Nicholls, Sally / Koinegg, Karlheinz / Backhausen, Angeli von – Wie man unsterblich wird – Jede Minute zählt (Hörspiel)

_“Woher weiß man, dass man gestorben ist?“_

„Wenn du das hier liest, bin ich vermutlich tot.“ Der elf Jahre alte Sam ist an Leukämie erkrankt und weiß, wie es um ihn steht. Aber statt zu verzweifeln, nutzt er seine Zeit. Er stellt Fragen, die er früher nicht gestellt hätte, so etwa: Wird die Welt noch sein, wenn es ihn nicht mehr gibt? Die Antworten schreibt er in ein Buch. Darin hält er auch seine Wünsche fest: ein berühmter Forscher werden, einen Weltrekord aufstellen, eine Freundin haben … Ob und wie Sam sich seine Träume zusammen mit Felix, seinem Freund und Leidensgenossen, erfüllt, davon erzählt dieses bewegende, aber auch komische und ermutigende Hörspiel. (abgewandelte Verlagsinfo)

Der Verlag empfiehlt das Hörspiel ab elf Jahren. Das Buch wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, nun wurde auch das Hörspiel des WDR für höchste Ehren nominiert und als bestes Kinderhörbuch beim Deutschen Hörbuchpreis 2010 ausgezeichnet. Das Buch ist für den Deutschen Jugendbuchpreis 2009 nominiert.

_Die Autorin_

Sally Nicholls, geboren 1983 in Stockton, studierte Philosophie und Literatur. Sie verfasste ihren Debütroman „Wie man unsterblich wird“ mit nur 23 Jahren. Er erschien 2008 in England und wurde bereits mit mehreren großen Literaturpreisen ausgezeichnet und in 18 Sprachen übersetzt. Sally Nicholls lebt in London und schreibt an ihrem zweiten Buch. (Verlagsinfo, ohne Gewähr)

_Die Sprecher_

Die Rollen und ihre Sprecher:

Sam: Kai Hogenacker
Felix: Patrick Möllecken
Annie: Hella von Sinnen
Mum: Gabriela Maria Schmeide
Dad: Heinrich Schmieder
Kayleigh: Felicitas Stein
Ella: Mariann Schneider
Mrs. Willis: Anja Niederfahrenhorst
Granny: Sigrid Bode
Dr. Bill: Roland Jankowsky
Zudem Karl-Heinz Tafel, Kerstin Thielemann und Hans-Rolf Fuchs.

Die Hörspielbearbeitung erfolgte durch Karlheinz Koinegg. Regie führte Angeli von Backhausen, der WDR produzierte das Hörspiel. Die Musik trugen Andreas und Matthias Hornschuh bei. Die technische Realisation oblag Achim Fell und Martin Kopiniok. Das Buch erschien im Carl Hanser Verlag 2008.

_Handlung_

Der elfjährige Sam McQueen lebt im englischen Middlesborough (das auch gut erfunden sein könnte). In einem Buch sammelt er Geschichten und interessante Tatsachen, darunter auch über sich. So zum Beispiel: Sam hat Leukämie, also Krebs. Er weiß, dass er bald sterben wird. Aber er hat in sein Buch noch einige wichtige Wünsche geschrieben, so will er etwa ein berühmter Forscher werden, einen Weltrekord aufstellen, eine Freundin haben und die ganze Welt von oben sehen. Aber auch ganz normale Dinge wie etwa Rolltreppen fahren oder alle Horrorfilme der Welt gucken.

Leider geben die Erwachsenen wie etwa Mum und Dad immer nur verschwommene Antworten über die großen Fragen, die Sam bewegen. Dad beispielsweise weigert sich rundweg, sich überhaupt mit Sams Krankheit auseinanderzusetzen, und Mum ist viel zu lieb, um ihrem Sohn harte Wahrheiten ins Gesicht zu schleudern. Deshalb muss sich Sam mit den großen Fragen zusammen mit seinem besten Freund, dem 13-jährigen Felix, beschäftigen, und der ist ja auch ein Leukämieopfer. Felix sitzt im Rollstuhl. Wenn sie nicht in der Tagesklinik einen Chemotherapie erhalten, erteilt ihnen daheim Mrs. Willis Schulunterricht.

|Die Großen Fragen|

Auch sie hilft bei den Fragen. Nummer eins lautet: „Woher weiß man, dass man gestorben ist?“ Das Internet erwähnt Nahtoderfahrung, das Erblicken von Engeln. Lachhaft, findet Felix. Also schreiben sie die Argumente pro und kontra auf.

Frage Nummer zwei: „Warum lässt Gott Kinder krank werden?“ Weil er nicht existiert, wie Felix behauptet? Oder weil es ihm Spaß macht, weil er böse ist? Oder weil, wie Sam meint, Gott wie ein großer Arzt ist, der Lektionen bereithält, zum Beispiel wie toll Radfahren ist. Oder weil es ihm eh egal ist. Oder weil es die Strafe für ein schlechtes Karma ist.

Frage Nummer drei lautet: „Wie kann man ewig leben?“ Soll man sich einfrieren lassen, ein Vampir werden, sein Gehirn auf CD-ROM speichern und auf die Festplatte kopieren lassen? Hm, eine knifflige Frage.

|Die Großen Wünsche|

Einfacher sollte es sein, Sams große Wünsche zu erfüllen. Wie kann er einen Weltrekord aufstellen? Sam und Felix lesen das |Guinness|-Buch der Rekorde und kommen auf die Idee, die kleinste Disco der Welt zu fabrizieren: mit einem CD-Player im Kleiderschrank. Die Sache mit den Horrorfilmen ist einfacher zu erfüllen: Sie schleichen sich einfach ins Zimmer von Felix’ Bruder und ziehen die Videos rein. Sam findet sie gähnend langweilig, sogar „Der Exorzist“. Er kann sich ziemlich gut in die Lage des Mädchens versetzen …

Was nun die Mädchen und das Rauchen und Trinken angeht, so schleppt Felix seinen Freund einfach in den Pub seines Onkels, wo Kusine Kayleigh so nett ist, ihnen die Theke zu öffnen. Sam findet den Kirschlikör klasse, aber Kayleighs Kuss megapeinlich.

Am Dienstag muss Sam wieder zurück in die Klinik. Sein Dad verlangt vom zuständigen Arzt eine erneute Chemotherapie für seinen Sohn, doch der Doktor rät dringend davon ab. Sam sei noch zu schwach. Immerhin lebt Sam jetzt schon vier Monate ohne Chemo und hat keine Glatze wie Felix.

|Abschied Nr. 1|

Am nächsten Tag erfährt Sam, dass Felix wegen einer Infektion ins Krankenhaus musste. Seine Mum bringt ihn hin, um Felix zu besuchen. Sobald die Erwachsenen gegangen sind, passiert etwas Geheimnisvolles: Er schickt Felix den Gedankenbefehl aufzuwachen, und Felix erwacht. Felix und Sam sagen nichts, sondern grinsen sich nur an, während sie sich an der Hand fassen. Felix entspannt sich schließlich, und Sam wartet vergeblich, dass sein Freund wieder erwacht …

|Abschied Nr. 2|

Nach Felix‘ Beerdigung fühlt sich Sam seltsam. Er schaut aus dem Fenster und bemerkt erstaunt, dass sich das Licht verändert hat: Es hat geschneit! Er ist begeistert und bittet seine Eltern, Schlittenfahren zu dürfen. Dad lehnt kategorisch ab, doch Mum und Sams Schwester Ella deichseln es, dass sie mit Sam doch noch rausholen und auf einen Schlitten setzen. Sam hat sich selten so lebendig gefühlt. Am nächsten Morgen tut ihm alles weh. Dad kommt zu ihm, um ihm seine Medizin zu geben. Dad hat geträumt, Sam sei weggegangen …

Er liest in Sams Buch die Liste der Wünsche und beschließt, etwas zu unternehmen. Mit einer Werbefilmgesellschaft verwirklicht er Sams Traum, zusammen mit Dad ein Luftschiff zu fahren. Es ist grandios, es ist perfekt. Nach dem täglichen Besuch der Krankenschwester Annie, die Sam nur noch „Dracula“ nennt, weil sie ihm Blut abzapft, beschließt er, die Medikamente abzusetzen. Was könnte noch Besseres kommen?

|Der Junge im Baum|

Sam hat noch höchstens zwei Monate, sagt Annie. Doch ein Wunsch ist noch offen: Die Welt von ganz hoch oben sehen. Und eines Nachts, als wegen eines Stromausfalls sogar die Sterne zu sehen sind, schleicht sich Sam hinaus und klettert auf den Apfelbaum im Garten. Dort hört er die Stimme seiner Großmutter: „Wir sind aus dem Staub von Sternen gemacht. Alte Sterne sterben, um bei der Explosion ihren Staub für neue Sterne, die daraus entstehen sollen, zu verstreuen. Es ist ein Kreislauf, verstehst du, Sam?“ Der Tod ist nur die nächste Phase im Dasein, und Sam hat endlich das Gefühl, unsterblich zu sein …

_Mein Eindruck_

Es gibt ja schon etliche Dramen über leukämiekranke Kinder, sei es nun in literarischer oder filmischer Form. Stets appelliert die Geschichte an das Mitgefühl des Publikums, um ihre Wirkung zu erzielen. Doch diesmal gibt es einen advocatus diaboli, der nicht davor zurückscheut, Gott für einen Zyniker oder gar Bösewicht zu halten. So etwas würde man in einem christlichen Schauspiel eher selten finden.

Doch Felix, der „Glückliche“, ist kein Mephisto, sondern nur ein weiteres Opfer der Krebskrankheit. Statt jedoch zu resignieren, rafft er sich dazu auf, seinem besten Freund Sam dessen Wünsche zu erfüllen, komme was wolle. Das Ergebnis ist – wie die Horrorfilmshow – mal ein Ärgernis für die Erwachsenen, mal ein peinliches Erlebnis für die Beteiligten, so etwa Kayleighs Kuss für den todgeweihten Sam.

Zusammen erörtern die beiden Jungs die schwersten Fragen, die man sich überhaupt vorstellen kann (siehe oben), und nehmen auf ihre moderne Weise auch mal das unerschöpfliche Internet zu Hilfe. Aber das bringt sie einer Lösung ihres zentralen Problems auch nicht näher, sie können es höchstens besser ertragen. Die letzte und wichtigste Antwort erfährt Sam schließlich dann von seiner Vorfahrin, mit der er endlich Zwiesprache halten kann: Warum müssen Kinder überhaupt sterben?

Es ist eine Art von Trost, diese Antwort, aber letztes Endes ist die zwischenmenschliche Begegnung ein viel größerer Trost. Dies erlebt Sam, als er Felix beim letzten Einschalfen hilft, und als sein Vater zu ihm ins Bett kommt, um sich mit seinen Wünschen zu beschäftigen. Unterm Strich kommt es darauf zu wissen, dass wir nicht allein sind und nicht vergessen werden. Deshalb ist auch die Fortsetzung des Schulunterrichts für Sam so wichtig – es ist keine Augenwischerei angesichts des gewissen Todes, sondern eine Perspektive für die Zukunft. Und der Unterricht hilft Sam, seine Fragen auf kluge Weise mit Pros und Kontras zu beantworten. Erst auf diesem Fundament kann er die letzte Antwort finden.

Die Geschichte berührt an keiner Stelle peinlich, sondern wirkt glaubhaft und optimistisch. Welches Los Sam erwartet, weiß der Zuhörer ja sowieso, dazu muss man es ihm nicht extra unter die Nase reiben. Und die Dialoge zwischen den Jungs sind auch zum Lachen, vielleicht weil sie so unverblümt ehrlich sind. Wenn Sam lacht, dann nur beim Schlitten- und Luftschifffahren. Das sind starke Szenen, doch sie haben ihren Preis, wie man sich denken kann. Danach ist Sam schwächer als zuvor. Das Leben bringt ihn um.

_Die Inszenierung_

|Die Sprecher|

Die Hauptfiguren in diesem Hörspiel sind nicht etwa die Erwachsenen, sondern Sam und Felix, die beiden kranken Jungs. Folglich gilt die Aufmerksamkeit des Zuhörers dem, was sie sagen und wie sie sich ausdrücken. Nun, sie sind in einer bürgerlichen Umgebung aufgewachsen und benutzen folglich keinerlei Schimpfwörter, Flüche oder äußern gar diskriminierende Statements. Sie dürften daher kaum bei jemandem Anstoß erregen. Es fällt ihnen leicht, unsere Sympathie zu erhalten.

Dabei spielt Felix den advocatus diaboli, doch er darf auch etwas zynisch sein, weil er zwei Jahre älter ist als Sam. Die Stimme des Felix-Sprechers ist etwas tiefer als die von Sam, der den Stimmbruch noch vor sich hat. Die beiden Sprecher machen ihre Sache gut, auch wenn ich finde, dass ihre Figuren mehr Ecken und Kanten hätten aufweisen dürfen.

Von den Erwachsenen hinterlässt vor allem die muntere Annie „Dracula“ mit ihrem Moped einen guten Eindruck. Das kann aber auch daran liegen, dass ich der recht bekannten Sprecherin Hella von Sinnen besondere Aufmerksamkeit widmete. Die relativ tiefe Stimme der weiblichen Figur wirkt jedenfalls unter all den hohen weiblichen Stimmen recht ausgefallen.

Die Eltern Sams bzw. deren Sprecher wirken glaubwürdig und nicht irgendwie ausgefallen. Bemerkenswert ist der Wandel in Sams Dad: von einem Vater, der das Problem von Sams Krankheit verdrängt, hin zu einem mitleidenden Dad, der sich endlich mit dem Leben und den Wünschen seines Sohnes befasst. Deshalb darf Dad auch mal weinen, ohne dass es peinlich oder unglaubhaft wirkt – er weiß, er wird seinen Sohn verlieren.

|Geräusche|

Die Geräuschkulisse ist auf ein Minimum reduziert, so dass die Dialoge nicht gestört werden. Wir hören den Motor von Annies Moped, die Sounds von Sams PC-Game und immer wieder das Schrillen eines Telefons oder das Dingdong der Türglocke. Diverse Tiere machen sich bemerkbar, so das wir das Gebell eines Hundes hören, das Zwitschern eines Vogels und am Schluss den Gesang einer Amsel. Recht witzig sind das Zischen der statischen Elektrizität, die die Jungs mit einem Vandegraaf-Generator im Schulunterricht erzeugen, und das gruselige Geräusch aus einem der Horrorfilme.

|Musik|

Die dezente Hintergrundmusik wird von Kombinationen aus akustischer Gitarre, Flöte und Geige bestimmt, die nur als Untermalung dienen. Dadurch vermittelt das Hörspiel einen Eindruck der Ruhe statt der Unausgeglichenheit, die ich erwartet hätte. Schließlich befindet sich Sams und Felix‘ Welt nicht gerade im Lot. Andererseits würde eine Cello-dominierte, elegische Trauermusik überhaupt nicht zu der optimistischen Grundstimmung passen.

Um dieses elegische Moment auszudrücken, hat die Regie eine Singstimme eingeführt, die keine Melodie singt, sondern nur eine Art von Koloratur. Das wirkt zwar nicht direkt störend, eher etwas mahnend, also wie ein Memento mori (= „Gedenke zu sterben“ – sei deiner eigenen Sterblichkeit bewusst).

_Unterm Strich_

Die Geschichte von Sam und Felix tröstet die Menschen, die unter dem gleichen Schicksal leiden wie sie. Die Zuhörer könnten sich die gleichen Fragen stellen wie die Jungs und möglicherweise lustige Antworten finden. Wichtiger sind jedoch die Wünsche, die Sam auf unterschiedlichste und ziemlich einfallsreiche Weise erfüllt werden. Hier ist die Hilfe der Mitmenschen gefragt, allen voran die der Eltern.

Dass tiefe Gefühle beteiligt sind, versteht sich in der Nähe des Todes von selbst. Zum schön finde ich die umfassende Antwort, die der Autorin für die letzte Frage eingefallen ist: „Warum gibt es den Tod, warum müssen selbst Kinder sterben?“ Dass auf die Antwort des Ewigen Kreislaufs schon die Naturvölker gekommen sind, macht nichts – es ist eine Antwort, die jede Generation für sich neu finden und bewerten muss. Die Hippies der Woodstock-Generation sangen die Wahrheit so: „We are stardust, we are golden, we are million-year-old carbon.“ (Joni Mitchell und Crosby, Stills, Nash & Young)

|Das Hörspiel|

Der WDR hatte das heikle Thema Leukämie und Sterben für junge Menschen aufzubereiten. Ich hoffe, die elf und 13 Jahre alten Teens finden sich in dem Hörspiel wieder. Aber auch älteren Menschen vermittelt die Geschichte interessante Denkanstöße. Die dezente Musik und die realistischen Geräusche stören die Dialoge meist nicht, sondern vermitteln ein Gefühl, dass die Geschichte hier und jetzt stattfindet.

Was mir noch fehlt, ist ein Eindruck der Dringlichkeit, der Anspannung – es geht alles viel zu locker zu, fand ich. Und eine bessere Aufteilung nach Zeiteinheiten hätte diese Dringlichkeit ebenfalls hervorgerufen, doch so verschwimmt das Geschehen etwas in einer amorphen Abfolge von Episoden. Zwischendurch machte ich eine längere Pause von mehreren Tagen, was nicht schadete. Denn das Hörspiel ist mit 77 Minuten Länge doch sehr umfangreich. Eine Aufspaltung in mehrere Einheiten kann da nicht schaden. Vor allem, weil man sich dann die Dialoge besser merken kann.

|Originaltitel: Ways to live forever; 2008
Aus dem Englischen übersetzt von Birgitt Kollmann
77 Minuten auf 1 CD|
http://www.igel-records.de