professionell als freier Schriftsteller.

Variante Marsalis

Gemessen an seinem „Kollegen“ und Vorgänger Takeshi Kovacs aus dem „Unsterblichkeitsprogramm“ ist Carl Marsalis leider nur ein unterbelichtetes Abziehbild desselben. Beide stellen harte Typen in einer durchgehend düsteren und egoistischen Zukunft dar, in der Ausbeutung an der Tagesordnung ist. Eine Dystopie, die bei Morgan bereits zum Grundschema gehört. Ich möchte hierzu Morgan aus einem ursprünglich im Jahr 2002 bei SlateMagazine.co.uk veröffentlichten Interview (die Seite ist leider nicht mehr online, das komplette Interview kann man dennoch hier http://www.saxonbullock.com/richardmorganinterview.htm auf Saxonbullock.com lesen) zitieren:

„Society is, always has been and always will be, a structure for the exploitation and oppression of the majority through systems of political force dictated by an élite, enforced by thugs, uniformed or not, and upheld by a willful ignorance and stupidity on the part of the very majority whom the system oppresses.“

Doch während Kovacs sich in drei Romanen weiterentwickelte, entwickelt Marsalis nicht einmal eine eigene Persönlichkeit. Er ist recht lieblos aus Versatzstücken von Kovacs entwickelt und predigt anstelle einer persönlichen Sicht der Dinge à la Kovacs recht dozierend die Ideologie herunter, die in Morgans 22. Jahrhundert Programm geworden ist: Der Mensch ist Sklave seiner Gene.

Die Rahmenhandlung um den mordenden kannibalischen Dreizehner, der ein wenig an einen Blade-Runner-Verschnitt erinnert, gemischt mit ein bisschen Hannibal Lecter, dient nur als Vehikel, um eine recht einseitige und Morgans bewusst überspitzte Sichtweise der Dinge in die Köpfe der Leser zu hämmern. Zuerst hielt ich dies für bewusste Provokation, die den Leser zur Reflexion anregen soll. Leider entfernt er sich hier von den hohen Maßstäben, die Dick und zahlreiche andere Autoren gesetzt haben. Denn Morgan vereinfacht und doziert viel zu sehr, legt allen Charakteren mehr oder minder dieselbe Sicht der Dinge in den Mund, anstatt diese elegant aus der Handlung zu entwickeln, die Morgan-typisch actionreich und brutal ist, diesmal jedoch leider fast schon aus Gewohnheit und zum reinen Selbstzweck.

Die katholische Kirche und der christliche Glaube waren Morgan schon in den Vorgängern ein Gräuel, und mit „Jesusland“ charakterisiert er sie auch in diesem Roman negativ. Das Vorwort von „Skorpion“ ist Morgans verstorbener Mutter Margaret gewidmet und zeigt den in meinen Augen unbekömmlich überzogenen Eifer, mit dem Morgan selbst in diesem Roman geradezu predigt, was er vorher nicht getan hat:

„Diese Buch widme ich der Erinnerung an meine Mutter MARGARET ANN MORGAN[,] die mich rigoros den Hass auf jegliche Bigotterie, Grausamkeit und Ungerechtigkeit lehrte und mir darüber hinaus beibrachte, alles Scheinheilige zu verachten, das wegschaut oder sich mit Ausreden tröstet, wenn jene Übel uns näher auf die Pelle rücken, als uns lieb ist. Ich vermisse dich!“

An die Stelle von Reflexion über überspitzte Sachverhalte rückt hier Indoktrination, die leider genauso einseitig daherkommt. Morgan diskutiert die Frage, inwieweit menschliches Sozialverhalten durch genetische Prädisposition bestimmt ist, nicht, er geht davon aus, dass dem so ist. Demzufolge verhalten sich und denken alle Charaktere auch in diesen Stereotypen. Sevgi Ertekin kann einem Dreizehner einfach nicht widerstehen, sie muss mit diesem Ausbund an männlich konnotierten Attributen einfach ins Bett. Carl wusste, dass er sich bei einem Informationsaustausch mit einem anderen Dreizehner prügeln würde, und der andere Dreizehner wusste es auch – denn sie wissen, sie können einfach nicht anders. Gelegentlich kann Carl sich dann paradoxerweise trotzdem beherrschen. Dieser Konflikt wird von der Polizistin Rovayo thematisiert, die Carl auf S. 522 darauf anspricht:

„Du weißt, wie es sich anfühlt, Marsalis? Überprüfst beständig deine Handlungen an irgendeiner Theorie, wie du dich eigentlich verhalten solltest? Fragst dich jeden Tag bei der Arbeit, jedes Mal, wenn du einen Kompromiss eingehst, jedes Mal, wenn du einen männlichen Kollegen unterstützt, jedes mal fragst du dich, ob da dein Gencode spricht?“

Weiter und tiefer gehend wird darauf jedoch nie eingegangen. Als Grundlage des Romans diente Morgan laut eigener Aussage ein Buch von Steven Pinker, einem Psychologieprofessor des Massachusetts Institute of Technology (MIT), |The Blank Slate: The Modern Denial of Human Nature|. Pinker verwirft die Annahme der Tabula Rasa, dem völlig unbeeinflussten Bewusstsein, sondern gibt dem Einfluss der Gene und der Evolution mehr Bedeutung für das menschliche Verhalten. Er steht damit im Gegensatz zu Judith Butler, die Gender/Geschlechter bzw. Geschlechterrollen und -verständnis fast vollständig als gesellschaftliches Konstrukt ansieht. Doch selbst Pinker misst sozialen Einflüssen größere Bedeutung als Morgan bei, der den Menschen zum Sklaven seiner Gene und der Evolution erklärt.

Die Gesellschaft in „Skorpion“ wird von ihren Vertretern selbst als Produkt einer Evolution angesehen, die eine „feminisierte“ Gesellschaft hervorgebracht hat, aus ansässigen Ackerbauern, in der die aggressiven Selbstbehauptungstriebe der Dreizehner, dem ursprünglichen Jäger-und-Sammler-Typus, fehl am Platze sind. Die von den Dreizehnern als „Wiederkäuer“ bezeichneten Normalos richten ihren Hass und ihre Furcht auf sie und rotten sie gezielt aus. Jeff Norton beschreibt dies auf den Seiten 145-146 wie folgt:

„Tom, die Dreizehner sind die einzige genetische Variante, die Jacobsen für gefährlich genug hielt, ihr die grundlegenden Menschenrechte abzusprechen. Es gibt einen Grund, weshalb diese Burschen eingesperrt oder auf den Mars verbannt sind. Es gibt einen Grund, warum sie sich nicht fortpflanzen dürfen. Du redest von einem Menschentypus, den dieser Planet seit zwanzigtausend Jahren nicht mehr gesehen hat. Sie sind von Grund auf paranoid und psychotisch, von Kindesbeinen an zusammengeschweißt durch militärische Konditionierung und nicht viel mehr. Sehr gerissen, sehr zäh und nicht interessiert an etwas anderem als daran, was sie haben wollen, ungeachtet des Schadens oder der Kosten.“ […]

„Amerika hat sich über einer Vision dessen gespalten, was Stärke ist. Männliche Kraft versus weiblichem Verhandlungsgeschick. Macht gegen Wissen, Dominanz gegen Toleranz, Einfachheit gegen Komplexität. Glaube, Flagge, und patriotische Lieder gegen die Neue Mathematik, die, seien wir mal ehrlich, niemand außer den Quantenspezialisten wirklich versteht. Kooperationstheorie und die neue internationale Ordnung. Und bis zum Projekt Gesetzeshüter zeigt jeder Faktor auf dem Tisch auf eine Zukunft, die so feminisiert ist, dass sie schlichtweg un-amerikanisch ist.“

Zur Übersetzung

Die Übersetzungsarbeit erledigte diesmal Alfons Winkelmann, nach Karsten Singelmann und Bernhard Kempen, der alle Kovacs-Romane übersetzte, der dritte Morgan-Übersetzer. An der Qualität der Übersetzung gibt es jedoch nichts auszusetzen; er hat den schnörkellosen und direkten Stil Morgans gut eingefangen und übersetzt, mir fielen keine Unterschiede zu Bernhard Kempen auf.

Fazit

Morgan bleibt seiner Vorliebe für düstere Dystopien treu, diesmal jedoch mutiert er zum nervenden Prediger. Anstatt aufzuzeigen und erleben zu lassen, lässt er seine Charaktere unpassend philosophieren und dozieren. Dabei kratzt er viele Klischees nur an der Oberfläche, der Rassenkonflikt zwischen Schwarzen und Weißen sowie islamischer Kultur und westlicher Welt wird neben dem beherrschenden extrem einseitig übersteigert betrachteten Thema der Macht der Gene auf das Bewusstsein zwar angesprochen, aber nur ganz am Rande zusätzlich noch in den Brei gemischt. Genauso die Hibernoiden und Bonobos oder der Mars, wobei zumindest die zu reinen Sexmaschinen degradierten und ziemlich fies nach den gleichnamigen Schimpansen benannten Bonobos etwas mehr Aufmerksamkeit verdient hätten.

Die Rahmenhandlung verkommt zur Bedeutungslosigkeit aus sinnentleerter Gewalt und Sex. Was ist aus Morgan geworden? Mit seinen früheren Werken um Takeshi Kovacs hat „Skorpion“ nicht mehr viel gemein, nach der langen Pause, in der Morgan nach eigenen Angaben den Tod seiner Mutter verarbeitete, hatte ich mehr erwartet.

Ein unterdurchschnittlicher Thriller, gemischt mit einem seichten Diskurs über „Gender, Gene & Evolution“ ist dabei herausgekommen, dem es an Zwischentönen fehlt. Knallhart auftrumpfende Brutalo-Action und austauschbare Charaktere, aus denen Morgan seine Erkenntnisse predigen lässt, sind für mich leider eher abstoßend als anregend.

Ich möchte entweder Steven Pinker oder ähnliche Bücher zu dieser Thematik lesen oder einen Actionthriller oder idealerweise einen Roman, der beides intelligent verbindet. „Skorpion“ ist davon leider rein gar nichts gelungen und für mich eine herbe Enttäuschung.

Taschenbuch: 832 Seiten
Originaltitel: Black Man
Übersetzt von Alfons Winkelmann.
ISBN-13: 9783453523562

www.heyne.de

Der Autor vergibt: (3.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

_Richard Morgan auf |Buchwurm.info|:_

[„Das Unsterblichkeitsprogramm“ 464
[„Gefallene Engel“ 1509
[„Heiliger Zorn“ 2127
[„Profit“ 1661

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