Parker, Robert B. – Small Vices – Ein Spenser-Krimi

_Kinder, Rassismus, Auferstehung: Spenser als Lazarus_

Spenser wird von Staatsanwältin Rita Fiore mit einem anderthalb Jahre alten Fall betraut, denn es bestehen Zweifel, ob der verurteilte Schwarze wirklich der Täter war. Er soll eine weiße Studentin auf dem Campus eines Frauen-College ermordet haben. Zwei weiße Graduierte identifizierten ihn, nachdem ein anonymer Tipp eingegangen war und der Schwarze verhaftet worden war. Für Spenser sieht der Fall wie eine abgekartete Sache aus. Aber welcher unsichtbare Drahtzieher will hier wen schützen?

Der deutsche Titel lautet: „Der graue Mann“. Dieser tritt zehn Jahre später im „Spenser“-Krimi „Rough Weather“ (2007) erneut auf.

_Der Autor_

Der US-Autor Robert B. Parker, 1932-2010, gehörte zu den Topverdienern im Krimigeschäft, aber auch zu den fleißigsten Autoren – er hat bis zum seinem unerwarteten Tod im Januar 2010 über 50 Romane veröffentlicht. Am bekanntesten sind neben der „Spenser“-Reihe wohl seine neun „Jesse Stone“-Krimis, denn deren Verfilmung mit Tom Selleck in der Titelrolle wird gerade vom ZDF gezeigt. Parker lebte in Boston, Massachusetts, und dort oder in der Nähe spielen fast alle seine Krimis.

„Jesse Stone“-Krimis:

1) [„Night Passage“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6811
2) [„Trouble in Paradise“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6816
3) [„Death in Paradise“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6815
4) [„Stone Cold“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6810
5) [„Sea Change“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6812
6) [„High Profile“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6813
7) [„Stranger in Paradise“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6814
8) „Night and Day“
9) „Split Image“

Die „Sunny Randall“-Reihe:

1) „Family Honor“
2) „Perish Twice“
3) „Shrink Rap“
4) „Melancholy Baby“
5) „Blue Screen“
6) „Spare Change“

Unter anderem in der „Spenser“-Reihe, die derzeit 39 Romane umfasst, erschienen:

[„Paper Doll“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6818
[„Stardust“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6819
[„Potshot“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6821
[„Walking Shadow“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6820
„Widow’s Walk“, „Hugger Mugger“, „Small Vices“, „Bad Business“, „Back Story“ …

Und viele Weitere.

Außerdem schrieb Parker ein Sequel zu Raymond Chandlers verfilmtem Klassiker „The Big Sleep“ (mit Bogart und Bacall) „und mit „Poodle Springs“ einen unvollendeten „Chandler“-Krimi zu Ende. „Gunman’s Rhapsody“ ist seine Nacherzählung der Schießerei am O.K. Corral mit Wyatt Earp und Doc Holliday, ein klassischer Western.

_Handlung_

Die Bostoner Anwältin Rita Fiore engagiert Privatdetektiv Spenser für einen Fall, der eigentlich schon vor anderthalb Jahren mit einem Urteil abgeschlossen wurde. Der Schwarze Ellis Alves, selbst ein notorischer Verbrecher, wurde womöglich, so die schicke Anwältin, für ein Verbrechen verurteilt, das er nicht beging. Die Anwaltskanzlei möchte Gewissheit haben. Oder Gerechtigkeit?

Der Schwarze Ellis Alves soll die weiße Studentin Melissa Henderson niedergeschlagen, in sein en pinkfarbenen Cadillac (!) verfrachtet und die Strangulierte an anderer Stelle auf dem Campus ihres Colleges in den Büschen versteckt haben. Zwei ihrer Mitstudenten, ebenfalls Weiße, identifizierten Alves bei einer Gegenüberstellung der Staatspolizei von Massachusetts, die Alves verhaftet hatte. Nach einem anonymen Tipp, wie sich herausstellt. Von wem kam der Tipp – das ist die 64.000-Dollar-Frage.

Für die Anwältin mit den schönen Beinen ebenso wie für den Privatdetektiv mit der starken Bewaffnung ist klar, dass Alves höchstwahrscheinlich einer abgekarteten Sache zum Opfer gefallen ist und für den wahren Täter den Kopf hinhalten soll. Alves hat Lebenslänglich erhalten, und das ist wahrlich kein Zuckerschlecken. Bereits nach anderthalb Jahren liegt in seinen Augen keinerlei Hoffnung mehr, jemals wieder rauszukommen. Spenser entschließt sich, das zu ändern.

Spenser findet es merkwürdig, dass Melissa Henderson keinen Freund gehabt haben soll. Die Präsidentin des Colleges verwehrt ihm den Zutritt zu ihren Schützlingen, aber das kümmert ihn nicht: Er spaziert trotzdem in das Wohnheim, in dem Melissa lebte. Sie war offenbar eine wilde Nummer, die alles ausprobierte, was es in ihrem reichen und strengen Elternhaus nicht geben durfte: Drogen, Sex, Discos und so weiter. Sie hatte einen Freund, der aber nur als „prince“ bekannt war.

Dann wird Spenser von der Campus-Polizei hinausgeworfen. Nicht genug damit: Vier grobschlächtige Revolvermänner möchten Spenser auf die harte Tour beibringen, dass er die Finger von der Sache lassen soll, sonst gibt’s was auf die Mütze, klar? Spenser und Hawk werfen sie raus. Spenser notiert sich ihr Nummernschild.

Alves wurde vom Staatspolizisten Tom Miller verhaftet, einem ehrgeizigen und aufstrebenden Cop, der Captain Healy, mit dem Spenser bestens bekannt ist, wohl ablösen will. Nach einem Besuch bei den zwei weißen Zeugen, die Alves, sahen und identifizierten, steht Miller auf der Matte von Spensers Büro – aber nicht um zu reden, sondern um die Fäuste sprechen zu lassen. Denn inzwischen hat Spenser den wahren Namen von Melissas Freund „Prince“ herausbekommen: Clive Stapleton, der schwarzhäutige Adoptivsohn des stinkreichen New Yorker Unternehmers Donald Stapleton und seiner Frau Dina. Nach einem harten Schlagabtausch obsiegt Spenser auch diesmal.

Doch dies ist keineswegs das Ende der Einschüchterungsversuche. Ein seltsam ganz in Grau gekleideter Mann setzt sich ungefragt zu Spenser und seiner Freundin Susan Silverman an den Restauranttisch, um eine allerletzte Warnung auszusprechen. Dann verschwindet er. In New York entgeht Spenser nur durch eine schnelle Reaktion einem Anschlag. Hat der Graue Mann zugeschlagen?

Natürlich kann dieser widrige Zwischenfall einen Kerl wie Spenser nicht davon abhalten weiterzuschnüffeln. Und das wird ihm zum Verhängnis …

_Mein Eindruck_

In diesem „Spenser“-Krimi verknüpft Parker einige heikle Themen, die bis heute gültig sind, und zwar nicht nur in den Vereinigten Staaten. Da ist der alltägliche Rassismus, der dazu führt, dass Verbrecher wie Ellis Alves für Taten verurteilt werden können, die sie gar nicht begangen haben. Die Weißen als herrschende Klasse können sich das Recht ebenso kaufen wie die Gerechtigkeit.

Und an der Ostküste sind die meisten reichen weißen Familien der WASPs (White Anglo-Saxon Protestants) sowieso alle miteinander verwandt und halten deshalb zusammen. Nicht nur gegen Schwarze und andere Minderheiten, sondern auch gegen Cops (die sich ja kaufen lassen) und andere unerwünschte Schnüffler. Das bekommt Spenser am eigenen Leib zu spüren.

Aber der Rassismus reicht viel tiefer. Die Stapletons haben einen afrikanischen Jungen adoptiert, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Das wäre nichts Verwerfliches. Das tut ja beispielsweise Madonna die ganze Zeit. Aber die Stapletons haben es ihren Adoptivsohn ständig spüren lassen, dass er es nötig hat, beschützt zu werden und dass er ihnen etwas für seine Rettung schuldig ist: nämlich ein guter Sohn und Amerikaner zu sein, der Erfolg hat. Clive trainiert hat, um ein Tennisspieler der Weltklasse zu werden, doch wie Spenser selbst sehen kann, hat er zwar Ausdauer, aber keine Geduld, wenn er auf einen Ebenbürtigen trifft. Warum wohl? Seine Eltern haben ihn quasi entmündigt. Das ist ihr verborgener Rassismus.

Aber Spenser muss sich entscheiden, ob er und Susan selbst ein Kind adoptieren wollen. Es ist ihr ausdrücklicher Wunsch. Spenser ahnt, was das bedeuten würde, nicht nur für das Kind sondern auch für die Beziehung zu seiner Freundin, die dann Mutterpflichten zu erfüllen hätte – und für die Beziehung zu Pearl, Susans Hündin, die eh schon eifersüchtig auf Spenser ist. Aber wie soll er dies alles Susan beibringen?

Spenser ist, was er ist, und Susan möchte ihn gar nicht anders haben. Sie ist die Harvard-Absolventin mit der Psychotherapeutenpraxis, er ist ihr Schutz und ihr Lover. Als der Graue Mann Spenser bedroht und dabei Susan anschaut, ist klar, dass Susan unter Personenschutz gestellt wird: Hawk und alle andere schwerbewaffneten Freunde Spensers wachen über sie. Aber wer wacht über Spenser?

Dieser „Spenser“-Krimi unterscheidet sich von allen anderen (es sind mindestens 25) dadurch, dass der Held um ein Haar über den Jordan geht. Das wäre aber irgendwie schade und der Handlung nicht sonderlich förderlich. Also muss Spenser den Lazarus spielen. Das führt zu einem weiteren Unterschied: Die zentrale Handlung wird nach zwei Dritteln scharf unterbrochen und für zehn Monate praktisch auf Eis gelegt. Obwohl von Eis eigentlich keine Rede sein kann, wenn die Rekonvaleszenz des Helden im schönen Santa Barbara, Kalifornien, erfolgt.

Immerhin erkennt Susan jetzt, was es für ein Adoptivkind bedeuten würde, wenn sein Adoptivvater am ersten Schultag erschossen werden würde. Susan ist nicht nur wunderschön, sondern auch als Psychologin äußerst klug und einfühlsam. Solch ein Verlust wäre nicht nur für sie selbst eine Katastrophe, sondern sicherlich auch für das Adoptivkind. Dann sollte sie vielleicht besser diesen Plan fallenlassen. Findet Spenser auch. Und Pearl, der Wunderhund, sowieso.

Auf diese Weise widerlegt der Autor die Absichten der reichen Stapletons. Sie haben gedacht, ihrem Adoptivkind etwas Gutes zu tun. Und zwar so sehr, dass sie einen Totschlag vertuscht und dafür eitere Menschenloben geopfert haben. Sie haben übersehen, dass das Kind noch andere Rechte hat als gute Kleidung, Bildung und Ernährung. Es hat ein Recht auf ihre Liebe, aber auch auf eigene Freiheit. Und beides haben sie ihm verweigert. Es ist ihnen einfach nicht in den Sinn gekommen.

|Action |

Es gibt ein paar packende Actionszenen in dieser Folge der Serie. Nach dem Auftritt der grobschlächtigen Vier versucht der Cop Tom Miller sein Glück. Doch nicht nur er beherrscht Boxen, sondern auch Spenser. Man sehe sich mal die Statur von Autor Parker an – der frühere Literaturprofessor schrieb ein Fachbuch übers Gewichtheben. Und das merkt man auch an seinen fachlich kenntnisreichen Beschreibungen über den Umgang mit Gewichten, um den Muskelaufbau zu fördern.

Aber Spenser kann ebenso wie der Autor auch schießen und auf Beschuss angemessen reagieren. Als Spenser das erste Mal unter Beschuss gerät, verhält er sich wie der ehemalige Marineinfanterist Parker, der im Koreakrieg kämpfte: im Zickzack laufen, anschleichen, von der Seite angreifen. Dass es aber auch mit Köpfchen statt mit Beinchen geht, zeigt dann sein Sieg über den Grauen Mann. Hey, die Festnahme findet vor dem Nachrichtengebäude eines TV-Senders mitten in New York statt – einen größeren Menschenauflauf kann man damit kaum hervorrufen.

|Humor und Sinnlichkeit|

Wie so häufig in seinen Krimis ist sich der Autor der körperlichen Bedürfnisse der weiblichen Figuren intensiv bewusst. Er scheut sich nicht, diese Bedürfnisse mit Eleganz und Zurückhaltung zu schildern. Sie haben Anspruch darauf, auch körperlich geliebt zu werden. (In „Potshot“ lernt Spenser eine ganze Menge von „Desperate Housewives“ kennen.) Und er erwähnt die Wirkung gewisser Männer auf diese Frauen, darunter Spenser dunkler Bruder Hawk. Dass diese Männer keineswegs unter mangelndem Selbstbewusstsein leiden, dürfte einleuchten. Zum Leidwesen der freigebigen Damen befindet sich Spenser allerdings bereits in den festen Händen seiner Freundin.

Zum Thema Kinder gibt es ebenfalls eine köstliche Szene. Susan hat ihre Freundin Elayna eingeladen, die ihre neunjährige Tochter namens Erika mitbringt. Erika ist ein verzogenes Gör und stellt jede Menge Ansprüche an ihre hilflos agierende Mutter. Susan agiert ebenso hilflos, dass sich ihrer eifersüchtigen Hündin Pearl die Nackenhaare aufstellen. Spenser schaut dem Spektakel, das Erika veranstaltet, seelenruhig zu.

Er weiß, was kommen wird und muss nur Pearl davon abhalten, über Erika herzufallen. Als Erika sich Susans seidenen Morgenmantel schnappt und ihn mit Stöckelschuhen zerfetzt, ist das Maximum der Katastrophe erreicht. Erikas Mutter schleift sie nach Hause. Susan und Spenser atmen erleichtert auf. Schade um den Seidenmantel. Aber sie sind eine lehrreiche Erfahrung reicher. Außerdem muss Susan ihren Champagner jetzt unbekleidet schlürfen. Und das ist ein echter Vorteil, findet Spenser.

_Unterm Strich_

Die Handlung dieses „Spenser“-Krimis entwickelt sich mit kontinuierlich wachsender Spannung. Schon der Umstand, dass der Privatdetektiv Fragen stellt an Orten, wo er nichts zu suchen haben soll, führt dazu, dass er dreimal vorgewarnt wird, jedes Mal ernsthafter und eindringlicher. Doch nicht nur er, sondern auch Susan befindet sich in Lebensgefahr. Das kann nicht verhindern, dass es Spenser diesmal erwischt und er fast den Löffel abgibt. Das führt zu einer recht ungewöhnlichen Zäsur in der Geschichte – mit umso größerer Spannung warten wir auf den Showdown mit dem Killer und den Drahtziehern.

Thema dieses Krimis ist diesmal Rassismus in all seinen öffentlichen und privaten, bestens verborgenen Seiten, aber auch Adoptivkinder im allgemeinen. Sollte man ihnen etwas Gutes tun – oder ist das auch schon wieder herablassend? Diese Diskussion wird nur en passant eröffnet und stets in Handlung und Szenen aufgelöst. So etwas wie anstrengende Dialoge gibt es bei Parker einfach nicht. Deshalb ist auch dieser Krimi sehr flott und recht humorvoll erzählt. Die Action kommt ebenso wie Humor und Sinnlichkeit nie zu kurz.

Wer den Vorgänger „Walking Shadow“ (dt. Titel: „Die unsichtbaren Killer“) gelesen hat, wird über den Kontrast zwischen unterprivilegierten Schwarzen, Chinesen und Hispanics gegenüber den weißen Studentinnen am College erstaunt sein. Die Gleichheit und Freiheit der Bürger der USA steht wirklich nur auf dem Papier. Und die Ungerechtigkeit wird jeden Tag aufs neue zementiert, wie zurzeit (November 2010) wieder zu beobachten ist. Es gibt nicht einmal ein ALG II (vulgo: Hartz IV) wie bei uns. Nach 99 Wochen Stütze fallen die Arbeitslosen in ein Loch, wo kein soziales Netz – außer persönlichen Beziehungen – sie auffängt.

|Taschenbuch: 308 Seiten
ISBN-13: 978-0399142444|
[Verlagshomepage]http://us.penguingroup.com/static/pages/publishers/adult/putnam.html

_Robert B. Parker bei |Buchwurm.info|:_
[„Der stille Schüler“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4066

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