Philip Pullman – Der Goldene Kompass (His Dark Materials 1)

Auftakt zur Bestseller-Saga

In Oxford lebt ein Mädchen namens Lyra in einem altehrwürdigen Internat. Lyra ist klug, wild, unendlich neugierig und stößt bei ihren Erkundungen auf beunruhigende Dinge: Was erforscht ihr geheimnisvoller Onkel Lord Asriel oben im eisigen Norden Europas? Und warum verschwinden in der Gegend um Oxford immer wieder Kinder?

Als schließlich auch noch ihr Freund Roger entführt wird, begibt sich Lyra auf eine abenteuerliche Suche nach ihm. Die Reise führt sie in den hohen Norden, wo Panzereisbären eine uneinnehmbare Festung bewachen. Verfolgt wird Lyra von der ominösen Wissenschaftlerin Mrs. Coulter, die ein ganz eigenes Interesse an den Kindern hat. Als Wegweiser erhält Lyra einen magischen „Goldenen Kompass“, der ihr bei der Suche nach der Wahrheit ein nützliches Instrument ist.

Der Autor

Philip Pullman wurde 1946 in Norwich geboren. Er wuchs in Australien, Zimbabwe, England und Wales auf. Nach der Schule studierte er Englisch am Exeter College in Oxford und unterrichtete danach zunächst am Westminster College. Mittlerweile hat er sich hauptberuflich der Schriftstellerei zugewandt und schreibt vor allem Kinderbücher und Kurzgeschichten.

Sein bekanntestes Werk ist die derzeit verfilmte Trilogie „His Dark Materials“, bestehend aus den Romanen „Der Goldene Kompass“, „Das Magische Messer“ und „Das Bernstein-Teleskop“. Die Trilogie wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit der Carnegie Medal. Für sein Gesamtwerk erhielt Pullman 2005 den Astrid-Lindgren-Gedächtnispreis.

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Handlung

Lyra Belacqua ist zwar erst zwölf Jahre alt, kennt aber schon den Unterschied zwischen Gut und Böse sowie zwischen aufgepropften Verhaltensregeln und ihrem eigenen Sinn für Recht und Wahrhaftigkeit. Das rebellische Waisenkind lebt am Oxforder Jordan College für experimentelle Theologie, und weil sie das Kind von Adeligen ist, wird sie von den diversen Dozenten hier unterrichtet. Ihr Onkel, Lord Asriel, hat sie hergebracht und schaut ab und zu nach ihr.

Wann immer sie kann, spielt sie mit den Kindern der Gypter in der Unterstadt, mit ihrem besten Freund Roger oder mit ihrem Daemon Pantalaimon. Dieser ist Teil ihrer Seele und kann sich in verschiedene Gestalten verwandeln. Alles, was Lyra fühlt, fühlt auch Pan, und umgekehrt. Wenn sie also ihre Gefühle verbergen will, muss sie Pan verstecken. Aber wer will das schon? Schließlich hat jeder Mensch so einen Daemon. Nur bei den Erwachsenen können sich die Daemonen nicht mehr verwandeln, sie habe ihre endgültige Gestalt gefunden. Ein Rätsel, über das Lyra noch nie nachgedacht hat. Aber das soll sich schon bald ändern.

Zunehmend hört Lyra von verschwundenen Kindern, so etwa von Ma Costas verschwundenem Sohn Billy. Ma Costa, die Gypterin, ist praktisch ihre Ziehmutter. Eines Tages verschwindet auch Roger, und das macht Lyra wirklich besorgt. Unter den Gyptern gehen Gerüchte von mysteriösen Gobblern um und dass die Entführten in ein Forschungslabor im hohen Norden verschleppt würden, wo man sie unaussprechlichen Experimenten aussetzt.

Staub

Als Onkel Asriel aus dieser Gegend zurückkehrt und vor einem Komitee des Jordan College einen erstaunlichen Vortrag über ein Phänomen namens „Staub“ hält, bittet Lyra ihn, mitkommen zu dürfen, denn sie will ja Roger wiederfinden. Doch er lehnt kategorisch ab, weil es zu gefährlich sei. Da oben am Pol gäbe es wilde Tataren und räuberische Samojeden, von den Hexen aus Lappland ganz zu schweigen.

Aber Lyra bekommt eine zweite Chance geboten, als eine Wissenschaftlerin aus der Stadt das College besucht: Die attraktive Forscherin Mrs. Coulter zaubert Lyra aus ihrer bisherigen Umgebung fort und lockt sie mit Londoner Abenteuern. Mrs. Coulter hat einen goldenen Affen als Daemon, mit dem sich Pantalaimon gar nicht anfreunden mag. Warum nur?

Der Goldene Kompass

Kurz vor ihrer Abreise mit dem Luftschiff übergibt der besorgte Rektor des Jordan College Lyra ein ungewöhnliches Instrument: ein so genanntes Alethiometer. Was aussieht wie ein goldener Kompass, soll ihr verraten, wann jemand die Wahrheit sagt oder lügt, aber auch viele Dinge, die sie nicht sehen könne. Wie sie das Alethiometer liest, muss sie allerdings selbst herausfinden. Und ganz wichtig: Sie müsse es stets geheimhalten, zumindest vor Menschen, denen sie nicht völlig vertraut.

Als sich in London herausstellt, dass Mrs. Coulter keineswegs unabhängig agiert, sondern eine Dienerin der tyrannischen Magisterium-Kirche ist, versucht Lyra verzweifelt, das kostbare Alethiometer in Sicherheit zu bringen. Doch der goldene Affe hat es bereits gesehen und ihr beinahe abgeluchst. Sogar Pantalaimon wird von dem Affenvieh überwältigt und fast verletzt. Die schmerzerfüllte Lyra weiß nun, dass es nur einen Ausweg gibt, der Tyrannei Mrs. Coulters zu entgehen: die Flucht.

Die Gypter

In der großen Stadt und dann noch bei Nacht verirrt sich Lyra in die zwielichtige Hafengegend. Zwei Kinderfänger verfolgen sie, doch als sie schon in deren Netz zappelt, durchbohren plötzlich Pfeile die Häscher und jemand schneidet die Maschen des Netzes entzweit: Es sind Gypter aus der Familie Costa – ihre Freunde! Sie verstecken die gesuchte Lyra und ihren Daemon unter Deck, dann fahren sie zu einem Schiff auf hoher See, auf dem der Chef der westlichen Gypter Lyra freundlich empfängt. John Faa und sein Freund Farder Coram, der Seher, sind die ersten anderen Menschen, denen Lyra ihr Alethiometer zeigt. Erstmals erkennt sie, wie man es bedient.

Iorek

Die Reise geht nach Norden. In Trollsund am Polarkreis lernt Lyra den Aeronauten Lee Scoresby kennen, der ihr einen Tipp gibt, wo sie einen Freund findet: den Panserbjörn Iorek Byrnison. Doch der Eisbär ist nur am Reparieren von Schlitten interessiert und will nichts mit Fremden wie Lyra und Forder Coram zu tun haben. Dabei lebt er nur von Fraß und Schnaps, den ihm ein Wirt als Bezahlung für seine Dienste gibt. Ist das ein würdiges Leben? Lyra überredet Iorek, indem sie ihm verrät, wo seine Rüstung versteckt ist. Dafür gelobt er ihr Treue, denn statt eines Daemons haben Panserbären ihre Seele in der Rüstung.

Bolvangar

Sobald er diese unter erheblichem Aufruhr wiedergeholt hat, können alle losziehen. Ihr erstes Ziel ist Bolvangar, dann Svalbard, wo Lord Asriel gefangen gehalten wird. Doch Bolvangar wird verteidigt, wie Lyra und die Gypter schon bald erfahren müssen. Ein nächtlicher Überfall lässt Lyra in die falschen Hände geraten. Wird sie ihren Freund jemals wiedersehen?

Mein Eindruck

Das ist also der Auftakt zu einer der besten Fantasytrilogien der letzten Jahre. Über die bemerkenswert gut besetzte, aber eher gefloppte Verfilmung habe ich an anderer Stelle bereits berichtet. Doch da das Buch ganz anders aufgebaut ist als die Filmhandlung und auch einen völlig anderen Schluss aufweist, ist es vielleicht angebracht, noch ein paar Worte zur Geschichte, die das Buch bietet, zu verlieren.

Im Buch besteht der ominöse „Staub“ aus so etwas wie Elementarteilchen dunkler Materie. (Daher auch der Trilogie-Titel „His DARK Materials“, ein Zitat aus Miltons Gedicht „Paradise Lost“ aus dem 17. Jahrhundert.) Dieser Staub ist auf einem Fotogramm, das Lord Asriel von seiner Expedition nach Spitzbergen – hier „Svalbard“ genannt – mitgebracht hat, nur in Erwachsenen, aber nicht in Kindern zu finden. Der Unterschied hat weitreichende Folgen.

Das Phänomen hat eine theologische Bedeutung, die dem konservativen Magisterium überhaupt nicht behagt: Der Staub wird als Stoff der Erbsünde interpretiert. (Erbsünde: Eva und Adam aßen vom Baum der Erkenntnis und erkannten, dass sie nackt waren und schämten sich und verstießen ganz allgemein gegen das Gebot Gottes etc., wofür sie von einem Engel in den Hintern getreten wurden. Fortan sollten sie wie die Schlange, deren Verlockung sie erlagen, „Staub“ fressen …) Kinder sind unschuldig und wissen nichts von der Erbsünde, daher lässt der Staub sie in Ruhe. Erwachsene hingegen, da erfahren, sind der Erbsünde teilhaftig und werden deshalb vom Staub heimgesucht. Das Fotogramm, entwickelt mit einer besonderen Entwicklerflüssigkeit, beweist es.

Um herauszufinden, welche Bedeutung dabei den telepathischen Daemonen zukommt, die sich bei den Erwachsenen nicht mehr verwandeln können, stellt die GOB im Auftrag oder zumindest mit stillschweigender Billigung des Magisteriums Experimente mit Kindern an. Dabei trennt sie diese mit Hilfe einer speziellen Apparatur von ihren Daemonen.

Dass die so behandelten Kinder dabei ihre Seele verlieren, versteht sich von selbst. Sie laufen herum wie Zombies. Wenn sie überhaupt laufen können, denn viele sterben durch den schrecklichen Verlust. Dies ist eine weitere Sünde, derer sich die Erwachsenen, die eh schon den Sündenfall hinter sich haben, schuldig machen. In jedem Fall sind Kinder die Opfer. Die Aufgabe der Trilogie ist es als Fantasy, diesen ungerechten Zustand der Welt wieder zu beheben und so die Kinder von diesem Fluch zu erlösen.

Doch wie verhält es sich mit der Seele der kleinen Lyra? Dass Mrs. Coulter ihre Mutter ist und Lord Asriel ihr Vater, erfährt Lyra im Chris Weitz‘ Film erst sehr spät, sozusagen in der Stunde höchster Not. Im Buch hingegen teilt man ihr dies bereits schon ziemlich früh mit, in einem der ausgedehnten Dialoge, ohne dabei viel Faxen zu machen. Lyra ist buchstäblich hin- und hergerissen.

Die persönliche Wahrheit

In theologischer Hinsicht ist sie ein Kind der Sünde, das im geistigen Exil (fern von Vater und Mutter) aufwächst und dringend der Erlösung bedarf. Doch gewisse Mächte – nicht zuletzt der Autor – setzen sie lieber dafür ein, dass Lyra ihrerseits die Welt erlöst. Sie ist nicht gerade eine Jesusfigur, und auch kein Messias, von einer Maria Magdalena ganz zu schweigen.

Doch mit dem Alethiometer, dem Wahrheitsmesser, besitzt sie ein mächtiges Instrument, das ihr einen unschätzbaren Vorteil gegenüber allen anderen „Besitzern der Wahrheit“ verleiht. Es ist die Kenntnis der eigenen, persönlichen Wahrheit, nicht die vermittelte, zensierte und verstümmelte Wahrheit, welche die Kirche erlaubt. Die theologischen Implikationen sind völlig klar: Lyra ist eine Gnostikerin. (Gnosis bedeutet Erkenntnis und Wissen. Die Gnostiker wurden anno 323 auf dem Konzil von Nicäa als Ketzer aus der Kirche ausgeschlossen. Alles Nähere liefert die Wikipedia.) Damit steht der Autor im Widerspruch zu den christlichen Lehren, die zugelassen, also orthodox sind.

Die Panserbjörn

Auch die Panserbjörn leben in einem Zustand der Ungerechtigkeit, der zu beheben ist. Dazu muss Iorek, der Prinz im Exil, den Thronräuber töten. Lyra hilft ihm bekanntlich dabei. Auf einem der unzerstörbaren Panserbjörn zu reiten, muss für Lyra ungefähr das Gleiche sein wie für den Jungen Eragon das Reiten auf Saphira, dem klugen, starken Drachenweibchen. Beide sind jeweils der beste Freund und Beschützer ihres Reiters. Die Szenen, in denen Iorek Byrnison raumgreifend die Schneelandschaft des Nordens durchmisst, sind sehr schön und appellieren an jedes Kind, das auch mal gerne reiten möchte.

Der Zweikampf zwischen Iorek, dem Prinzen im Exil, und Ragnar Sturlusson, der Thronräuber, erfolgt erst nach der Schlacht um die Forschungsstation Bolvangar, nicht davor wie im Film. Die Beseitigung Ragnars macht den Weg frei nach Svalbard, wo Lord Asriel gefangen gehalten wird.

Die Hexen

Lyra gewinnt die Hilfe der Hexen von Lappland. Eine lange Liebesgeschichte hängt daran, die ich dem Leser hier ersparen will. Die Hexen sind im Gegensatz zu ihren männlichen Geliebten unsterblich oder zumindest langlebig. Das erinnert an Tolkiens Elben, die in der Geschichte von Beren und Lúthien (im [„Silmarillion“) 4483 sowie Aragorn und Arwen jeweils Paare aus unsterblichen Elben und sterblichen Menschen darstellen. Die Hexen sind eine Art Frauenorden und haben Charakteristika wie die legendären Amazonen: kämpferisch, bisexuell, stets in Machtkämpfe verstrickt. Marion Zimmer Bradley hätte ihre helle Freude daran gehabt, die in Romanen wie „Die Nebel von Avalon“ einen Orden von weisen Frauen erfand, der christlichen Schwesternorden in nichts nachstand.

Unterm Strich

Die Story der Trilogie ist meiner Ansicht nach nicht für Kinder unter zwölf Jahren geeignet. Die religiösen, theologischen, philosophischen und politischen Erörterungen und Thesen setzen ein erhebliches Maß an Vorwissen voraus, selbst wenn die Tatsache hilfreich ist, dass der Roman seine eigene Welt aufbaut und sie selbst erklärt. Die Geschichte ist für junge Menschen anspruchsvoll und setzt eine rasche Auffassungsgabe voraus.

Wer nur ein Kinderbuch à la „Pippi Langstrumpf“ erwartet, liegt völlig daneben. Vielmehr liegt „Der Goldene Kompass“ auf dem gleichen Level wie Paolinis Fantasyroman „Eragon – Die Drachenreiter“, geht aber in seiner Kritik bestehender Verhältnisse wesentlich weiter. Das heißt aber nicht, dass das Buch nicht zu unterhalten weiß, im Gegenteil. Es ist spannend, bewegend, stellenweise dramatisch. Aber ein Happy-End gibt es in Band eins noch nicht.

Taschenbuch: 412 Seiten
Originaltitel: His Dark Materials 1. Northern Lights, 1995
Aus dem Englischen übersetzt von Wolfram Ströle und Andrea Kann.
ISBN-13: 9783453503076

www.heyne.de

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