James A. Owen – Wo Drachen sind. Die Chroniken der Imaginarium Geographica (Band 1)

Entscheidungsschlacht am Ende der Traum-Welt

Ein rätselhafter Mord in London bringt eines Nachts im Jahr 1917 drei junge Männer zusammen: John, Jack und Charles. Ein seltsam gekleideter Fremder namens Bert eröffnet ihnen, sie seien von nun an die Erben und neuen Hüter der „Imaginarium Geographica“. Das sei ein Atlas all jener Länder, die in Mythen, Legenden und fantastischen Geschichten jemals beschrieben wurden.

Doch wer hat Professor Stellan Sigurdsson auf dem Gewissen? Die gleichen hundeähnlichen Kreaturen, die nun das Quartett zum Hafen verfolgen, wo Berts Segelschiff „Indigo Drache“ auf sie wartet? Kaum ist das Segelschiff zum Archipel der Traumlande aufgebrochen, wird es von einem schwarzen Schiff verfolgt, denn irgendjemand muss die Mörder des Professors ja geschickt haben …

Der Autor

James A. Owen, geboren 1969, schreibt und zeichnet seit seiner Kindheit. Er ist Autor und Illustrator der bekannten US-Graphic Novel-Reihe „Starchild“, Autor der |Mythenwelt|-Reihe und Mitbegründer eines Comic- und Zeichentrickstudios, des Coppervale Studios in Silvertown (oder Silverton), USA. Owen lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Arizona. Zum vorliegenden Roman wurde er u. a. vom deutschen Erfolgsautor Kai Meyer ermutigt.

Handlung

London im Kriegsjahr 1917. In der Nacht wird Professor Sigurdsson kaltblütig ermordet. John, der ihn ebenso wie Jack und Charles besuchen wollte, sieht sich plötzlich einer unbekannten Gefahr ausgesetzt. Während das Trio noch rätselt, was zu tun ist, tritt ein seltsam gekleideter Fremder auf, der sich als Bert vorstellt. Bert ernennt John zum obersten Hüter eines einzigartigen Buches namens „Imaginarium Geographica“. Das sei ein Atlas all jener Länder, die in Mythen, Legenden und fantastischen Geschichten jemals beschrieben wurden. Bert rät ihnen, sich zu beeilen – hören sie nicht bereits die Schattenwölfe heulen? Wölfe – mitten in London? Blödsinn! Doch die drei Akademiker müssen sich eines Besseren belehren lassen und nehmen die Füße in die Hand.

Gerade noch in letzter Sekunde schaffen sie es nach einer wilden Verfolgungsjagd durchs nächtliche London an Bord eines wundersamen Schiffes, das ohne Motor von allein ablegt und die Themse hinabsegelt: „Indigo-Drache“ nennt Kapitänin Aven stolz ihr Schiff. Wie sich herausstellt, besteht das Schiff tatsächlich aus einem Drachen. Unbemerkt von ihr folgt dem Drachenschiff jedoch ein weiteres …

Durch den dichten Londoner Nebel segeln die drei Gefährten in unbekannte Gefilde mitten in ein unwahrscheinliches Abenteuer. Sie erfahren von Bert, dass ihnen ein gewisser „Winterkönig“ auf den Fersen sei, der unbedingt die „Imaginarium Geographica“ in die Finger bekommen wolle, damit er alle Traumlande unterwerfen und beherrschen könne. Dabei erzeuge er jedoch aus deren Bewohnern Schattenkrieger, die ihm hörig seien. Alles, was er noch brauche, seien ein Ring der Macht und die Geographica, um die Drachen rufen zu können. Mit diesen könne er dann alle anderen Bewohner der Traumlande beherrschen.

Bert hofft, dass der König von Paralon ihnen gegen den grausamen Winterkönig helfen könne, doch dessen Parlament, die Figuren eines Kartenspiels wie aus „Alice im Wunderland“, stellt sich als eine Ansammlung von mechanischen Puppen heraus, mit Ausnahme des Stewards namens Magwich, der ein Agent des Winterkönigs ist. Ein majestätischer Drache namens Samaranth hilft ihnen mit einigen Tipps: Sie müssten den Mann namens Ordo Maas alias Deucalion suchen, die Büchse der Pandora sowie schließlich den Kartografen, der die Geographica zeichnete.

Ausgestattet mit dem Kochbuch eines Helfers, des Dachses Tummeler, stechen sie wieder in See, doch es dauert nicht lange, bis der „Schwarze Drache“ des Winterkönigs sie in Grund und Boden zu rammen droht. Sie müssen beidrehen und sich entern lassen. John weiß natürlich, was der Winterkönig am sehnlichsten haben will: die „Imaginarium Geographica“, deren Hüter er ist und die er als einer der wenigen lesen kann. Doch John ist nicht auf den Kopf gefallen. Flugs vertauscht er das kostbare Buch mit dem Kochbuch …

Mein Eindruck

Zunächst mutet das Buch wie die übliche Schnitzeljagd an, die in Fantasyromanen seit der Zeit der Gralslegenden immer als Queste verkleidet wird. Doch es muss sich noch um etwas anderes handeln, denn hier gibt es außer Artus keinen einzigen Ritter, sondern nur die drei Hüter John, Jack und Charles. Die drei Oxford-Gelehrten werden vom Dachs Tummeler, der Schwierigkeiten mit der englischen Sprache hat, gern als „Genährte“ apostrophiert, was ein netter Trick des Autors ist, um die drei „Gelehrten“ von ihrem Podest zu holen.

Ihre Queste ist nichtsdestotrotz eine bedeutsame: Sie sollen die Fantasiewelten retten, ohne die es auch unsere Welt nicht mehr geben könne. Die Fantasiewelten sind in der Geographica nicht nur beschrieben, sondern offenbar auch durch Magie verankert. Verschwindet eine Welt, dann auch ihr Abbild in dem Atlas. Dessen oberster Hüter ist John, denn er versteht die meisten Sprachen, darunter Altgriechisch und Altenglisch, ja sogar Deutsch (man glaubt es kaum).

Die Charakterisierung der drei Hüter ist wunderbar gelungen. John ist der nachdenkliche Bursche, der nie etwas zu tun scheint, aber auf die brillantesten Einfälle kommt. Charles ist der Zweifler, aber er kann auch Geheimagent spielen. Und Jack ist der einfallsreiche und entschlossene Tatmensch, der ein bedrohliches Geheimnis birgt. (Anders als John war er übrigens noch nie im Krieg, daher kann man ihm seine martialische Art verzeihen.) Und dieses Geheimnis verleiht ihm eine ganz besondere Fähigkeit, die sich erst am Schluss offenbart. Es bleibt also spannend.

Arthurisch

Wie gesagt, ist auch Artus an Bord. Zunächst trägt er noch den Namen „Bug“, also Käfer. So wurde er vom Orakel der Morgaine, den Dreien, die Eins sind, geneckt, die ihn in einem Brunnen festhielten. Nun ist er endlich frei und kann an den Aufgaben, die vor ihm liegen, wachsen. Da die Traumlande inzwischen ohne König sind, dreht sich die Handlung, die der Jagd nach der Geographica gilt, gleichzeitig auch um die Nachfolge der Herrschaft. Da Artus‘ Vorväter, Opa Archibald und Papa Arthur, beide König waren, scheint Artus am besten für diesen Job des Hochkönigs qualifiziert zu sein. Flugs wird aus der Queste ein handfester arthurischer Roman und daraus wiederum eine Story um die Weltherrschaft.

Aber es gibt bekanntlich ein kleines Problem in Gestalt des Winterkönigs. Wer ist dieser Typ überhaupt, woher kommt er? Wer die Artuslegende kennt, kann es sich schon denken. Auf der Insel am Ende der Welt, dort wo die Wasser des Ozeans von der Weltenscheibe ins Nichts fallen, begegnen sich die beiden Kontrahenten und ihre jeweiligen Verbündeten. Der Winterkönig will hier zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: a) die Erlangung der Herrschaftswürde durch einen Spruch in der Geographica (er ließ sie John wieder abjagen) und b) die Vernichtung von Artus‘ Streitmacht. Folglich kommt es zu einer furchtbaren Schlacht, die allerdings einen recht unerwarteten Verlauf nimmt.

John, Jack & Charles

Müssen amerikanische Fantasyromane immer mit einer finalen Entscheidungsschlacht enden? Gleiches gilt allerdings allerdings auch für einschlägig bekannte Engländer. Daher überrascht es wohl nicht zu erfahren, dass es sich bei John um J. R. R. Tolkien handelt, bei Jack um Clive Staples Lewis und bei Charles um Charles Williams, einen religiös angehauchten Fantasy- und Esoterikautor, der ebenfalls zum Kreis der Oxforder Inklings gehörte, in dem Tolkien und Lewis den Ton angaben.

Die Einführung dieser drei Autoren als handelnde Figuren – Gelehrte und Hüter – dient dem Autor zur Erklärung, wie es zu ihren jeweiligen Meisterwerken kam: Tolkiens sattsam bekannte Mythologie, Lewis‘ Narnia-Chroniken und Williams Esoterikromane. (Es wäre ja megapeinlich, wenn die drei ihren eigenen Schöpfungen begegnen würden. Die Kreaturen würden sich nämlich garantiert beschweren …)

The Matter of Britain

Es überrascht wohl kaum zu erfahren, dass alle drei historischen Autoren sich eingehend mit der Figur des Artus befasst haben, denn diese Figur gehört ganz wesentlich zur „Matter of Britain“, wie die „Encyclopedia of Fantasy“ jenen Komplex aus Sagen, Legenden und Mythen nennt, den Kelten, Engländer, Franzosen und Nordmänner (Wikinger, Germanen etc.) zusammenflochten, um etwas Einzigartiges zu schaffen (natürlich planlos): die Artus- und Gralslegenden, die ein Bestandteil des mythischen Albion = Prydain = Britannien sind.

Tolkien kramte die alten mittelenglischen Versepen wie etwa [„The Green Knight“ 479 hervor und schuf Aragorn, Lewis schrieb etwas über den silbernen Thron Artus‘ („Narnia-Chroniken 6: Der silberne Sessel“) und Williams ein Versepos namens „The Region of the Summer Stars“. Die Sommerlande, das verheißene Land der Epen, wo mögen sie liegen? James Owen gibt die Antwort: Es handelt sich um unsere Welt. Was doch einiges über die enge Beziehung zwischen Traum und Wirklichkeit aussagt.

Eine Lektion

Aber die drei lernen von Bert eine wichtige Lektion. Bert ist kein anderer als Herbert George Wells, allerdings der Zeitgereiste himself. Und da ihm niemand geglaubt hätte, wenn er behauptet hätte, er wäre durch die Zeit ins Jahr 800.000 gereist, musste er seine Erlebnisse in eine Phantasiegeschichte kleiden. Eine wichtige Lektion, die auch die drei Hüter der Geographica beherzigen wollen. Und wie wir mittlerweile wissen, haben die drei Inklings ja auch einige Phantasiegeschichten fabriziert, die in ihrem Kern jeweils eine bedeutsame Botschaft transportieren.

In seinem Nachwort verrät der Autor selbst, woher er all seine Ideen genommen hat, was mich der Pflicht enthebt, sie alle nochmals aufzuzeigen (und mir dafür auf die Schulter zu klopfen): die „Nautilus“ und Kapitän Nemo, die „Argo“ und Jason, Pyrrha und Deucalion, die Kinder von Pandora und Prometheus sowie deren Büchse und ihre Arche, die bei der Sintflut gebraucht wurde. Und der Klub, in dem Sigurdsson ermordet wird, befindet sich an der Adresse von Sherlock Holmes‘ Wohnung. Und von Lewis Carroll stammt natürlich das Spielkartenparlament.

Alle diese Elemente sind miteinander verwoben und verschmolzen, ein Amalgam aus Mythen und Geschichten, wie wir es auch bei Kai Meyer finden, etwa in „Die Fließende Königin“. Daher war ich wenig verwundert, dass Meyer für das Buch von James Owen wirbt.

Humor

Das größte Vergnügen bereitet nicht dieses Amalgam, sondern vor allem der verschmitzte Humor, mit dem der Autor seine Figuren und ihre Erlebnisse so auf die Schippe nimmt, dass die alten Klischees aufgebrochen werden. Artus‘ Wunschbrunnen heißt beispielsweise deshalb so, weil er sich oftmals wünschte, daraus entkommen zu können, und nicht etwa, weil darin Wünsche erfüllt wurden. Auch die Dreiecksgeschichte zwischen Kapitänin Aven, Artus und Jack, der sich in sie verguckt hatte, liefert Anlass zum Schmunzeln.

Die Illustrationen

Illustriert hat das Buch der Autor selbst. Es sind sehr detailreiche Schwarzweiß-Zeichnungen, und wer die Muße dafür aufbringen kann, der sollte sie sich genau anschauen. Vielleicht fällt dem einen oder anderen eine interessante Einzelheit auf, z. B. Der Grüne Ritter. Alle Zeichnungen sind mit einem Textzitat versehen, das neugierig macht.

Die Übersetzung

Ich finde die Übersetzung fehlerlos und sehr gut gelungen, allerdings haben sich hier und da Druckfehler eingeschlichen. Sie fallen aber nicht weiter auf.

Unterm Strich

Ich brauchte eine Weile, etwa bis zur Hälfte, um ins das Buch reinzukommen, denn der Autor überfällt einen mit tausend neuen Einfällen, zu denen es keine, ähem, Landkarte gibt. Zudem ist nicht von vornherein klar, dass es sich bei den drei Hütern um Tolkien, Lewis und Williams sowie bei ihrem Führer um H. G. Wells handelt. Dieses Wissen würde wohl auch den Blick verstellen, wenn man zu verstehen und zu genießen versucht, was dieses Quartett alles erlebt.

Aber es gibt wie gesagt eine Menge bezaubernder Einfälle, die mit einer augenzwinkernden Art von Humor dargeboten werden, ohne jedoch Spannung vermissen zu lassen. Dass es sich um ein Kinder- oder Jugendbuch handelt, das ich ab zwölf Jahren empfehlen kann, merkt man unter anderem an der Tatsache, dass meist nur ein Handlungsstrang erzählt wird. Das ändert sich radikal, als es gilt, von der Entscheidungsschlacht zu berichten. Plötzlich laufen drei Handlungen gleichzeitig ab. Das ist schon fast wie in Tolkiens „Herr der Ringe“, jedenfalls in der Jackson-Version.

Man sollte also das Buch in einem Rutsch lesen, um möglichst die zahlreichen Details der Handlung nicht aus dem Blick bzw. dem Gedächtnis zu verlieren. Dann macht die Story auch wirklich Spaß. Dass dies ein Romandebüt ist, merkt man kaum, denn der Autor hat im Comicbook-Bereich bereits jede Menge Erfahrung gesammelt. Was er mit diesem neuen Buch ausdrücken will, habe ich oben anzudeuten versucht, dabei bin aber sicherlich nicht zum Kern vorgestoßen. Dieses Vergnügen überlasse ich dem Leser.

Hinweis

Die Fortsetzung lautet „The Red Dragon“. In „Wo Drachen sind“ wird erwähnt, dass dies der größte Drache sei, doch er taucht in dieser Geschichte nie auf. Das Buch ist inzwischen in der deutschen Übersetzung erschienen.

Gebunden: 400 Seiten
Originaltitel: The Chronicles of the Imaginarium Geographica – Here there be dragons, 2006
Aus dem Englischen von Michaela Link.
ISBN-13: 9783570130155

https://www.penguin.de/Kinder-und-Jugendbuchverlage-cbj-&-cbt/aid77972.rhd

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)