_Augsburg im ausgehenden 15. Jahrhundert_: Die junge Anna lebt nach dem frühen Tod ihres Vaters mit ihrer Mutter Barbara und der kleinen Schwester in ärmlichen Verhältnissen. Anna entspricht zwar nicht dem Schönheitsideal, ist aber eine gewitzte junge Frau mit einem guten Herzen. Durch eine Intrige wird sie verurteilt und aus der Stadt gejagt. Zu ihrem Glück findet sie bei der alten Kräuterfrau Oda Unterkunft, die sie in ihr heilkundiges Wissen einweiht.
Nach mehreren Jahren erreicht Oda Annas Begnadigung und die junge Frau darf in ihr geliebtes Augsburg zurück, muss aber im Seelhaus bei den Ordensschwestern leben. Eine mehrwöchige Magenverstimmung, die sie alle Speisen erbrechen lässt, sorgt für das Gerücht, Anna sei eine Hungerheilige, die sich nur von der Hostie ernährt. Gegen Annas Willen pilgern immer mehr Menschen zu ihr, um ihren Segen zu empfangen und Rat einzuholen.
Als Anna wieder essen kann, drängt Pater Quirinus sie aus Eigennutz, ihre Rolle weiterzuspielen. Anna fühlt sich unwohl dabei, freut sich aber, dass sie durch die zahlreichen Spenden den Armen helfen kann. Sogar höchste Würdenträger wie König Maximilian suchen den Rat der vermeintlichen Heiligen. Doch als Anna den reichen und älteren Kaufmann Anton Welser kennenlernt, nimmt das Verhängnis seinen Lauf …
_Auch in ihrem zweiten Roman_ nach der „Seidenweberin“ nimmt sich Ursula Niehaus einer historischen Frauengestalt an.
|Interessante Hauptfigur|
Mit Anna Laminit ist der Autorin eine gelungene Darstellung einer ungewöhnlich und zugleich grundsätzlich sympathischen jungen Frau geglückt. Sie ist nicht besonders hübsch und auch nicht herausragend intelligent, besitzt aber einen gesunden Menschenverstand und eine ordentliche Portion Bauernschläue, die ihr immer wieder durchs Leben helfen. Ihr Schicksal als „Heilige wider Willen“ ist ungewöhnlich und faszinierend zugleich. Obwohl Anna durch ihre falsche Heiligkeit tausende von Menschen betrügt, ist sie keine Egoistin. Stattdessen kann der Leser gut nachvollziehen, warum sie den Schein der Heiligkeit über viele Jahre hinweg aufrechterhält – will sie ihre Haut retten, bleibt ihr in der Tat keine andere Wahl. Anna macht aus der Not eine Tugend, schließlich kann sie dank der großzügigen Spenden den vielen Armen helfen und muss sich keine Gedanken über ihre eigene Versorgung machen.
Eine sehr liebenswerte Gestalt ist das Kräuterweiblein Oda. Die alte Frau ist zunächst alles andere als angetan, als die fünfzehnjährige, halb verhungerte Anna in ihrer einsamen Hütte auftaucht. Widerwillig pflegt sie das verletzte Mädchen gesund. Anna allerdings erweist sich als nützliche Hilfe, geht der Oda zur Hand und darf schließlich bleiben. Die brummige Alte ist als Einsiedlerin recht eigensinnig, hat die seltsame Angewohnheit, ihre Katzen jeweils nach dem vorherigen Papst zu benennen und zeigt ihre Zuneigung selten offen. Trotzdem oder gerade deswegen ist sie nach Anna wohl die sympathischste Figur des Romans.
Im reichen Kaufmann Anton Welser findet Anna einen weiteren Vertrauten, nachdem er zufällig hinter ihr Geheimnis kommt und nicht daran denkt, sie zu verraten. Der ältere Mann, der beinah Annas Großvater sein könnte, ist trotz seines Alters sehr anziehend und charmant – und umgekehrt weckt die nur äußerlich so spröde Anna in ihm erotische Begierden. Die über viele Jahre hinweg andauernde Affäre hat nie eine echte Chance, zu einer richtigen Beziehung zu werden. Anton ist verheiratet und hat einen guten Ruf zu verteidigen, Anna gilt als jungfräuliche Heilige. Dennoch besteht zwischen den beiden ein vertrautes Band, das erst kurz vor Schluss durch ein schreckliches Ereignis ins Wanken gerät.
|Historik und Fiktion|
Viele der Figuren hat es wirklich gegeben, angefangen bei Anna Laminit über ihre Mutter Barbara, Anton Welser, Kaiser Maximilian, Herzogin Kunigunde, sogar Annas Magd Appel und natürlich Martin Luther. Der Autorin gelingt es stimmig, den tatsächlichen Lebenslauf mit fiktiven Ereignissen aufzufüllen. Ursula Niehaus weicht in ihrer Darstellung der Anna Laminit aber von der traditionellen Geschichtsschreibung ab. Sie macht aus der angeblich hinterlistigen Betrügerin, die ihr Heiligenspiel bewusst zur Täuschung einsetzt, ein Opfer der Umstände, erpresst durch den bösartigen Pater Quirinus, dessen Annäherungsversuche sie brüsk zurückweist. Auch das Ende der historischen Anna, so viel sei verraten, übernimmt sie nicht, sondern nutzt ein Hintertürchen für eigene Spekulationen.
Annas wendungsreiches und aufregendes Leben fesselt den Leser von Beginn an. Ihr überwiegend liebenswerter Charakter trägt dazu bei, dass man mit ihr fühlt und inständig hofft, dass sie aus jeder misslichen Lage heil herauskommt. Mehrfach läuft Anna Gefahr, öffentlich enttarnt zu werden. Über Jahre hinweg muss sie heimlich essen und heimlich ihre Notdurft verrichten – denn wer nichts isst, braucht natürlich nicht auf die Toilette zu gehen. Anna begegnen im Laufe der Zeit nicht nur Bewunderer, sondern auch neidische und misstrauische Gemüter. Im letzten Viertel des Romans überschlagen sich die Ereignisse, sodass man das Buch am liebsten gar nicht mehr aus der Hand legen möchte, ehe sich klärt, wie es mit Anna weitergeht.
|Kleine Schwächen|
Dennoch ist der Roman nicht in allen Punkten ideal umgesetzt worden. Das Hauptmanko liegt darin, dass manche Zeitspannen zu gerafft dargestellt werden. Vor allem in der zweiten Hälfte werden mehrfach mehrere Jahre übersprungen, und gegen Ende hat man gar den Eindruck, die Autorin habe unter Zeitdruck zu Ende geschrieben, so rasch wird durch die Handlung gehetzt. Das ist vor allem schade, weil wichtige Szenen und Personen, etwa Anton Welser, dabei zwangsläufig zu kurz kommen – und auch Anna selbst verliert im letzten Viertel an Kontur. Obwohl wichtige Entscheidungen zu treffen sind, werden diese nur angerissen. Gerade in diesen Phasen wünscht man sich, dass Annas Handlungen näher begründet und vor allem vom Leser miterlebt werden können, stattdessen werden diese Passagen übersprungen und nur kurz in der Rückschau erwähnt.
Kürzungen müssen natürlich bei einem Handlungsraum über zwei Jahrzehnte sein, sie werden aber, wie schon im Debütroman der Autorin, teilweise an den falschen Stellen angesetzt. Ein bisschen unglaubwürdig und schwer nachvollziehbar ist zudem, dass Anna nicht schon früher ihr Schicksal in die Hand nimmt, als sich die Gegner in Augsburg mehren und immer häufiger offen darüber gesprochen wird, dass sie eine Affäre habe und gar keine echte Heilige sei. Der Stil ist zwar grundsätzlich sehr flüssig, schwankt aber manchmal etwas uneinheitlich zwischen moderner Wortwahl und altertümelnden Formulierungen.
_Unterm Strich_ ist der zweite Roman von Ursula Niehaus ist kein herausragender, aber doch ein solider und unterhaltsamer Historienschmöker. Die Geschichte um die interessante Figur Anna Laminit ist gut recherchiert und sehr spannend gestaltet, die Hauptperson meist sympathisch dargestellt. Ein paar kleine Schwächen trüben den Gesamteindruck, vor allem der gehetzte Schluss und Kürzungen an unpassender Stelle – dennoch für alle Freunde des historischen Romans eine Leseempfehlung wert.
_Die Autorin_ Ursula Niehaus wurde 1965 in Köln geboren. Nach Ausbildung und Studium machte sie sich mit einem Stoffgeschäft selbstständig. Ihr erster Roman war „Die Seidenweberin“, an dessen Fortsetzung sie derzeit arbeitet.
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