William Nicholson – Sucher (Der Orden der Edlen Krieger I)

Sucher ist nicht gerade glücklich über seine Zukunftsaussichten. Sein Vater hat vorgesehen, dass Sucher als Jahrgangsbester die Schule abschließen und seinem Vater irgendwann auf den Posten des Schuldirektors folgen soll. Dabei wäre Sucher viel lieber ein Noma, einer vom Orden der edlen Krieger. Als sein Bruder Flamme vom Orden wegen Verrat ausgestoßen wird, beschließt Sucher, sich seinem Vater zu widersetzen und in den Orden einzutreten, um den Grund für diese Ungerechtigkeit herauszufinden. Doch der Orden lehnt ihn ab.

Kurzerhand beschließt Sucher, den zweiten Weg in den Orden zu versuchen: den einer großen Tat. Zusammen mit zwei weiteren Abgewiesenen, dem Mädchen Morgenstern und dem Wildling, einem streunenden Banditen, macht er sich auf den Weg nach Radiosa, um die geheimnisvolle Waffe zu finden, welche die Insel Anakrea und die Burg der Noma bedroht …

Nicholson hat im Auftakt seiner neuen Trilogie eine interessante Charakterzeichnung abgeliefert:

Sucher ist derjenige, der durchaus noch recht gut in das Schema Held passt. Zwar ist er noch jung und gelegentlich verunsichert, aber nachdem er erst einmal einen Entschluss gefasst hat, lässt er sich nicht mehr beirren. Sein unbedingter Glaube an die Ideale der Nomana und an ihren Gott, aber auch die Überzeugung, dass das Gute nur siegen kann, wenn man sich dafür einsetzt, helfen ihm auf seinem Weg.

Morgenstern ist da schon etwas ungewöhnlicher. Natürlich teilt sie mit Sucher die Bewunderung für die Nomana und den Glauben an das Gute. Abgesehen davon besitzt sie aber eine äußerst nützliche Gabe. Sie kann die Farben anderer Menschen erkennen. Bei diesen Farben handelt es sich nicht direkt um eine Aura, wie sie von der Esoterik verstanden wird. Man könnte sie eher als Stimmungsbarometer bezeichnen. Jede Farbe steht für ein bestimmtes Gefühl, das die Person empfindet, wie Gier, Zorn, Liebe und Selbstmitleid, aber auch Eigenschaften, die über kurzfristige Gefühlsausbrüche hinausreichen, wie Eitelkeit und Leichtgläubigkeit. Morgensterns Wissen um diese Dinge, deren sich die jeweiligen Personen meist selbst nicht bewusst sind, sowie eine gehörige Portion Fingerspitzengefühl erlauben Morgenstern, ihre Gegenüber bis zu einem gewissen Maß zu beeinflussen.

Der Wildling allerdings ist der erstaunlichste der drei. Zeitweise wirkt er wie ein abgedrehter Spinner, gleichzeitig übermütig-verrückt und gefährlich. Er will nicht in den Orden der Nomana eintreten, weil er deren Überzeugungen teilt, sondern nur, weil er unbedingt „ihre Macht und ihren Frieden“ will, was auch immer dieser Frieden sein mag. Aufgewachsen auf der Straße in einem ständigen Überlebenskampf, ist der Wildling gewohnt, sich alles, was er haben will, einfach zu nehmen. Recht und Unrecht sind fremde Begriffe für ihn. Und wer ihn reizt, indem er ihm etwas vorenthält oder ihn verspottet, der bekommt eine urgewaltige Wut zu spüren, gepaart mit der Behändigkeit und Kraft einer Raubkatze.

Die eigentlichen Gegner, die die Nomana vernichten wollen, werden dagegen eher schemenhaft beschrieben. Über ihr Aussehen verliert der Autor kein Wort. Alt sind sie und ihre Körper gebrechlich, ihre Geister jedoch sind stark und beeinflussen Menschen, ihnen zu dienen. Sie wollen Unsterblichkeit für sich, ewige Jugend. Dass alle anderen dafür sterben müssen, verraten sie ihren Dienern allerdings nicht …

Mit dieser Konstellation hat der Autor nicht nur sympatische und erfrischend außergewöhnliche Protagonisten erdacht, sondern auch einen geheimnisumwitterten und gleichzeitig mächtigen Antagonisten. Selbst die geringsten Nebenfiguren – wie zum Beispiel die Flussprophetin und ihr kleines Mädchen oder die besitzergreifende, junge Caressa mit der Eifersucht einer Furie auf alles Weibliche, was auch nur ansatzweise in die Nähe des Wildlings kommt – sind so treffend umrissen, dass sie sehr natürlich und lebensecht wirken.

Die Welt als solche ist eher einfach gestrickt. Die Vergangenheit spielt so gut wie keine Rolle, William Nicholson konzentriert sich ganz auf die Gegenwart:

Da gibt es die Insel Anakrea, den Sitz des Ordens der Nomana. Deren Burg, der Nom, beherrscht die gesamte Insel, obwohl der Orden selbst nicht herrscht, sondern dient. Seine Angehörigen streben weder nach Macht noch nach Besitz, ihre Aufgabe ist es, die Armen zu unterstützen, die Gerechtigkeit zu verteidigen und das Verlorene Kind zu beschützen, den Einen und Einzigen, den sie als Gott und Schöpfer der Welt verehren. Ihre einzige Waffe ist ihre Magie.

Dann ist da noch die reiche und gepflegte Stadt Radiosa voller vornehmer Leute, die Arme und Besitzlose nur innerhalb ihrer Mauern duldet, wenn sie einen Arbeitgeber vorweisen können. Wer keine Arbeitspapiere hat, beim Randalieren erwischt wird oder den Priestern und der Obrigkeit der Stadt nicht mit der gebührenden Unterwürfigkeit begegnet, landet im Bunker und letztlich als Tribut an die Sonne im See. Denn die Religion der Stadt besagt, dass ohne das tägliche Opfer am nächsten Tag die Sonne nicht wieder aufgehen wird. Da außerdem von den vornehmen Bürgern der Stadt an ihrem Namenstag ein eigenes Opfer erwartet wird, die Leute aber ungern selbst geopfert werden möchten, blühen außerdem Menschenraub und -handel.

Im Grunde hat sich die hochmütige Stadt Radiosa nie um Anakrea und den Nom gekümmert. Die Nomana wurden ihrer Fähigkeiten wegen respektiert und ansonsten ignoriert. Das hat sich geändert, seit der König einen neuen Sekretär hat. Einen Mann mit unansehnlichem Äußeren, aber mit einer angenehmen, einschleichenden Stimme und einem scharfen Verstand. Einen Diener jener geheimnisvollen Feinde …

Bis die Handlung in Gang kommt, zieht es sich ein wenig. Als die drei sich auf den Weg nach Radiosa machen, ist das Buch schon beinahe halb gelesen. Andererseits kam das der Glaubwürdigkeit der Figuren zugute. Und bei der Ankunft der Freunde in Radiosa haben sich dann auch einige Verwicklungen ergeben, die den Geschehnissen etwas mehr Schwung und Spannung verleihen. Ab hier steigt die Spannung ständig weiter an, die Situation verwickelt sich immer mehr, bis sämtliche Fäden sich schließlich beim Showdown im Tempel treffen. Nachdem der Leser sich also etwas eingelesen hat, wird er mit einer durchaus spannenden Geschichte belohnt.

William Nicholsons Buch mag vordergründig ein Fantasyabenteuer erzählen. Aber das ist es nicht allein. Dem Autor ist es gelungen, deutlich und gleichzeitig ohne erhobenen Zeigefinger auf die Realität zu verweisen. So musste ich bei der Szene auf der Maisplantage unwillkürlich an „Früchte des Zorns“ denken, und auch das Hasstraining des Königs von Radiosa ist eine unmissverständliche Anspielung! Dazu kommt der Professor mit seiner neuen Wunderwaffe, dessen Denken und Handeln einerseits überzogen wirken, andererseits aber auch erschreckend realistisch. Nicholson hat hier eindeutig seine Standpunkte zu aktuellen Themen klar gemacht. Sympatisch daran ist, dass diese Standpunkte allgemeiner Natur sind und nicht an Weltanschauungen gekoppelt.

Unterm Strich ein lesenswertes Buch, das nicht nur glaubwürdige Charaktere und eine spannende Geschichte bietet, sondern auch ein ehrliches Statement zu ethischen Grundsatzfragen. Also nicht von dem etwas aufwändigen Anfang abschrecken lassen, sondern trotzdem weiterlesen!

William Nicholson ist Brite und arbeitete nach seinem Anglistikstudium zunächst für die BBC. Inzwischen ist er Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur. Aus seiner Feder stammt „Die Gesellschaft der Anderen“ sowie im Jugendbuchbereich die Aramanth-Trilogie. Er schrieb die Drehbücher für „Nell“ und „Der Marsch“ sowie für „Gladiator“, mit dem er für den Oscar nominiert wurde. Für sein Drehbuch zu „Firelight“ mit Sophie Marceau in der Hauptrolle hat er selbst Regie geführt. Seine Theaterstücke „Shadowlands“ und „The Retreat from Moscow“ wurden für einen Tony Award nominiert, Ersteres mit Sir Anthony Hopkins und Debra Winger von Sir Richard Attenborough verfilmt. Der zweite Teil der Trilogie „Der Orden der Edlen Krieger“ soll unter dem Titel „Jango“ im Oktober dieses Jahres auf Deutsch erscheinen.

Taschenbuch: 448 Seiten
Verlagsspezial über William Nicholson: http://www.dtvjunior.de/dtvjunior.cfm?wohin=specialnicholson/start.cfm
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www.williamnicholson.co.uk