Norman, Hilary – Rache der Kinder, Die

Kinderspiele können grausam sein. In ihrem Thriller „Die Rache der Kinder“ beschreibt die Engländerin Hilary Norman genau so eine Situation, in der aus einem Spiel Ernst wird – mit tödlichem Ausgang.

_Die Geschichte beginnt_ damit, dass vier Kinder eines Kinderheimes sich nachts aus ihren Schlafzimmern stehlen, um in einem verlassenen Hünengrab William Goldings „Herr der Fliegen“ zu lesen. Das Buch wird zu einer Art Obsession für die vier und die Rollenspiele, die sie mit dessen Hilfe spielen, werden immer drastischer. Unter der Obhut einer Kinderheimmitarbeiterin beginnen sie, die Geschichte des Buches auf das echte Leben zu übertragen.

Jahre später sind sie erwachsen, die Spiele von Jack, Roger, Simon und Piggy – nach Helden aus dem Golding-Buch – wesentlich brutaler. Ralph, die Kinderheimmitarbeiterin, ist nach wie vor ihre Anführerin, tritt aber selten selbst in Szene. Auch nicht, als ihre „Kinder“ die Journalistin Kate und die labile Laurie entführen. Sie sind die Monster dieser Spielrunde und sollen beseitigt werden. Während Kate sich eine Abtreibung hat zuschulden kommen lassen, ist Laurie die Mutter eines behinderten Jungen. Doch anstatt ihn bei sich aufzuziehen, wohnt er in einem Kinderheim.

Was die Entführer nicht wissen: Nicht alles ist so, wie es aussieht. Kates angebliche Abtreibung war eine Fehlgeburt und Laurie wurde von ihren Eltern massiv unter Druck gesetzt, das „Malheur“ namens Sam zu vertuschen …

_Hilary Norman spielt_ in ihrem Buch außergewöhnlich geschickt mit moralischen Fragen und den Nerven des Lesers. Sie erzählt die Geschichte nämlich aus mehreren Perspektiven. Sowohl die Kinder als auch Ralph als auch die beiden Opfer kommen ausgiebig zu Wort. Während die „Herr der Fliegen“-Gruppe rückblickend vor allem ihre Entstehung erzählt, berichten Kate und Laurie aus ihrem Leben. Man lernt sie als Leser gut kennen und verstehen. Während die Entführer fest davon überzeugt sind, es bei den beiden mit Monstern zu tun zu haben, ist dem Leser klar, dass die Schuldfrage in beiden Fällen nicht so einfach beantwortet werden kann. Umso mehr fiebert man mit den beiden mit, dass sie die Entführung überleben. Norman schafft damit etwas, was in vielen Büchern selten ist: Sie fesselt den Leser an den Sessel, bis er das Buch aus der Hand legen muss, weil es zu Ende ist.

Der geschickte Aufbau bleibt nicht der einzige Pluspunkt von „Die Rache der Kinder“. Die Personen sind, wie bereits erwähnt, sehr gut ausgearbeitet. Mit wenigen Pinselstrichen schafft es die Autorin, zwei sehr unterschiedliche Frauenfiguren zu schaffen, die sehr authentisch wirken. Während Kate eine selbstbestimmte, beruflich erfolgreiche Frau ist, müht sich Laurie mit ihrem Schicksal ab. Sie lebt noch immer unter der Knute ihrer Eltern, obwohl ihr kleiner Sohn ihr ans Herz gewachsen ist, doch sie findet nicht die Stärke, ihr Leben selbst zu bestimmen.

Jack, Roger, Simon, Piggy und Ralph werden hingegen nicht so ausführlich beschrieben. Die Masken, die sie während der Tat tragen, nehmen sie auch sonst nicht ab. Auch hier appelliert die Autorin an die Eigeninitiative des Lesers. Es liegt an ihm, die Schuldfähigkeit der einstigen Heimkinder zu bewerten, deren Leidenswege anfangs kurz erläutert werden. Vieles muss man dabei zwischen den Zeilen lesen, um zu merken, dass auch die Bösen in dieser Geschichte nicht wirklich böse sind.

Geschrieben ist das Buch mit einer fast tödlichen Präzision. Norman benutzt wenige Worte und kurze, abgehackte Absätze. Trotzdem schafft sie es, ein feines Netz aus Spannung aufzubauen und alles genau so rüberzubringen, wie sie es rüberbringen möchte. Durch ihre gute Wortwahl und die Intensität ihrer Sätze beginnt der Leser automatisch, selbst mitzudenken und bestimmte Parallelen zu ziehen.

_Auch, wenn die häufigen Perspektivenwechsel_ anfangs verwirren und allgemein ein zweischneidiges Schwert sind, sind sie in diesem Fall das Beste, was diesem Buch passieren konnte. Hilary Norman konzentriert sich in ihrem Thriller „Die Rache der Kinder“ auf die notwendigsten Informationen, die dennoch ein weitreichendes Gesamtbild abgeben und vor allem eines schaffen: den Leser zum (Mit)Denken zu animieren. Fantastisch!

|Originaltitel: Ralph’s Children
Aus dem Englischen von Rainer Schumacher
365 Seiten, Taschenbuch
ISBN-13: 978-3404163182|
http://www.luebbe.de

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