Phillips, Scott – Irrgänger, Der

Gunther Fahnstiel war einst ein guter Cop, der allerdings schwach wurde, als sich ihm vor vielen Jahren die Chance bot, „schwarzes“ Geld an sich zu bringen, was er so zu arrangieren wusste, dass niemand ihm auf die Schliche kam. Unauffällig gaben er und seine Gattin Dorothy das Geld aus und machten sich ein schönes Leben, bis Fahnstiel an Alzheimer erkrankte und in ein Heim umsiedeln musste.

Die Kosten fressen das unrechtmäßig erworbene Vermögen auf, was Dorothy ihrem Gunther in einer schwachen Stunde eröffnete. In dessen aufweichendem Hirn blieb nur das Wissen um die drohende Geldnot haften. Deshalb macht sich Fahnstiel aus dem Heim davon. Er will zum Versteck und Nachschub besorgen. Dass dieses Geld längst geborgen wurde, hat er vergessen.

Ebenfalls entfallen sind ihm einige Skandale und Morde, in die Fahnstiel, seine Gattin Dorothy, sein ehemaliger Polizei-Kollege und Freund Ed Dieterle sowie seine alte Flamme Sally verwickelt waren. Fahnstiels Flucht rührt an dieser unschönen Vergangenheit. Gern würde Dorothy im Verborgenen halten, wie sie und Gunther einst zu Geld kamen, während Sohn Sydney darauf brennt, das Geheimnis zu lüften. Ähnlich geht es Dieterle, der schon lange Verdacht geschöpft hat. Sally Ogden wäre es gar nicht recht, dass ihre Familie sie als Puffmutter und Prostituierte identifiziert, die für einen der größten Skandale der 1950er Jahre verantwortlich war. Außerdem ist da noch Ex-Gatte Wayne, der ein üblen Mistkerl war und mit einer Kugel im Schädel endete; ein Fall, der nie geklärt werden konnte, wofür Fahnstiel und Dieterle sorgten …

Während Gunther verwirrt aber hartnäckig immer tiefer in seine Vergangenheit vordringt, machen sich Frau und Sohn, Freund Ed, aber auch Sallys nichtsnutziger Schwiegersohn Eric auf die Suche nach ihm. Man findet sich dort, wo Fahnstiel einst sein Geld vergrub – und dessen Eigentümer. Das Finale gestaltet sich jedoch deutlich anders, als die Beteiligten sich dies dachten …

Wer hätte es gedacht – es gibt ihn doch: den Krimi mit originellem Plot, dem eine Handlung voller Überraschungen entspringt. Die Jagd nach einem Schatz, der längst nicht mehr existiert, setzt eine Kettenreaktion auf zwei Zeitebenen in Gang, sorgt für turbulente Verwicklungen in der Gegenwart und rührt Geschehen auf, die fünf Jahrzehnte in eine Vergangenheit zurückreichen und besser dort geblieben wären.

Was sich damals abgespielt hat, enthüllt Verfasser Phillips seinen Lesern nur Stück für Stück und auch nicht vollständig. Immer wieder springt die Handlung von der Gegenwart zurück ins Jahr 1952. Ein junger und gesunder Gunther Fahnstiel setzt sich auf die Spur eines Kriminellen namens Wayne Ogden, der offensichtlich ein großes Ding plant. Kompliziert wird die Sache, weil der Cop mit Waynes Gattin Sally verbandelt ist, die wiederum einen florierenden Hurenring leitet und sich auf Protektion durch Fahnstiel und seinen Kumpel Ed verlassen kann. Irgendwann fliegt die Sache erst auf und dann in die Luft, was gleich mehrere Pechvögel nicht überleben.

Irritiert wird der Leser durch die zunehmend deutlich werdende Erkenntnis, dass Fahnstiels Geld in diesem Geschehen keine Rolle spielt. Es kam erst 1979 in seinen Besitz. Verbindende Gemeinsamkeit ist allein der Ort des Geschehens – die alte Kiesgrube, an deren Ufer Sally ein Vierteljahrhundert zuvor ihre Orgien inszenierte.

An die wiederum dramatischen Ereignisse von 1979 erinnert ein Prolog-Kapitel, mit dem freilich primär diejenigen Leser etwas anzufangen wissen, die Scott Phillips‘ Roman „The Ice Harvest” (2000; dt. „Alles in einer Nacht“; 2005 mit John Cusack, Billy Bob Thornton & Connie Nielsen verfilmt) gelesen haben: „Der Irrgänger“ ist gleichzeitig Fortsetzung und Vorgeschichte der dort geschilderten, ebenfalls höchst kriminellen Abenteuer.

Der ungewöhnlichen Erzählstruktur entspricht ein Plot, der sowohl vorsätzlich als auch vergnüglich mit den Regeln des Genres spielt und sie mehr als einmal bricht. Der „schwarze“ Krimi schert sich seit jeher weder um Gesetz & Moral, ist politisch unkorrekt und dadurch vergleichsweise realistisch. Die Protagonisten wirken wie Marionetten eines Schicksals, dessen Ziel von Anfang an festzustehen scheint: Das Leben kennt keine Gewinner, nur Überlebende, und die sind meist nicht zu beneiden.

„Der Irrgänger“ mildert die Unbarmherzigkeit dieser Prämisse durch einen lakonischen, fast dokumentarischen Stil und einen trockenen Humor, der die eigentlich kaum witzig zu nennende Handlung angenehm konterkariert. Scheitern, Untreue, Verlust, Angst – diese und andere Elemente des „Crime Noir“ sind vorhanden; sie werden ergänzt durch das vergleichsweise moderne Schreckgespenst Alzheimer. Doch im Unglück lässt sich – vor allem dann, wenn man nicht selbst betroffen ist … – in der Regel viel Komisches erkennen, das Phillips ausgezeichnet herauszuarbeiten vermag: Gelächter als befreiende Reaktion auf ein Geschehen, das ansonsten Fassungslosigkeit erzeugt, wirkt selten so „logisch“ wie bei der Lektüre dieses Buches.

Dazu passt die Auflösung des Plots, in deren Verlauf Phillips sämtliche Erwartungen seiner im Genre geschulten Leser aushebelt und durch eine Handlung ersetzt, die gleichermaßen verwirrt wie begeistert: Zumindest der erfahrene und häufig enttäuschte Krimi-Freund freut sich darüber, wie Klischees vermieden werden.

Selbstverständlich könnte man meckern: Phillips ist manchmal ein wenig zu auffällig um „richtige“ Literatur bemüht. Puristen unter den Leser könnten sich fragen, ob sie es hier überhaupt mit einem Krimi zu tun haben oder ob sich ein Schriftsteller nur der Stilelemente des Krimis bedient, um einem ansonsten dem belletristischen Mainstream verpflichteten Roman ein breiteres Publikum zu verschaffen, das ihn sonst mit Missachtung gestraft hätte. Das Urteil mögen die Fachleute sprechen, die für Diskussionen dieser Art leben. Dem „normalen“ Leser sei gesagt, dass „Der Irrgänger“ auch ohne Legitimation seitens der Literaturwissenschaft ein Buch ist, das die Lektüre lohnt – selbst der Laie erkennt, dass er (oder sie) nicht mit dem üblichen Krimi-Seifenoper-Brei abgespeist wird.

Ein großartiger, tragischer, witziger „Held“ ist dieser Gunther Fahnstiel: ein harter Bursche, dessen Hirn sich in Weichkäse verwandelt. Die Alzheimersche Krankheit ist ein Grauen, über das man aus abergläubischer Angst nur ungern spricht, weil dies sie heraufbeschwören könnte. Doch Alzheimer gehört längst zum modernen Alltag, und die Zahl der Betroffenen sowie ihrer traumatisierten Familienmitglieder steigt kontinuierlich.

Ob Scott Phillips korrekt wiedergibt, was einem Mann wie Fahnstiel durch den Kopf gehen könnte, ist nebensächlich. Viel wichtiger ist, dass er deutlich macht, was Alzheimer bedeutet: die Auslöschung des Gedächtnisses, was zunächst die Gegenwart betrifft und sich dann in Richtung Vergangenheit fortsetzt, wobei die Fragmente der Erinnerung sich mischen und neu ordnen, während das absterbende Gehirn versucht, eine gewisse Ordnung aufrechtzuerhalten. Fahnstiel ist der Gefangene seines Hirns, das ihn in eine Art Zeitreisenden verwandelt, für den Jetzt und Einst eine traumähnliche Mischwelt bilden, obwohl er sich manchmal dessen bewusst ist, dass etwas nicht mit ihm stimmt.

Ähnliche Glanzleistungen gelingen Phillips mit den Figuren Wayne Ogden und Eric Gandy. Odgen ist ein Schurke, wie er selten geschildert wird: ein moralisch bis ins Mark verkommener Krimineller, den man wegen der Konsequenz seiner Verbrechen schon wieder schätzt. Für Wayne gibt es kein Gesetz. Er lebt ausschließlich nach eigenen Regeln, die nur seinen Vorteil berücksichtigen. Daraus macht er keinen Hehl und entwaffnet damit manchen potenziellen Gegner – bis er an jemanden gerät, dessen Kodex Wayne falsch einschätzt.

Eric Gandy ist Waynes modernes Gegenstück, dem allerdings das Talent zum Verbrecher völlig abgeht. Geldgierig und verlogen ist er, doch ihm mangelt es am nötigen Geschick. Sogar der senile Gunther schlägt ihm mehrfach peinliche Schnippchen. Eric ist ein Loser, fast tragisch, doch zu seinem Pech vor allem lächerlich, so dass man ihm gönnt, was auf seine geplagtes Haupt niederprasselt.

Ebenso geschickt setzt Phillips die übrigen Figuren seiner Tragikomödie in Szene. Sie haben alle Dreck am Stecken, was sie freilich trotz aller Fehler noch sympathischer wirken lässt. Die Abwesenheit des moralisierend erhobenen Zeigefingers hinterlässt eine Leere, die wunderbarer kaum sein kann und den Lesespaß an einem Roman komplettiert, der es keinesfalls verdient, in der Flut der Taschenbuch-Krimis unterzugehen, die sich Monat für Monat über leider allzu konservative Leser/innen ergießt.

Scott Phillips (geb. 1961 in Wichita, US-Staat Kansas) ist ein Schriftsteller, der sowohl als Literat als auch als Neuerer des Kriminalromans gilt. Sein Werk ist schmal aber qualitativ gewichtig; schon Phillips‘ Debütroman „The Ice Harvest“ (2000; dt. „Alles in einer Nacht“, verfilmt 2005) wurde als „New York Times Notable Book of the Year“ erwähnt und gewann einen „California Book Award“, eine „Silver Medal for Best First Fiction“ und wurde für diverse andere Preise nominiert. Ähnlich erfolgreich wurde die Quasi-Fortsetzung „The Walkaway“ (2002; dt. „Der Irrgänger“). „Cottonwood“ (2003) spielt in der Zeit des „Wilden Westens“.

Scott Phillips lebte viele Jahre in Paris und zog später nach Südkalifornien, wo er sich als Drehbuchschreiber für Hollywood versuchte; unter dem Titel „Crosscut“ wurde 1996 immerhin eines realisiert. Heute lebt Phillips mit seiner Familie in St. Louis. Über seine schriftstellerischen Aktivitäten informiert seine Website http://scottphillipsauthor.com.

http://www.knaur.de

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