Ogawa, Yoko – Geheimnis der Eulerschen Formel, Das

Eine Frau kommt als Haushälterin zu einem verschrobenen Mathematikprofessor, der nach einem Unfall zurückgezogen auf dem Grundstück seiner Schwägerin in einem kleinen Häuschen lebt. Seit dem Unfall kann der Professor sich nur an diejenigen Dinge erinnern, die in den letzten 80 Minuten geschehen sind. Alles andere hat er vergessen, außer der Mathematik mit ihren geheimnisvollen und anmutigen Formeln. Um sich jeden Morgen wieder an seine Haushälterin zu erinnern, hat der Professor sie auf einen Zettel gezeichnet und diesen an seinen Anzug geheftet, ein anderer Zettel erinnert ihn daran, dass sein Kurzzeitgedächtnis nur noch 80 Minuten währt. Weitere Zettel erinnern ihn an andere wichtige Dinge, die er sonst vergessen würde.

Bereits acht Haushälterinnen hat die Schwägerin des Professors nach kurzer Zeit entlassen, doch mit der neunten soll alles anders werden: Mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen gewinnt sie das Vertrauen des Professors. Als sie ihm erzählt, dass zuhause ihr zehnjähriger Sohn auf sie wartet, besteht der Professor darauf, dass der Sohn – den er aufgrund seines flachen Schädels schnell Root tauft – nach der Schule auch zum Haus des Professors kommt, damit er nicht so lange alleine sein muss. Schnell schließt der Professor den Jungen in sein Herz, löst mit ihm zusammen die Hausaufgaben, stellt ihm allerlei mathematische Rätsel und versucht, dem Jungen die Schönheit der Mathematik näher zu bringen.

Auch wenn dies bei Root nicht so sehr fruchtet, so versteht dieser nach den Erklärungen des Professors zumindest seine Hausaufgaben, doch die Haushälterin lässt sich von der Liebe des Professors zur Mathematik anstecken. Zuhause versucht sie abends, die mathematischen Rätsel zu lösen und hinter das Geheimnis aller möglicher Formeln zu kommen. Aber es ist mehr als die Mathematik, die diese drei Menschen miteinander verbindet – bis Root und seine Mutter den Professor zu einem Baseballspiel mitnehmen und plötzlich alles in sich zusammenbricht, was die drei sich aufgebaut haben …

_Die Schönheit der Mathematik_

„Das Geheimnis der Eulerschchen Formel“ heißt dieses schmale Büchlein einer der erfolgreichsten japanischen Autorinnen. Doch wer diesen Titel zu wörtlich nimmt, könnte enttäuscht werden. Zwar kommt die Eulersche Formel auch zur Sprache und wird auch ansatzweise erklärt, doch geht es in diesem Buch nicht in erster Linie darum, hinter die Geheimnisse der Mathematik zu blicken, sondern die Mathematik ist das Bindeglied zwischen drei sehr unterschiedlichen Menschen – einer Haushälterin, die mit ihrem Sohn in sehr einfachen Verhältnissen lebt und auf den Job beim Professor angewiesen ist, und besagten Professor, der die schwierigsten Rätsel der Mathematik zu lösen vermag, aber sich nicht länger als 80 Minuten an etwas erinnern kann. Wie diese drei Menschen zusammenfinden, welche Rolle die Mathematik dabei spielt und wie die drei – so unterschiedlich sie auch sind – immer mehr zusammen wachsen, das beschreibt Yoko Ogawa in dem vorliegenden Buch.

Zunächst tritt die Haushälterin mit großer Skepsis ihre neue Stelle an, weiß sie doch, dass der Professor bereits acht Haushälterinnen in kürzester Zeit rausgeworfen hat, doch vom ersten Moment an ist alles anders. Schnell findet die Haushälterin einen Weg, zu dem Professor vorzudringen und mit ihm umzugehen. Ogawa erzählt eine Geschichte von einer sehr ungewöhnlichen Persönlichkeit, die einen tief bewegt und berührt. Es ist eine sehr leise Geschichte, die sich nie in den Vordergrund drängt und es sind zarte Bande, die die Haushälterin zum Mathematik-Professor knüpft – zarte Bande, die nach dem Baseballspiel schlagartig zu zerreißen drohen.

_Die Schönheit der Sprache_

Das Büchlein hat leider nur 256 Seiten und ist ratzfatz gelesen, da die Seiten nur sehr spärlich bedruckt sind, aber welch eindrucksvolle Geschichte die Yoko Ogawa in dieser Kürze entfaltet, beeindruckt von den ersten Seiten an. Ogawa hat einen sehr anmutigen und ansprechenden Schreibstil und eine herrlich poetische Ausdrucksweise, in der man versinken mag. Ein Beispiel:

|“Mir gefiel auch die Form der Ziffern, die er mit seinem Bleistift aufs Papier zauberte. Die 4 wirkte rund und üppig wie der Knoten einer Geschenkbandschleife, während die 5 sich derart weit vorlehnte, dass sie fast ins Stolpern geriet. Die einzelnen Zahlen waren zwar nicht besonders akkurat, aber alle besaßen ihre eigene Persönlichkeit. Seine Liebe zu den Zahlen, die der Professor zeit seines Lebens hegte, fand sich darin wieder.“|

Hier sitzt jedes Wort und lässt einen beim Lesen ins Schwärmen geraten, denn die Gratwanderung zwischen poetischer Sprache und klischeehaftem Geschwafel meistert Ogawa überzeugend, nie gleitet sie ins Kitschige ab, sondern bleibt immer in sicherer Entfernung von dieser Grenze zum Gewöhnlichen. Ihre Schreibweise ist wahrlich außergewöhnlich und das eigentliche Geheimnis hinter dem Erfolg ihres Buches. Natürlich zeichnet Yoko Ogawa auch wunderbare Charaktere, die einem das Herz erwärmen mit ihren herzensguten und liebevollen Eigenschaften und Eigenarten, doch wie Ogawa all dies geschickt zu Papier bringt, ohne wirklich ein Wort zu viel zu schreiben, ist eine wahre Meisterleistung.

_Zauberhaft_

Es ist gar nicht viel, das in diesem Buch passiert – zumindest auf der reinen Handlungsebene. Doch was zwischen den Zeilen steht und insbesondere, was unausgesprochen zwischen den handelnden Charakteren passiert, was sich hier aufbaut und wie die drei zueinanderfinden, ist eine großartige Geschichte. Wir lernen drei sympathische, allerdings nicht alltägliche Figuren kennen, die hier eine außergewöhnliche Freundschaft eingehen. Bindeglied sind mathematische Rätsel und der Zauber, der einigen Zahlen innewohnt. Sie sind das Bindeglied zwischen der Haushälterin und dem Professor, der sich in der normalen Alltagswelt nicht zurechtfindet und sich daher in die Welt der Zahlen zurückzieht.

Yoko Ogawa schafft es in eindringlicher Weise, uns diese wunderschöne Geschichte zu erzählen und sie uns so nahe zu bringen, dass wir tief von ihr berührt werden. Wer Wert auf schöne Sprache legt, auf eine außergewöhnliche und zurückhaltende Geschichte, die man so sicherlich noch nicht gelesen hat, der ist hier genau richtig!

|Gebunden: 256 Seiten
Originaltitel: Hakase no Aishita Sushiki
ISBN-13: 978-3-935890-88-5|
http://www.liebeskind.de

Schreibe einen Kommentar