Pearl, Matthew – Stunde des Raben, Die

_Fehlzündung: enttäuschende Ermittlung in Sachen Poe_

Baltimore, 1849: Der junge Anwalt Quentin Clark ist ein glühender Verehrer des für seine Schauergeschichten berühmten Edgar Allan Poe. An einem neblig-trüben Herbsttag des Jahres 1849 fährt eine schwarze Kutsche mit einem Sarg vorüber, als er morgens aus dem Haus tritt. Er folgt ihr wie in Trance und wird zufällig Zeuge der tristen Beerdigung seines Idols. Auf eigene Faust versucht er daraufhin, die mysteriösen Umstände von Poes Ableben aufzuklären, und setzt dabei seine ganze Existenz aufs Spiel. (Verlagsinfo)

_Der Autor_

Matthew Pearl, geboren 1977, hat in Harvard, wo ein Großteil der Handlung spielt, Englische und Amerikanische Literatur studiert und 1997 seinen Abschluss |summa cum laude| gemacht. 1998 erhielt er für seine Forschungen den Dante-Preis der |Dante Society of America|. Die erste Fassung seines Thrillers „The Dante Club“ schrieb er, während er an der Yale Law School promovierte. Er wuchs in Fort Lauderdale auf und lebt in Cambridge, Massachusetts, wo er Literatur und Kreatives Schreiben unterrichtet. [„Der Dante-Club“, 406 sein erster Roman, erschien in mehr als dreißig Ländern.

_Handlung_

Baltimore am 8. Oktober 1849. Quentin Clark ist ein junger, hoffnungsvoller Anwalt. Eines Morgens tritt er aus seinem Haus, als eine Kutsche mit einem Sarg vorüberfährt. Er folgt ihr, um zu sehen, wer begraben werden soll. Zu seinem Schrecken handelt es sich um sein literarisches Idol Edgar Allan Poe. Nicht nur, dass Clark seine Geschichten und Gedichte, die von der feinen Gesellschaft abgelehnt werden, mag, nein, er hat auch noch in Briefkontakt mit Poe gestanden und wollte ihm beim Projekt einer neuen Literaturzeitschrift unter die Arme greifen. Nach dem Tod seiner Frau Virginia Clemm war Poe von New York City wieder zurück nach Richmond gereist, hatte eine Dichterin kennengelernt und wollte sie heiraten. Doch nun wird Poe in einem Armengrab beigesetzt, und nur eine Handvoll Männer erweist ihm die letzte Ehre.

Doch was hat zum unzeitigen Tod des verehrten Mannes geführt? Clarks mit Misstrauen beäugte Nachforschungen in Baltimore ergeben nur, dass Poe in der Gosse vor einem bekannten Wahllokal gefunden ist und dann ins städtische Krankenhaus eingeliefert wurde, wo er vier Tage später in geistiger Umnachtung verstarb. Was wollte Poe in diesem Wahllokal, wo doch bekannt war, dass Alkohol für ihn pures Gift war?!

Da Clark alleine nicht mehr weiterkommt, verfällt er auf die Idee, dass der berühmte Detektiv, den Poe in drei Erzählungen erwähnte, ihm helfen könnte, das Rätsel von Poes Tod zu lösen. Dieser Detektiv ist laut Poe ein gewisser Monsieur Auguste C. Dupin. In der französischen Hauptstadt kann Clark jedoch nur einen lethargischen Alten namens Auguste Duponte ausfindig machen, der zu Berühmtheit gelangt ist, weil er für die Polizei vor Jahren einige verzwickte Fälle gelöst hat. Der Mann reagiert kaum auf Clarks Bitten und Flehen.

Als Clark schon aufgeben will, taucht wie aus heiterem Himmel der zwielichtige Baron Claude Dupin auf und nimmt für sich in Anspruch, das reale Vorbild für Poes Detektiv zu sein. Clark weiß nicht mehr, was er davon halten soll, doch das politische Pflaster in Paris wird jeden Tag heißer, denn Präsident Napoleon bereitet seinen Umsturz vor, der nur zwei Jahre später zur Einrichtung des Zweiten Kaiserreichs führen soll, mit ihm als Kaiser Napoleon III. Clark verlässt Frankreich an Bord eines Schiffes, auf dem ihn Baron Dupin begleitet – und ein Spion der kaiserlichen Partei.

Aber auch Auguste Duponte hat sich auf den Weg nach Baltimore gemacht. In dem Wettlauf um das geistige Erbe von Poe versucht sich Baron Dupin als Volksheld zu profilieren und so etwas wie eine zweite Existenz aufzubauen. Er hat eine zwielichtige Frau (Mademoiselle Bonjour) und einen Schwarzen in seinen Diensten, die für ihn Clark überwachen und manipulieren. Ein Wettlauf entwickelt sich, in dessen Verlauf die Beteiligten Dupin, Duponte und Clark sowie diverse Nebenfiguren jegliche Skrupel verlieren.

Als der Baron endlich der Bevölkerung von Poes Heimatstadt Baltimore die Wahrheit über den Tod des Dichters verkünden will, kommt es zu einem Attentat. Offenbar gibt es Menschen in der Stadt, welche die Verkündung der Wahrheit zu verhindern versuchen …

_Mein Eindruck_

Mit der Wahrheit ist ja eine knifflige Sache. Erstens erscheint sie jedem anders und zweitens ist sie nicht jedem angenehm und drittens verlangt sie immer einen Preis. Die Bibel sagt zwar „Die Wahrheit wird euch frei machen“, doch an freien Menschen sind die wenigsten Machthaber interessiert. Deshalb ist die Wahrheit immer das erste Opfer eines Krieges.

Die Wahrheit über einen Mann wie Poe herausfinden zu wollen, sieht zunächst nach einem harmlosen Unterfangen aus, und unser Held Quentin Clark, der keine Eltern mehr hat, ist noch grün genug hinter den Ohren, um sich einen baldigen Erfolg vorzustellen. Hätte er sich doch nur einen anderen Mann ausgesucht! Aber nein, es muss ja Poe sein. Der Gespenster-Poe, der verstiegene Dichter, der Verderber der Jugend und Sitten, der schärfste Kritiker von angesehenen Autoren, die Sitte und Moral hochhalten und wunderschöne erbauliche Reime zu schmieden wissen. Poe, der Kranke, der dem Alkohol Verfallene, der seine eigene minderjährige Kusine Virginia Clemm zur Frau nahm! Muss es ausgerechnet Poe sein, Mister Clark?

Es muss, und zwar umso mehr, als alle ihm dabei in die Quere kommen und ihn von seinem Vorhaben abhalten wollen. Vergessen Sie Poe, Mr. Clark! Aber wozu ist er denn Anwalt, der Mr. Clark, und kennt sich mit den Schlichen des Gesetzes aus? Und so begibt sich Clark auf eine lange abschüssige Bahn, die ihn ins Gefängnis und darüber hinaus führen wird. Der Preis der Wahrheit ist mitunter sehr hoch, doch da Clark nicht nur Praxis, Freunde und Verlobte verloren hat, macht es ihm kaum noch etwas aus, unschuldig in den Bezirksknast geworfen, von Sklavenhändlern ausgepeitscht, von französischen Polizisten des Kaisers verfolgt und in einer Regenflut fast ersäuft zu werden.

Clark scheint im Verlaufe dreier Jahre in gewissem Sinn eine Reinkarnation seines Vorbildes zu werden: der Dropout, der Rebell, der Wahrheitskünder, der Spielball unsichtbarer Mächte. Zerrissen zwischen den beiden Polen Dupin, dem ehrgeizigen Schwindler, und Dupont, dem ehrlichen aber lethargischen Kombinierer, weiß Clark bald nicht mehr, ob es so etwas wie Wahrheit geben kann. Dann der Anschlag auf Dupin, gerade in dem Moment, als dieser die ach so heilige Wahrheit verkünden will. Weitere Wirrungen folgen, die erst enden, als sich Dupont endlich dazu bequemt, seine Version der Wahrheit vor Clarks erschöpftem Auge auszubreiten.

Dupont hat die Zeitungen gelesen. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen, doch weder Clark noch Dupin scheinen sich je die Mühe zu machen, die |richtigen| Zeitungen zu lesen. Dupont hat die letzten Lebenstage und -stunden Poes rekonstruieren können und breitet die Wahrheit – Clark glaubt es kaum – in einem fast stundenlangen Monolog vor dem staunenden Zuhörer aus. Mehr darf nicht verraten werden.

|Stärken und Schwächen|

Der Leser erfährt viel über Poe, den Menschen, aber fast nichts über Poe, den Dichter und dessen Werke. Sie werden einfach als bekannt vorausgesetzt, und nur ein- oder zweimal wird daraus zitiert, so etwa aus den Dupin-Geschichten und aus dem Gedicht, das in der Erzählung [„Der Untergang des Hauses Usher“ 2347 steht. Wer also noch nichts von Poe gelesen hat, ist hier auf der falschen Baustelle. Somit richtet sich das Buch an Poe-Experten und -Liebhaber. Sie müssen nichts über Poe, den Menschen, wissen, denn das eruiert ja Clark im Laufe seiner Nachforschungen.

Wir lernen, durch die Augen Clarks blickend, die Stadt Baltimore, ihre wirtschaftliche und geistige Kultur kennen. Im Jahre 1849 herrschen hier immer noch Sklavenhalter, und Sklaven müssen kuschen oder um ihr Leben bangen. Clark verfügt über eine andere Sensibilität und zeigt Verständnis für die Lage der Sklaven, begehrt sogar gegen einen besonders brutalen Sklavenhalter auf.

Der Autor versteht es durchaus, eine Actionszene herbeizuführen und so zu schildern, dass man sie gespannt verfolgt. Leider geschieht dies viel zu selten für meinen Geschmack. Wenn französische Geheimpolizisten, die Clark für einen Spießgesellen des gesuchten Barons Dupin halten, ihm fast den Schädel einschlagen, so wirft dies ein Schlaglicht auf die Verbindungen zwischen den jungen Vereinigten Staaten – der Unabhängigkeitskrieg ist gerade erst 65 Jahre her, der letzte Krieg gegen die Briten erst 37 Jahre – und der befreundeten Nation Frankreich. Dass die Franzosen einem Amerikaner ans Leder wollen, ist eine versteckte Kritik an diesen sogenannten „Freunden“ und an den Machenschaften von Agenten im Allgemeinen.

Die Nachforschungen Clarks ziehen sich hin – sie sollen ja romanfüllend sein. Die größte Enttäuschung in dieser Hinsicht sind nicht die beiden Detektive, die Clark an Land zieht und ins Land bringt, sondern das Fehlen einer großen klaren Einsicht im Sinne eines „Heureka – ich hab’s!“ Stattdessen präsentiert Duponte, wie oben erwähnt, eine ganze Wagenladung voller Hinweise, die zu diesem und jenem Schluss Anlass geben. Seltsamerweise interessierte es mich am Schluss dieser Ausführungen gar nicht mehr, woran denn Poe nun gestorben ist. Es war so, als wäre eine Zündschnur abgebrannt worden – und dann ging sie einfach aus, ohne eine Bombe zu zünden.

Die Strategie, die bei [„Dante-Club“ 406 ausgezeichnet klappte, schlägt hier fehl. Dort sehen sich die Helden der Literatur, die den „heidnischen“ Dante ins Englische übersetzen und damit allenthalben bei den Christen anecken, einer Mordserie gegenüber, die schlussendlich auch sie selbst bedroht. Das führt zu einem spannenden, dramatischen Finale, das mich voll überzeugen konnte. In „The Poe Shadow“ ist nichts eindeutig und alles vorläufig, leider auch die finalen Erkenntnisse des Monsieur Dupont. Actionszenen, Drama und Komik wechseln sich in rascher Folge ab, doch entbehren sie jeder Stringenz, so dass sie in den meisten Fällen etwas willkürlich eingestreut wirken. Dass der Anschlag auf Dupin erfolgt, war jedoch wegen der angekündigten Enthüllungen über Poe zu erwarten – eine weitere Fehlzündung.

_Unterm Strich_

Ich könnte nicht unbedingt sagen, dass „Die Stunde des Raben“ eine anstrengende oder zähe Lektüre sei. Es ist nur ein Buch, das man sich auch erarbeiten muss, um den Lohn der Mühe genießen zu können. Der wichtigste und längste Spannungsbogen wird ja durch die Frage aufgebaut: Wie starb Poe? Und diese Frage wird wohlweislich erst im Finale beantwortet, dem dann noch ein unbedeutender Epilog folgt.

Man muss also bis zum Finale bei der Stange bleiben, in der Hoffnung, bahnbrechende Erkenntnisse geliefert zu bekommen. Da dies nicht der Fall ist (sonst hätten es die Medien ja schon längst ausposaunt), kann man sich die Lektüre im Grunde sparen. Sie setzt sowieso die Kenntnis von Poes hauptsächlichem Werk voraus, sonst kann man gar nicht mitreden. Am besten liest man vorher den entsprechenden [Artikel]http://de.wikipedia.org/wiki/Edgar__Allan__Poe in der |Wikipedia|.

Fazit: lehrreich, unterhaltsam, aber letzten Endes unbefriedigend.

|Originaltitel: The Poe Shadow, 2006
576 Seiten
Aus dem US-Englischen von Karl-Heinz Ebnet|
http://www.droemer.de