Niemi, Mikael – Populärmusik aus Vittula

|Tjus lätmi isamatö råckönråll mjosik!| – So in etwa klingt es, bzw. sieht es in schriftlicher Form aus, wenn ein Junge aus einem der abgelegensten Winkel Schwedens, genaugenommen irgendwo aus dem Nichts zwischen Schweden und Finnland, einen Beatles-Song nachsingt, ohne Englisch zu können. Charmant, nicht wahr? Nicht minder charmant ist das Buch, in dem man die Kindheits- und Jungendgeschichte eben dieses Jungen nachlesen kann: „Populärmusik aus Vittula“. Eine Chronik der ersten musikalischen Gehversuche, der ersten ernüchternden Alkoholerlebnisse und des ersten Sex.

Pajala ist ein nichts sagendes Kaff in einer nichts sagenden Gegend Schwedens, dem Tornedal. Hier liegt der sprichwörtliche Hund begraben. Die Einheimischen reden Schwedisch oder Finnisch bzw. ein Kauderwelsch, das unter dem Namen Tornedalfinnisch läuft. In Pajala arbeiten die Menschen hart und auch die im Tornedal verbreitete religiöse Bewegung des Laestadianismus macht mit ihrer übertriebenen Strenge und Lustfeindlichkeit das Leben nicht unbedingt angenehmer. Wenn da nicht der Alkohol wäre, die ständige Versuchung, die auch in Pajala, das sich dem über Finnland nach Russland verlaufenden „Wodka-Gürtel“ zugehörig fühlt, locken würde.

In diesem Umfeld wachsen Matti und sein nicht sonderlich redseliger Freund Niila auf. Und das mitten in den wilden 60ern, von denen man im äußersten Norden Schwedens logischerweise wenig mitbekommt – bis zu dem Tag, an dem Niilas Großmutter beerdigt wird und seine beiden Cousins aus Amerika mit einer Beatles-Single als Gastgeschenk für Niila anreisen. Die beiden Jungs sind völlig aus dem Häuschen und gründen kurzerhand selbst eine Band. Im Keller von Mattis Eltern zimmern sie sich aus Sperrholz so etwas ähnliches wie eine Gitarre zusammen und träumen fortan ihren Traum vom Leben: Rock ’n‘ Roll Music bzw. Roskn Roll Musis …

Niemi erzählt einzelne Episoden aus Mattis Kinder- und Jugendzeit in Pajala, bzw. dem im Volksmund Vittulajänkka (zu deutsch in etwa: „Fotzenmoor“) genannten Ortsteil von Pajala. Er pickt sich einzelne Begebenheiten heraus, die besonders erzählenswert erscheinen, so dass die Kapitel theoretisch vielleicht auch als Kurzgeschichten für sich stehen könnten. Dennoch gibt es Überleitungen, Niemi stellt Zusammenhänge her und baut die Kapitel aufeinander auf, so dass daraus am Ende ein zusammenhängender Roman entsteht.

Und das hat er offenbar so gut gemacht, dass er von seinem Werk in Schweden 700.000 Exemplare verkauft und den bedeutendsten Literaturpreis des Landes eingeheimst hat. Und auch die |Brigitte| hat sich von so viel Euphorie anstecken lassen und beurteilt „Populärmusik aus Vittula“ als |“Das großartigste Buch des Jahres – und auch des letzten und des kommenden Jahres dazu.“| Auch wenn ich mich nicht dem Urteil der Brigitte anschließen will (mit Superlativen sollte man schließlich sorgsam umgehen), kann ich nicht leugnen, dass mir das Buch sehr gut gefallen hat. Niemis Roman hat so eine skurrile, charmante, warmherzige und kauzige Art, dass man sich dem Charme der Geschichte kaum entziehen kann.

Begeistern kann Niemi dabei schon gleich im Prolog mit seinem etwas schrägen Humor, der auch im weiteren Verlauf des Buches immer wieder durchschimmert. Er setzt gekonnte Pointen, die so witzig sind und teilweise vor Einfallsreichtum strotzen, dass den Leser immer wieder das Lachen oder Schmunzeln überkommt. „Populärmusik aus Vittula“ ist dabei gar kein durch und durch komischer Roman, sondern eher tragikkomisch. Niemi kann trotz seiner amüsanten Erzählweise auch sehr ernst sein, wenn er das Leben der Menschen in Pajala schildert, so dass einem manchmal das Schmunzeln zu gefrieren droht.

Die Geschichten, die Niemi aus Mattis Kindheit erzählt, drehen sich dabei einerseits um Land und Leute, andererseits um Musik und die Zeit der Pubertät. Der Leser beobachtet, wie Matti und Niila langsam halbwegs erwachsen werden. Beide erscheinen dabei eher als Antihelden. Ihre spielerischen ersten Versuche, eine Band zu gründen, ihr erster Auftritt vor der versammelten Klasse, der noch als Playback abläuft, all das wirkt eher peinlich als mutig. Grundsätzlich scheint ihr musikalisches Interesse ohnehin in einem unvereinbaren Widerspruch zum Lebenswandel der Tornedalbewohner zu stehen. Hier kommt es vor allem darauf an, als Mann körperliche Arbeit zu leisten, wen interessiert da schon dieses mädchenhafte Rumgeklimper?

Matti und Niila stammen beide aus eher schwierigen familiären Verhältnissen, so dass die Musik für sie die Möglichkeit zum Ausbruch ist. Sie ist ihre Art der Rebellion, auch wenn die beiden sich das wohl nicht ausgemalt hatten, als sie zum ersten Mal im Keller von Mattis Vater mit der Sperrholzgitarre Elvis-Posen imitiert haben.

Was die beiden in den folgenden Jahren erleben, ist durchaus schon einen Roman wert, der einerseits locker-flockig skurrile Geschichten mit viel Witz erzählt, andererseits aber auch einige düstere und tragische Momente enthält. Niemi bewegt sich oft auf einem sehr schmalen Grat zwischen Tragik und Komik. Sein Humor bekommt dadurch eine schwarzhumorige Note, und tragische Momente verlieren trotz der leichtfüßigen Erzählart nichts von ihrer Dramatik.

Vereinzelt hat Niemi dabei sogar schon einen Hang zum Surrealen. Einzelne Kapitel spielen mehr in der Phantasie als in der Realität und mögen im ersten Moment nicht so recht in das Buch passen. Schlägt man es dann am Ende zu, kann man aber dennoch sehr zufrieden sein. Es ergibt sich ein stimmiges Gesamtbild, in das auch Niemis scheinbar verrückte Phantastereien wieder ganz gut hineinpassen.

Wenn Übersetzung und Lektorierung etwas sorgfältiger gemacht worden wären, wäre das Buch nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich rundum ein Genuss. So bleibt leider ein etwas fader Beigeschmack zurück. Nicht nur, dass die deutsche Ausgabe teilweise haarsträubende Rechtschreib- und Grammatikfehler aufweist und sich hier und da etwas holprig liest, auch die Übersetzung an sich bietet Anlass zur Kritik. Niemi verwendet viele schwedische und tornedalfinnische Ausdrücke, die teilweise einfach so unübersetzt und unerklärt stehen gelassen werden. Welcher durchschnittlich sprachbegabte Deutsche kann schon etwas mit Begriffen wie „ummikko“, „meän kieli“ oder „ulosveisu“ anfangen? Wenn man solche Ausdrücke schon nicht übersetzt, weil sie evtl. im Deutschen nicht entsprechend existieren, wäre es dann unmenschlich zu erwarten, dass sie in einem Glossar erklärt werden? Wohl kaum.

Bleibt abschließend festzuhalten, dass Niemi einfach den richtigen Ton trifft. Er zaubert dem Leser ein Lächeln aufs Gesicht und rührt ihn, er stimmt ihn nachdenklich und lässt ihn lauthals loslachen. Er kreiert ein wunderbares Wechselbad der Gefühle, das auch nach der Lektüre im Gedächtnis haften bleibt. Wer schöne Geschichten mit komischen Käuzen an merkwürdigen Orten mag, der wird an diesem Buch seine Freude haben. Wer obendrein Mattis und Niilas Musikbegeisterung teilt, muss dieses Buch eigentlich lieben.

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