Pullman, Philip – Bernstein-Teleskop, Das (His Dark Materials 3)

Band 1: „Der Goldene Kompass“
Band 2: „Das Magische Messer“

Fast doppelt so dick wie der zweite Teil kommt Philip Pullmans „Das Bernstein-Teleskop“ daher, das die Trilogie „His Dark Materials“ um das Mädchen Lyra und den Jungen Will abschließt. Am Ende von „Das Magische Messer“ wird Lyra entführt, Will begegnet währenddessen seinem Vater kurz vor dessen Tod, den er die ganze Zeit über gesucht hat. Immerhin kann dieser ihm noch einiges über das Messer, das durch alle Welten hindurchschneiden kann, berichten, denn Will, der nun der offizielle Träger dieses Messers ist, hat jetzt eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, die über die Zukunft aller Welten bestimmen wird.

Will und Lyra sind nur zwei Figuren im Spiel der Mächte, doch zwei bedeutsame, um die sich beide Seiten in dem bevorstehenden Kampf reißen. Es ist ein Kampf zwischen der Kirche und allen Abtrünnigen, die sich gegen die Intrigen und Machenschaften der Oberhäupter auflehnen. Und neben Will und Lyra, die sich bereits für den Kampf gegen die Kirche entschieden haben, müssen sich auch alle anderen Bewohner der zahlreichen Welten entscheiden, wo sie sich positionieren. Die Gypter, Bären, Hexen und Engel, die sich schließlich um die Kinder versammeln, wählen die Seite des Widerstands, müssen sich jedoch einem starken Feind stellen, denn ihnen steht kein Geringerer als der Allmächtige selbst gegenüber – bedrohend auf einem schwebenden Wolkenberg, der einer mobilen Festung gleicht und scheinbar durch nichts aufgehalten werden kann.

_Inhalt_

Während Will den Tod seines Vaters noch zu verarbeiten versucht, bekommt er unerwarteten Besuch. Mit Balthamos und Baruch erscheinen ihm zwei Engel, die ihn davon zu überzeugen versuchen, Lord Asriel aufzusuchen. Denn als Träger des Magischen Messers, eines Werkzeugs und einer Waffe, der kein Gegner gewappnet ist, könnte er über Sieg und Niederlage im bevorstehenden Krieg entscheiden. Doch Will ist nicht bereit, alles hinter sich zu lassen. Seine Reise durch die Welten hat ihn eng mit Lyra verbunden, und als er bemerkt, dass sie spurlos verschwunden ist, kann ihn niemand davon abbringen, sie als Erstes zu suchen.

Da die Engel ihm trotz ihrer Erfahrung und Weisheit unterlegen sind – schließlich haben sie keinerlei physischen Körper mehr -, willigen sie ein, als er ihnen einen Vorschlag unterbreitet: Will ist bereit, sich zu Lord Asriels Festung zu begeben, wenn die beiden Engel ihm dafür zuvor dabei helfen, Lyra zu finden und sie wieder in Sicherheit zu bringen. Sofort erkunden die Engel die Umgebung und können das Mädchen nach einiger Zeit tatsächlich ausmachen. Mrs. Coulter, Lyras eigene Mutter, hat das Mädchen entführt und hält es mit einem Schlaftrank in einer verlassenen Höhle fest. Richtig, keinem schmucken Palast oder einer gepanzerten Festung, denn die einst so starke und mächtige Frau versteckt sich und ihre Tochter nicht nur vor Lyras Freunden, sondern auch der Kirche, welche die Prophezeiung, Lyra könnte die nächste Eva sein, verhindern und das Mädchen töten will. Dafür sprechen sie sogar einen von ihnen von allen Sünden frei, die er auf sich laden wird, denn er soll in ihrem Namen das Mädchen ermorden. Will muss sich also beeilen, will er Lyra rechtzeitig aus den Fängen Mrs. Coulters befreien, bevor es möglicherweise andere vor ihm tun, die hinter ihr her sind.

Was in Lyra derweil vorgeht, erfährt der Leser am Ende eines jeden Kapitels in kurzen Abschnitten, welche die Gedankenwelt des Mädchens beschreiben. Über ihre Träume gelingt es Lyra, Kontakt zu ihrem alten Freund Roger aufzunehmen, der, da er bereits in „Der Goldene Kompass“ starb, im Reich der Toten anzutreffen ist. Ihre geistige Verbindung ist jedoch so stark, dass sie sich über diese Schranken hinaus miteinander verständigen können und sowohl Lyra als auch Roger einiges über den jeweils anderen erfähren. Nicht zuletzt wird durch dieses mentale Gespräch auch der Grundstein für einen neuen Handlungsstrang gelegt, da nach Lyras Befreiung aus ihrem ungewollten Schlaf der Kontakt zu Roger zwar abbricht, sie aber weiß, wo sie ihn finden kann.

Durch Kursivschrift vom üblichen Text abgegrenzt, verlaufen Lyras Gedanken über mehrere Abschnitte, aber jeweils nur für wenige Zeilen. Mitten im Satz wird der Text unterbrochen und dann am Ende des nächsten Kapitels wieder aufgenommen. Neben der rein erzähltechnischen Besonderheit, ein Kapitel gewissermaßen über mehrere andere zu verteilen und dadurch einen zweiten Spannungsbogen aufzubauen, wird durch diese Anordnung der zeitliche Ablauf der einzelnen Handlungen nachvollziehbarer. Denn während die Realzeit normal verläuft, sprechen Lyra und Roger innerhalb ihrer Traum- bzw. Todeswelt nur einige Sätze. Schließlich geht dieses Gespräch etwa zu dem Zeitpunkt zu Ende, als Lyra (in der Realwelt) aus ihrem Schlaf befreit und dadurch in die Wirklichkeit zurückgeholt wird. Jetzt heißt es handeln, denn durch die Befreiungsaktion ist kostbare Zeit verloren gegangen, die Wills und Lyras Feinde genutzt haben, um den Schlag gegen Lord Asriel vorzubereiten. Der Allmächtige hat bereits seine besten Kämpfer ausgesandt, nun will er selbst eingreifen.

_Bewertung_

Philip Pullman bleibt seinem Stil treu. Statt auf altbewährte Fantasy-Klischees zu setzen, präsentiert er auch in „Das Bernstein-Teleskop“ ein Universum, das fremdartig und faszinierend, aber doch zugleich vertraut wirkt. Neben den bereits aus den ersten Büchern bekannten Welten gesellen sich neue hinzu, lassen sich jedoch, da immer öfter von der einen in die andere Welt gewechselt wird, nur noch schwer voneinander unterscheiden. Gut, wenn sich der Leser in solchen Momenten zumindest an die lieb gewonnen Charaktere klammern kann, die allesamt ihre Rolle in dem weltenumspannenden Komplott zu finden versuchen. Da begegnet man dem Panzerbären Iorek, der Wissenschaftlerin Mary Malone und der Hexe Serafina Pekkala. Und natürlich einer Vielzahl neuer Figuren, etwa den beiden Engelsgestalten Balthamos und Baruch, die Will auf seiner Reise treue und wichtige Gefährten werden. Etwas später stoßen die Gallivespier Chevalier Tialys und Lady Salmakia hinzu, kleinen Wesen, die dank ihrer geringen Größe Verwirrung bei den Feinden stiften können, oder auch die fremdartig wirkenden Mulefa, die sich ihre Krallen zunutze machen und große, runden Samen als fahrbare Räder benutzen. Zudem sind sie etwas ganz Besonderes, denn sie haben sich mit dem Staub, einer Substanz, deren Geheimnis bisher noch nicht gelüftet werden konnte, arrangiert und leben gewissermaßen mit diesem in Symbiose.

So bunt und farbenfroh, so originell und einfallsreich Pullman auch in „Das Bernstein-Teleskop“ erneut mit seiner Geschichte und den Lebewesen zu überzeugen weiß, der ganz große Wurf gelingt dem Autor in seinem Abschlussband leider nicht. Denn allein schon die Dicke des Buches (im Vergleich zu den ersten beiden Bänden) zeigt: Pullman braucht viel Platz, um die Handlung in die gewünschte Bahn zu lenken und zu einem würdigen Ende zu bringen, so dass die Leichtigkeit der früheren Bände darunter leidet. Die vielen Nebenereignisse, die noch untergebracht werden sollen, die vielen Charaktere, die bereits eingeführt wurden, ihre Geschichte aber noch nicht beenden konnten, und vor allem der komplette Rahmen um die kirchlichen Machenschaften, der dem Autor als Zielscheibe für seine gesellschaftspolitische Kritik dient, überfrachten den Roman dermaßen, dass er die Qualität seiner Vorgänger nicht mehr erreichen kann. Der Autor hat sich trotz aller literarischen Qualitäten übernommen.

Bot „Der Goldene Kompass“ vor allem eine homogene Abenteuergeschichte und weitete „Das Magische Messer“ diese zu einer spannenden Verknüpfung mehrerer Welten aus, die sich gegenseitig beeinflussten, so fährt Pullman nun alle Geschütze auf und verstrickt sich in noch mehr Welten, noch mehr schicksalhaften Begegnungen und einem überbordenden Kirchen-Konflikt, der die Handlung entscheidend prägt, sich jedoch zugleich als ihr schwächstes Glied herausstellt.

Weniger wäre hier mehr gewesen, doch muss man Pullman zugestehen, dass sich diese Entwicklung bereits ins „Das Magische Messer“ abgezeichnet hatte und danach kaum mehr umzukehren war. So versucht er die losen Fäden zusammenzuführen, schafft dies jedoch nicht in der erhofften und den ersten beiden Bänden angemessenen Weise. Sieht man über die Komplexität, die vor allem jugendliche Leser überfordern könnte, und die Darstellung der Kirche, die hier nicht mehr nur im Hintergrund agiert, sondern offen zutage tritt, ab, ist und bleibt der Roman ein Werk, das so manch anderes in den Schatten stellt. Sich an neuen Wegen zu probieren und keine 08/15-Geschichte zu schreiben, muss dem Autor hoch angerechnet werden, auch wenn dies bisweilen zu einigen erzähltechnischen Problemen führt.

Lesenswert ist „Das Bernstein-Teleskop“ aber allemal, nicht zuletzt, weil „His Dark Materials“ hier sein Finale findet, das dann doch wieder zufriedenstellen kann. Obwohl am Ende die richtige Seite gewinnt, gibt es aber kein richtiges Happy End, so viel sei verraten. Was bei Harry Potter (etwa im Tod des Zaubererlehrlings) schlichtweg fehl am Platz wäre, macht in dieser Trilogie jedoch durchaus Sinn und verleiht dem Roman zum Schluss, aller Längen und schwer verdaulichen Passagen zum Trotz, eine würdige Note, die dem Buch allerdings schon früher gutgetan hätte.

http://www.heyne.de
http://www.philip-pullman.com/
http://www.goldencompassmovie.com/

|Siehe ergänzend dazu auch:|
[„Graf Karlstein“ 3374
[„Ich war eine Ratte“ 3880