Band 1: [„Der Goldene Kompass“ 4268
Der Mittelteil einer als Trilogie angelegten Romanreihe hat meist einen entscheidenden Nachteil: Er kann nicht an die Qualität des ersten und meist auch nicht an das Finale im dritten Teil heranreichen. Während im ersten Buch die Welt und die Charaktere vorgestellt werden und der Leser, sofern er Gefallen an der Handlung und dem Schreibstil des Autors findet, den noch kommenden Ereignissen entgegenfiebert, läuft im letzten Buch die ganze Geschichte ihrem Höhepunkt entgegen. Alle Elemente, die bisher eingeflossen sind, werden zusammengeführt und ermöglichen es erst, die Trilogie als Ganzes zu betrachten. Der zweite Teil steht immer dazwischen, denn er muss die Charaktere weiterentwickeln, den Plot vorantreiben und auf die ein oder andere Weise überraschen, damit der Leser des ersten Buches die Faszination nicht verliert. Er muss aber auch auf den Abschlussband vorbereiten, die Fährten auslegen und alle Fäden weiterspinnen, damit sie am Ende zusammenlaufen können.
Was dem Mittelteil also mangelt, sind meist ein fehlender Beginn und ein fehlender Abschluss, denn er bildet in der Regel nur eine Brücke zwischen denjenigen Büchern, welche die Trilogie letztendlich prägen. Dass dies Philip Pullman in „Das Magische Messer“ nicht passiert ist, lässt sich darauf zurückführen, dass er trotz Berücksichtigung der erzähltechnisch notwendigen, zuvor benannten Elemente mit einigen Traditionen bricht und es schafft, die Geschichte um Lyra aus „Der Goldene Kompass“ zwar fortzuführen, aber mit Will eine völlig neue Hauptfigur hinzufügt, die sich nahtlos in die Handlung einreiht, sie zugleich jedoch um im wahrsten Sinne des Wortes neue Welten erweitert.
_Inhalt_
Der zwölfjährige Will, der aus unserer Welt entstammt, wächst bei seiner Mutter auf. Seinen Vater hat er nie kennengelernt, da dieser vor zwölf Jahren auf einer Reise in den hohen Norden verschwunden ist. Dass trotz der langen Zeit noch kein Gras über die Angelegenheit gewachsen ist, muss der aufgeweckte Junge in dem Augenblick feststellen, als er bemerkt, dass Männer ihn und seine Mutter verfolgen. Um herauszufinden, was sie von ihnen wollen, bittet Will seine ehemalige Klavierlehrerin, auf seine Mutter aufzupassen, um dann alleine ins Haus zurückzukehren und nach Unterlagen zu suchen, hinter denen die Verfolger her sein könnten. In genau diesem Moment brechen die Männer bereits ins Haus ein, doch Will ist schneller, findet Dokumente über seinen Vater und flieht. Ein Verfolger, der ihm in die Quere kommt, kann ihn nicht mehr festhalten, im Gegenteil, er stolpert, fällt die Treppe hinunter und bricht sich das Genick. Will, der es nach draußen schafft, hetzt durch die mittlerweile dunklen Straßen, reist nach Oxford und stößt dann auf ein Tor in eine andere Welt, durch das er, immer noch auf der Flucht, kopfüber tritt – in der Hoffnung, sich dort verstecken zu können.
Will landet in einer fremden Stadt, die seinem Oxford auf den ersten Moment gleicht, dann aber doch anders ist. Alle Hotels, Cafés und Häuser sind verlassen, keine Menschenseele ist zu sehen. Als er sich in einem Hotel niederlässt, entdeckt er jedoch noch eine weiter Person: ein kleines Mädchen, das es ebenfalls in diese Stadt verschlagen hat. Ihr Name ist Lyra, eben jene Lyra, die in „Der Goldene Kompass“ über eine Brücke gegangen ist, um ihrem Vater Lord Asriel zu folgen. Doch im Nebel hat sie seine Spur und verloren und ist schließlich ebenfalls an diesem Ort gelandet. Obwohl Lyra und Will aus verschiedenen Welten stammen (jeweils einem anderen England) und sich in einer dritten Welt gefunden haben, tun sie sich zusammen. Denn Lyra sieht – nach Befragung des Alethiometers – in Will einen Verbündeten, der ihr bei ihrer Suche nach ihrem Vater helfen kann. Will hingegen hofft ebenfalls, auf Lyras Hilfe zurückgreifen zu können. So begeben sie sich durch den noch immer offenen Durchgang zurück in Wills Welt, um Fragen auf ihre Antworten zu erhalten.
Während Will im Museum mehr über die Expedition seines Vaters in Erfahrung bringt, trifft Lyra mit der Wissenschaftlerin Dr. Malone eine wichtige Verbündete. Denn diese forscht mit hochmoderner Technik nach dunkler Materie und damit, wie Lyra durch ihr Alethiometer herausbekommt, nach jenem Stoff, den Lyra in ihrer Welt als Staub kennen gelernt hat. Die Kirche und einflussreiche Politiker wollen hier wie dort der Erforschung dieses Stoffes Einhalt gebieten und verurteilen Männer wie Lord Asriel als Ketzer bzw. verhindern im Fall von Mrs. Malone die weitere Finanzierung ihres Projekts. Die Probleme, vor denen Lyra und Will, wie er schließlich erkennen muss, stehen, gehen weit über jene Welt hinaus, aus der sie stammen, und verknüpfen die tausenden von Welten, die es noch dazwischen gibt. Und auch ihre Gegner – die Männer, die Will verfolgt haben sowie die Oblationsbehörde samt der hinterlistigen Mrs. Coulter, keiner Geringeren als Lyras Mutter – haben das Ausmaß erkannt und beschränken ihre Suche auf die beiden Kinder nicht mehr nur auf ihre eigene Welt.
Neben der Haupthandlung erzählt Pullman die Geschichte einiger Figuren weiter, die in „Der Goldene Kompass“ bereits ihr Debüt gegeben haben und sich nun der Suche nach Lyra verschreiben. An erster Stelle steht die Hexe Serafina Pekkala, die den Umbruch der Welt, ausgelöst von der Überbrückung der Welten, bei ihren Flügen auf dem Besen am eigenen Leib erfährt und schließlich auf einer Ratsversammlung der Hexen dafür plädiert, sich gemeinsam gegen die Kirche und ihre dunklen Machenschaften zu stellen und Lyra zu unterstützen, auch wenn man nicht weiß, wohin es das Mädchen verschlagen hat. Tapfer schlägt sich auch der Aeronaut Lee Scoresby auf die Seite der Widerständler und stellt Nachforschungen an, um die Suche zu beschleunigen und wertvolle Hinweise zu finden, die für einen bevorstehenden Krieg eingesetzt werden können. Denn diesen, da sind sich alle sicher, wird es früher oder später geben, und er wird nicht nur in einer, sondern gleich mehreren Welten ausgetragen werden.
_Bewertung_
Philip Pullman legt mit „Das Magische Messer“ einen zweiten Teil vor, der sich bewusst von der noch stark märchenhaften Stimmung in „Der Goldene Kompass“ löst. Statt die altbewährte Mixtur des ersten Bandes – altbewährt im Sinne von gelungen, denn das Konzept seines Romans war innovativ und neuartig – zu wiederholen, greift Pullman mit der neuen Figur Will und den neuen Welten Stränge auf, welche die Geschichte (auch die des ersten Bandes) in einem völligen neuen Licht erstrahlen lassen. Statt sich auf die Perspektive einer kleinen Heldin zu konzentrieren, wie es im ersten Buch noch zweifellos sinnvoll gewesen ist, um die Welt mit den Augen Lyras zu entdecken, geht Pullman nun um einiges vielschichtiger vor, wechselt ständig zwischen Figuren und Schauplätzen hin und her und verhilft den zu Beginn noch lose, später immer enger verwobenen Handlungssträngen zu noch mehr Rasanz. Da heißt es: mitgedacht, um der Geschichte noch folgen zu können. Dennoch bleibt „Das Magische Messer“ immer verständlich und logisch, es wird lediglich um einiges komplexer. Dies ist aber klar als Vorteil zu sehen, da die gesamte Trilogie dadurch an Qualität gewinnt.
Die vielen Anspielungen, die im ersten Buch etwa die Kirche oder technische Gerätschaften betreffen, gewinnen an Bedeutung und werden stärker ins Zentrum der Geschichte gerückt. Dadurch, dass ein Großteil in unserer gegenwärtigen Welt spielt (bzw. Ende der Neunziger, als das Buch erschienen ist), werden die gesellschaftskritischen Elemente natürlich noch offensichtlicher. Auf der anderen Seite treten die fantastischen Elemente scheinbar in den Hintergrund, was jedoch angesichts neuer Parteien, etwa der Engel oder der Geister, die es auf die Seele von Erwachsenen abgesehen habe, so nicht ganz zutrifft. Pullman hütet sich jedoch, diese als Besonderheit herauszustellen, sondern pflegt sie dermaßen geschickt ein, dass sie als Teil einer der dargestellten Welten wahrgenommen und als gegeben akzeptiert werden. Die Fantastik spielt also nur scheinbar eine untergeordnete Rolle, vielmehr ist sie eingebettet in einen Rahmen, der aus dem üblichen Schema der Fantasy-Literatur ausbricht.
Die Verknüpfung mehrerer Welten und Personen, die über die Grenzen hinaus miteinander in Verbindung treten, ist es, was „Das Magische Messer“ zu einem spannenden und überaus interessanten zweiten Teil macht. Die Erwartungshaltung, die beim Lesen von „Der Goldene Kompass“ auf die Fortsetzung entstanden ist, war eine andere, und so kann es durchaus vorkommen, von der völlig neuen Erzählweise zunächst enttäuscht zu werden. Wer sich darauf jedoch einlässt und sich nicht an die mythische Alternativ-Welt aus dem ersten Teil klammert, wird durch eine Erzählung belohnt, die hinter ihrer einfachen Sprache ein durchaus anspruchsvolles Geflecht ineinander verwobener Handlungsstränge, Anspielungen und plastischer Charaktere bietet.
http://www.heyne.de
http://www.philip-pullman.com/
http://www.goldencompassmovie.com/
|Siehe ergänzend dazu auch:|
[„Graf Karlstein“ 3374
[„Ich war eine Ratte“ 3880