Morrell, David – Creepers

_Action hoch zwei: Schatzsucher in der Todesfalle_

Asbury Park, New Jersey: In einer kalten Oktobernacht dringt eine Gruppe von fünf Abenteurern – sie selbst nennen sich Kulturarchäologen – in ein ehemaliges Luxushotel dieses fast ausgestorbenen Seebads ein. In dem halb verfallenen Gebäude ist die Vergangenheit unerwartet lebendig – und fordert von ihnen einen hohen Preis. Denn das Paragon Hotel hat immer noch Gäste. Die Nacht verwandelt sich in einen Albtraum, aus dem es für einige der fünf kein Entrinnen gibt …

_Der Autor_

Der Amerikaner David Morrell schreibt schon seit den siebziger Jahren Bestseller. Gleich sein Debütroman „First Blood“, in dem er die Figur des Vietnamveteranen John Rambo erfand, wurde mit Riesenerfolg verfilmt. Daher gilt der promovierte Literaturwissenschaftler Morrell inzwischen als Vater des Actionthrillers.

_Der Sprecher_

Stefan Kaminski wurde 1974 in Dresden geboren. Sein Schauspielstudium absolvierte er an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Seit 1996 ist er beim SFB/ORB als freier Schauspieler, Sprecher und Autor tätig. Am Deutschen Theater in Berlin spielte er zunächst als Gast, seit Januar 2003 gehört er fest zum Ensemble. Im |Hörverlag| ist er vor allem als Stimme von „Marvi Hämmer“ bekannt. Zuletzt vertonte er dort [„Septimus Heap“ 2469 auf beeindruckende Weise.

Die gekürzte Lesefassung erstellte Frank Bruder, der auch Regie führte. Die Aufnahme erfolgte im Berliner Studio „der apparat multimedia“.

_Handlung_

Statt in Kapitel sind die Abschnitte der Geschichte in Stunden eingeteilt. Um 21:00 trifft Frank Bellinger in dem abseits gelegenen Motel ein. Es ist der 24. Oktober 2005. Bellinger gibt sich als Journalist aus, als ihn Professor Robert Conklin einlässt und den anderen vorstellt. Das sind die rothaarige Cora und der muskulöse Rick Magell, ein Ehepaar, sowie Vincent Minelli, genannt Vinnie. Sie alle kennen sich von der Uni Buffalo, an der der Prof Literatur lehrt. Sie nennen sich Creepers, Infiltratoren.

Der Prof zieht es vor, sich als Großstadt-Paläontologen zu bezeichnen. Er riskiert heute Nacht zwar seine Karriere, aber er will Bellingers Artikel über sein Unternehmen in der Zeitung sehen. Jemand sollte den Amerikanern das Gedächtnis für ihre schwindende Kultur wiedergeben. Alles wird abgerissen, um schon wenige Jahre später durch etwas Neues ersetzt zu werden. Man nehme nur ihr heutiges Ziel: Das Paragon Hotel, 1901als Luxushotel in dem Seebad Asbury Park, New Jersey, errichtet, ist seit über 30 Jahren dem Verfall preisgegeben und soll nächste Woche abgerissen werden. Wahrscheinlich, um einen Supermarkt darauf zu errichten. Dabei steht in der Nähe sogar ein zehnstöckiges Wohnhaus leer.

Bellinger pfeift drauf, denn er hat anderes vor, aber das behält er für sich, und natürlich ist er kein Journalist. Um 22:00 Uhr geht’s los. Sie haben Ausrüstung dabei, die einem Team Höhlenforscher oder Bergsteiger alle Ehre gemacht hätte. Der Prof folgt einem Bauplan und lotst seine Gruppe durch die Entwässerungstunnel des in Strandnähe stehenden Hotels. Über ihnen ragt es wie eine Maya-Pyramide empor: Es sind sieben Stufen bis zur Spitze, wo das Penthouse sitzt. Eine verrückte Architektur, die sich nur ein Exzentriker wie Morgan Carlyle einfallen lassen konnte. Weil er ein Bluter war, traute er sich nie heraus und ließ sogar alle Fenster und Türen mit Läden aus stabilem Metall von innen versperren – daher der Umweg über den Tunnel. Es gibt keinen anderen Zugang.

Was die Studenten des Profs nicht wissen: Sowohl der Prof als auch Bellinger haben ihre geheimen Ziele. Wie er ihnen auf dem Weg verrät, sucht er nach dem Goldschatz eines Mafioso namens Carmine Danatta, der in den späten 20er und den 30er Jahren hier in einer exklusiven Suite wohnte. Er wurde 1940 erschossen und muss einen Berg von seltenen Goldmünzen hinterlassen haben. Aber keiner weiß, wo sich der Tresorraum dafür befindet. Höchstens Carlyle wusste es, doch der erschoss sich schon 1971 – seltsamerweise draußen auf dem Strand.

Mutierte Katzen und Ratten scheinen die einzigen Bewohner dieses verrotteten Kastens zu sein. In der feuchten Dunkelheit durchsuchen die Forscher einige Zimmer. Die morschen Dielenbretter geben plötzlich nach und Vinnie stürzt um ein Haar in die Tiefe. Sie können gerade noch retten. Da hören sie Stimmen, die ihnen gefolgt sind: drei junge Einbrecher. Und sie können mit ihren Nachtsichtbrillen sehr gut im Dunkeln sehen. Die Kerle wollen genau das, was auch der Professor will: das Gold der Mafia. Wie ernst es ihnen ist, demonstrieren Todd, Mac und J.D. sogleich an Rick …

Allerdings rechnet keiner in dieser illustren Gesellschaft damit, dass es noch zwei Bewohner des alten Kastens gibt. Der Herr des Hauses kennt sich hervorragend mit den Geheimgängen, Falltüren und Gucklöchern in den Zwischenwänden aus. (Wer weiß, was Carlyle alles in seinen vier Wänden beobachtet hat.) Der Herr des Hauses hat nicht vor, irgendjemanden entkommen zu lassen. Niemand darf von seinem Geheimnis erfahren. Und auf genau dieses Geheimnis hat es Frank Bellinger abgesehen.

_Mein Eindruck_

„Creepers“ ist wieder mal ein makelloser, perfekt gebauter Actionthriller vom Meister himself. Die Action beginnt nach einem langsamen Auftakt, der den Entdeckungen gilt: an Ort und Stelle, aber auch in der Vergangenheit des geschichtsträchtigen Hotels. Diese Vergangenheit scheint mit Leichen gepflastert zu sein, und sie stoßen auch auf die eine oder andere: mumifiziert. Und alle sind blond …

|Der Faktor X|

Richtig zur Sache geht es erst mit dem Auftauchen der drei Einbrecher. Das sind hammerharte Typen, die nichts anbrennen lassen, so dass sich unsere Infiltratoren schon bald in der Defensive wiederfinden und um ihr Leben bangen. Und Cora muss um mehr als ihr Leben bangen, denn Mac hat Gefallen an ihr gefunden. Der Triumph, den Tresorraum gefunden und geöffnet zu haben, verfliegt jedoch schnell, als sie entdecken, dass es noch jemanden im Haus geben muss.

Ein Gewittersturm schüttet Wassermassen durchs Oberlicht ins den Treppenschacht, die Treppen sind ebenso morsch wie die Zimmerböden. Jederzeit kann jemand durchbrechen. Diese Szenerie erinnerte mich stark an den Schluss von [„Blade Runner“, 1663 wo sich Harrison Ford und Rutger Hauer, der Letzte der Androiden, einen packenden Showdown liefern. Schauplatz ist das alte Bradbury Hotel (eine Hommage an Ray Bradbury, den Autor der Story „The day it rained forever“), und es gießt in Strömen. An einer Stelle bricht Hauer durch eine der morschen Wände und packt Ford an der Gurgel. Genau so hat man sich den Schauplatz des Paragon Hotel vorzustellen, nur ein klein wenig trockener – und viel explosiver …

|Ein Golfkriegsopfer|

Die wichtigste Figur ist Frank Bellinger. Seine Maske als Journalist verrutscht schon bald, als er zu viel von sich preisgibt. Das ist aber nichts gegen die hammerharte Story, die er Todd, Mac und J.D. erzählt, um seinen Hals als ihr wichtigster Helfer auf der Suche nach dem Mafiatresor zu retten. Der Mann war nicht nur im ersten, sondern auch im zweiten Golfkrieg! Und dort hatte er ein derart traumatisches Erlebnis, dass er es unbedingt loswerden muss. Die drei harten Jungs staunen nicht schlecht. Bellinger darf leben.

|Der Schauplatz|

Eine weitere Hauptperson ist das Hotel selbst. Obwohl es selbst nicht dämonisiert und mit einem Willen ausgestattet wird, so sorgen seine vergangenen und gegenwärtigen Herren für genügend Schrecken, um jede Menge Menschenleben zu fordern. Der Erbauer spielte einen unsichtbaren aber allgegenwärtigen Gott, als er seine Gäste ausspionierte. Doch der gegenwärtige Beherrscher der Pyramide hat ein weit weniger harmloses Hobby. Die beiden sind durch Vorfälle in den sechziger Jahren verbunden, die ich einem Leser bzw. Hörer erst ab 16 Jahren zumuten würde.

Geisterhäuser gibt es in der Horrorliteratur und im Film natürlich haufenweise. Man denke nur an Shirley Jacksons wunderbaren Gruselroman [„The Haunting of Hill House“ 368 (1959) und seine Verfilmungen. In jedem Fall entpuppt sich der Ort des schaurigen Geschehens als eine Versuchsanordnung, die man leichthin als Todesfalle bezeichnen könnte. In jedem Fall fördert eine schwere psychologische Prüfung zutage, aus welchem Holz die gefangenen Insassen geschnitzt sind.

In Frank Bellingers Fall bricht aus ihm die Vergangenheit im Golfkrieg hervor, im Fall der Einbrecher und des Prof hat man es auf den Mafiaschatz abgesehen – schnöder Mammon (im Wert von einigen Millionen Dollar). Doch das wertvollste Gut, das auf dem Prüfstand steht, sind natürlich Menschen – und ihre Vergangenheit. Werden sich die Überlebenden gegenseitig so helfen, dass sie a) überleben und b) auch dem Verletzten beistehen statt ihn zurückzulassen? Hat Solidarität eine Chance oder herrscht nur noch der nackte Überlebenstrieb?

|“Schwester Carrie“|

Vinnie erwähnt keineswegs zufällig (bei einem Literaturwissenschaftler kann so etwas kein Zufall sein) den Roman „Schwester Carrie“ des deutsch-amerikanischen Schriftstellers Theodore Dreiser (1871-1945). Veröffentlicht in England im Jahr 1901 (nach zahlreichen Änderungen) und in den USA erst 1908, beschreibt „Sister Carrie“ den Lebensweg einer 18-jährigen Frau (die auf seiner Schwester Emma beruht), die aus dem Mittelwesten in die Großstadt zieht. Deren Werte sind völlig andere als in ihrer Heimat und schon bald hat sie als „gefallene Frau“ erhebliche Schwierigkeiten.

Was Dreiser demonstrieren will, ist, dass die Herkunft und die Umstände den Weg eines Menschen determinieren. Menschen existieren nicht als soziale und moralische Wesen, sondern als reagierende Objekte ihrer Umwelt. Der freie Wille ist maximal eingeschränkt, als Carrie Meeber zu überleben versucht. Sie muss alle möglichen Kompromisse eingehen – einer der Gründe, warum die Verleger das Buch als „unmoralisch“ ablehnten. Aber obwohl es sich schlecht verkaufte, begründete es einen harschen amerikanischen Naturalismus, der Romane von Frank Norris, John Steinbeck und Upton Sinclair ermöglichte – allesamt Reporter.

|Das Experiment|

Die Versuchsanordnung des Paragon Hotels, mit seinen schicksalhaft darin gefangenen Insassen, ist der Versuch des Autors zu beweisen, dass es möglich ist, seiner eigenen Vergangenheit zu entkommen, ohne sie zu leugnen. Frank Bellinger ist sein Alter Ego, der seinen Fall in der Geschichte verficht – besonders gegen den aktuellen Herrn des Hauses. Der Zweck, so scheint mir, besteht darin, das Bewusstsein Amerikas von der Besessenheit allem Neuen gegenüber zu befreien. Die amerikanische Zivilisation hat mit ihren vielen besonderen Merkmalen nicht nur Großartiges geschaffen, sondern auch jede Menge Opfer gefordert, inner- wie außerhalb der Landesgrenzen. Diese Schuld wird unterschiedlich verarbeitet, häufig leider beschönigend und revisionistisch, zuweilen aber auch einfach ignorant nach dem Motto: Schwamm drüber!

Doch der Protagonist Bellinger kann weder das eine noch das andere tun. Er kann nicht anders, als sich mit der Vergangenheit des Hotels auseinanderzusetzen und sie zu bewältigen. Sein Grund sei hier nicht genannt, aber man kann es sich leicht anhand meiner Andeutungen vorstellen. Es kostet ihn alle Kraft, die er hat, um diese Konfrontation zu überleben. Das ist packend erzählt und äußerst fesselnd. Ob er es schafft? Selber lesen! Und wer nicht lesen will, muss hören.

|Der Sprecher|

Stefan Kaminski zuzuhören, ist ein Erlebnis. Und mit ein wenig Glück vergisst man sogar, dass es ihn gibt. Das ist gar nicht so schwierig, wie man glaubt, denn es gelingt ihm, hinter den Figuren zu verschwinden. Das Einzige, was noch echter Kaminski ist, ist der Erzähler.

Für jede – und wirklich jede – Figur hat Kaminski eine passende Interpretation gefunden: Tonlage, Stimmfarbe, Gefühlsausdruck, Sprechweise und Ausdruck kommen zu einer jeweils individuellen Darstellung für die jeweilige Figur zusammen, um den Anschein eines Auftritts zu vermitteln. Lediglich das Bild fehlt noch – das muss man sich selbst ausmalen. So macht der Sprecher mit seinen vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten die Lesung zum Hörspiel. Fehlt nur noch die Musik, und das Kino für die Ohren wäre perfekt.

_Unterm Strich_

Wie gesagt, ist „Creepers“ ein perfekt gebauter und mit steigender Spannung fesselnder Actionthriller, der an einem Schauplatz spielt, den man eigentlich aus dem Horrorgenre kennt. Nur beherbergt das Paragon Hotel, diese alte Maya-Pyramide, keinen Geist in seinen Wänden, sondern fast so etwas wie einen rachsüchtigen Gott, der keinen der Eindringlinge entkommen lassen will. Durch den Hinweis auf Großstadt-Archäologie, Golfkriegssyndrom und den Roman „Schwester Carrie“ schafft der Autor zahlreiche Bezüge, die dem Kenner einen Blick in die philosophische und psychologische Tiefe der Erzählung erlauben. Dies ist mitnichten ein Fliegengewicht, eignet sich aber dennoch als Thrillerkost für zwischendurch.

Stefan Kaminski ist einer meiner Lieblingssprecher, denn es gelingt ihm, jeder Figur ihren ganz individuellen, unverwechselbaren Ausdruck zu verleihen. Obendrein hat er ein Repertoire an Ausdrucksmöglichkeiten – hohe und tiefe Stimmlagen, Flüstern, Wimmern, Schreien und sogar Brüllen –, welches das Anhören seiner Geschichte zu einem Erlebnis macht.

|Originaltitel: Creepers, 2005
Aus dem US-Englischen übersetzt von Christine Gaspard
422 Minuten auf 6 CDs|
http://www.argon-verlag.de

Siehe auch die [Rezension 3049 von Dr. Michael Drewniok zur Buchausgabe bei |Knaur|.