Philip Pullman – Der Rubin im Rauch (Sally Lockhart 1) (Lesung)

Clever und schön: junger, weiblicher Sherlock Holmes

London 1872. Ein typisches Mädchen ihrer Zeit ist Sally Lockhart wahrhaftig nicht. Im Notfall kann sie mit einer Pistole umgehen. Außerdem versteht die 16-Jährige etwas von Zahlen und Finanzgeschäften. Mut und ihren Verstand braucht Sally unbedingt, denn nachdem ihr Vater im Südchinesischen Meer ertrunken ist, erreicht Sally ein rätselhafter Brief, in dem von den „sieben Wohltaten“ die Rede ist. Mit Hilfe des Fotografen Frederick Garland und des Botenjungen Jim Taylor findet sie heraus, dass ihr Vater wegen eines ganz besonderen Rubins ermordet wurde. Doch die Zeit läuft dem Trio davon, denn die „Sieben Wohltaten“ und ihre Diener sind Sally bereits auf der Spur.

Der Autor

Philip Pullman wurde 1946 in Norwich geboren. Er wuchs in Australien, Zimbabwe, England und Wales auf. Nach der Schule studierte er Englisch am Exeter College in Oxford und unterrichtete danach zunächst am Westminster College. Mittlerweile hat er sich hauptberuflich der Schriftstellerei zugewandt und schreibt vor allem Kinderbücher und Kurzgeschichten.

Sein bekanntestes Werk ist die Trilogie „His Dark Materials“, bestehend aus den Romanen „Der Goldene Kompass“, „Das Magische Messer“ und „Das Bernstein-Teleskop“. Die Trilogie wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit der Carnegie Medal. Für sein Gesamtwerk erhielt Pullman 2005 den Astrid Lindgren Gedächtnispreis. Die Verfilmung von „Der Goldene Kompass“ wurde von der Katholischen Kirche als antikatholisch auf den Index gesetzt.

Philip Pullman auf |Buchwurm.info|:

[„Der Goldene Kompass“ 4780
[„Das Magische Messer“ 4285
[„Das Bernstein-Teleskop“ 4309
[„Graf Karlstein“ 3374
[„Ich war eine Ratte“ 3880

Die Sprecherin

Doris Wolters, geboren in Fürth, arbeitet als Schauspielerin sowie als Sprecherin für Fernsehen, Rundfunk und Hörbuchproduktionen. 2007 wurde sie in der Kategorie Beste Interpretin für „Solange noch Liebesbriefe eintreffen“ für den Deutschen Hörbuchpreis nominiert.

Regie führte Thomas Krüger im Studio |Acoustic Media|, Freiburg i. Br., 2008.

Handlung

Sally Lockhart steht im Oktober 1872 vor dem Büro der Firma ihres Vaters in London Cheapside. Ein alter Mann fragt sie nach ihrem Namen, den sie ihm nennt. Der Portier lobt ihren Vater, den Teilhaber der Schiffsmaklerfirma, wegen der er häufig im Fernen Osten unterwegs war. Mr. Selby, der andere Teilhaber, sei nicht da, erfährt sie, wohl aber Mr. Higgs, der Sekretär der Firma. Mr. Higgs kondoliert Sally zum Verlust ihres Vaters im Südchinesischen Meer, wo sein Schiff unterging. Doch Sally hat dringende Fragen, erst nach Mr. Marchbanks, einem Schiffsausrüster im Londoner Hafen, dann den Sieben Wohltaten. Was das wohl sein könnte? Doch sie erhält keine Antwort, denn Mr. Higgs beliebt es, erst nach Luft zu schnappen und dann tot umzukippen.

Sally reißt sich zusammen, indem sie an die Lektionen ihres Vaters denkt, der sie immerhin das Schießen gelehrt hat. Bloß keine Panik! Dann tritt ein kleiner dicker Mann ein, der von der Leiche nicht sonderlich beeindruckt ist: „Mausetot.“ Er stellt sich als Mr. Selby, bevor er Sally weg- und dann den Portier zur Polizei schickt. Der Botenjunge Jim Taylor hat alles mitangehört – Neugier ist sein zweiter Vorname. Nur ihm zeigt Sally den letzten Brief ihres Vaters, in dem Marchbanks und die Sieben Wohltaten erwähnt werden. Jim warnt sie noch vor Mr. Selby, bevor er einen Arzt für Mr. Higgs holen geht – für den Totenschein.

Nach dem Tod ihrer Mutter vor 15 Jahren, die bei einem Aufstand in Indien starb, zog ihr Vater Mathhew Sally auf, lehrte sie Schießen und Buchhaltung. Seit August wohnt sie bei ihrer Tante Caroline Reese, einer strengen Tyrannin, die Sally stets nur mit „Veronica“ anredet, als wäre sie eine Adlige. Über die Heiratsaussichten Sallys wage sie gar nicht zu spekulieren, so düster seien diese. Als Sally beim Rechtsanwalt ihres Vaters vorbeischaut, erfährt sie, dass zu wenig Geld für sie da sei, um auszuziehen. Am nächsten Morgen gibt ihr Mr. Temple, der Rechtsanwalt, einen Brief von Major George Marchbanks: Sie schwebe in Lebensgefahr! Als sie ihn umgehend in Kent besucht, bemerkt sie einen Fotografen, der sich als Frederick Garland vorstellt und den sie nach dem Weg fragt. Er erwähnt, dass eine ältere Frau schon vor ihr nach dem Haus von Mr. Marchbanks gefragt habe. Der Fotograf gibt ihr seine Karte, dann geht sie weiter. Mr. Marchbanks ist ein Heimlichtuer, der Sally gleich zur Rückseite seines Hauses führt. Er habe einen Feind, der sich im Hause befinde und nun auch Sallys Feind sei: eine Mrs. Holland, ihres Zeichens Pensionswirtin am Londoner Hafen. Er gibt ihr ein Päckchen und weist sie an, schnell zu gehen.

Auf dem Rückweg versteckt der nette Fotograf sie vor ihrer Verfolgerin und schickt Mrs. Holland sogar in die Irre. Dafür ist sie ihm einen Gefallen schuldig, findet sie, lehnt aber seine Begleitung ab. Das Päckchen öffnet sie im Zug. Es enthält ein Tagebuch, einen Bericht über die Vorgänge während des Aufstandes in Agrapur und Lucknow vor 15 Jahren, als ihre Mutter starb. Jetzt erfährt sie erstmals von dem verfluchten Rubin des Bösen, der ursprünglich dem Raja von Agrapur gehörte und so viel Unglück über ihren Vater brachte. Doch Sally schläft ein, nachdem ein Mann eingestiegen ist, und als sie im Bahnhof London Bridge erwacht, sind Mann und Tagebuch weg. Nur ein paar Blätter liegen auf dem Boden, auf denen ein lateinischer Satz steht. Bestimmt war der Mann ein Agent von Mrs. Holland, die ebenfalls hinter dem Rubin her ist.

Am nächsten bittet Jim Sally um ein Treffen im Park. Dort sagt er, er habe Besuch von Mrs. Hollands Tochter Adelaide erhalten. Ihr Mutter verlangt den Rubin im Austausch für das Tagebuch ihres Vaters. Die fehlenden Seiten beschreiben das Versteck des Rubins – hier, in London! Als Sally nicht auf den Handel eingeht, lässt Mrs. Holland sie kurzerhand in ihrem Zimmer bestehlen. Der Dieb kommt zwar nicht weit, weil er selbst bestohlen wird, doch Tante Reese glaubt Sally auch nicht, dass sie bestohlen wurde. Was tun? Der Rechtsanwalt kann ihr immerhin sofort 20 Pfund in Geld geben. Aber das Geld für die Teilhaberschaft ihres Vaters an der Firma ist weg – 10.000 Pfund. Wer kann es bloß haben?

Ausgestattet mit Gold und Freizeit, aber ohne Heim, begibt sich Sally zu dem freundlichen und galanten Fotografen Frederick Garland. Der lebt mit seiner Schwester in einem geerbten Haus, wirtschaftet aber schlecht und hat keine Ideen. Na, da kann ihm Sally aber helfen! Und er kann ihr beim Überleben helfen – gut, dass er sich schnurstracks in sie verliebt!

Mein Eindruck

Sally Lockhart hat bei uns noch nicht den Status erreicht, der ihr gebührt und den sie in Großbritannien bereits erreicht hat. „Der Rubin im Rauch“ ist nur der erste einer Reihe von Sally-Lockhart-Krimis, die sich an ein spannungsorientiertes, gebildetes Jugendpublikum wenden. Die viktorianische Epoche ist den englischen Schülern und Studenten so geläufig wie unsereins vielleicht die Zeit von Hermann Hesse und Thomas Mann.

Exotik

Doch wie in den aufregendsten Sherlock-Holmes-Abenteuern wie etwa „Die fünf Orangenkerne“ oder „Das Zeichen der Vier“ kommt ein spezifisch britisches Element hinzu: die koloniale Vergangenheit des Weltreiches. Insbesondere Indien spielt dabei eine zentrale Rolle. Exotik, Phantasie, Sex, Gewalt und Grauen treffen sich in der Vorstellung von diesem Subkontinent, und auch in „Der Rubin im Rauch“ spielt Indien, verkörpert im Dingsymbol des Titels, eine unheilvolle Rolle im Leben der Heldin. Der Rubin bringt, wie der Eine Ring bei Tolkien, das Böse im Menschen zum Vorschein, namentlich in Mrs. Holland, Sallys durchtriebener und skrupelloser Gegenspielerin.

Die Sieben Wohltaten

In einer unglaublich geschickt erzählten und mit verschiedenen Mitteln der Informationsübermittlung präsentierten Backstory entführt uns der Autor in eine koloniale Welt des Orients, die in Südostasien nicht mehr nur exotisch ist wie bei Karl May oder Jack London, sondern bis heute auch bedrohlich: Piraten machen wieder die Meere unsicher. In diesem Milieu entscheidet sich das Schicksal von Sally Lockharts Vater durch die Begegnung mit den „Sieben Wohltaten“. Wer sich mit chinesischen Triaden auskennt – sie werden vielfach in Hongkong-Thrillern präsentiert -, ahnt schon, dass dieser scheinbar positive Name dazu dient, die schlimmsten Gräuel zu verbergen.

Wie unheilverkündend muss also uns und Sallys Zirkel das Auftreten eines Mannes erscheinen, der eben diesen „Sieben Wohltaten“ vorsteht? Es ist, als müsste sich das Verhängnis, das bereits ihren Vater das Leben gekostet hat, nun an Sally wiederholen. Der Autor versteht es wirklich, dem Leser oder Hörer Beklemmung und Angst einzujagen. Wird Sally, die kluge, jugendliche Heldin, diese Begegnung überleben, fragen wir uns bang. Mehr darf nicht verraten werden.

Handfeste Action

Der Schauplatz des viktorianischen Londons und besonders seines Hafens ist vom Autor kenntnisreich mit zahllosen Details beschrieben, so dass es uns nicht schwerfällt, unseren Unglauben gegenüber jeder Art von Fiktion aufzugeben und die Geschichte, so schlimm sie sich auch entwickeln mag, zu verfolgen. Dabei erfordert eben dieses Folgen ein erhebliches Maß an Mitdenken. Der Autor und seine Figuren sind nicht so freundlich, uns jedes Fitzelchen von Information unter die Nase zu halten, damit wir es schlucken. Dies ist beileibe kein Disney-Film, sondern ein handfestes Krimi-Abenteuer, bei dem es durchaus zu Actionszenen kommt, die Opfer fordern.

Die Sprecherin

Doris Wolters verfügt über eine sehr flexible Ausdrucksweise in ihrer Sprechkunst, so dass es ihr gelingt, die unglaublich vielfältige Personal in dieser Geschichte angemessen zu präsentieren: von der boshaften Matrone Mrs. Holland, über den zwielichtigen Mr. Selby bis hin zu den rechtschaffeneren Exemplaren der Menschheit wie etwa Sally, Jim Taylor und natürlich Fred Garland.

Sie verleiht diesen Figuren eine jeweils individuelle Ausdrucksweise, so dass sie nicht nur als Individuen, sondern auch in den zahlreichen dramatischen Szenen zum Leben erwachen. Wenn Sally mit ihren Freunden durch die Docks von London eilt und sich versteckt, fiebern wir daher mit, ob sie entkommen kann oder doch noch in den Händen der Schergen von Mrs. Holland landet.

Aufgrund dieser souveränen Darstellungskunst der Sprecherin war ich deshalb besonders gespannt auf jenen Moment, in dem der unheimliche Chef der „Sieben Wohltaten“ auftritt. Würde es Doris Wolters gelingen, dieses Wesen von abgrundtiefer Bosheit angemessen darzustellen? Auch dies gelang ihr ausgezeichnet, denn man braucht nur die Falschheit dieses Mannes, seine versteckte tödliche Bedrohung und Sallys wachsende Furcht zu kombinieren, um perfekte Dramatik entstehen zu lassen.

Dass Geräusche und Musik fehlen, ist nicht so schlimm, denn vor lauter Action würden diese Elemente kaum ins Gewicht fallen und den Zuhörer womöglich von den zahlreichen Dialogen ablenken. Geräusche und Musik sind in Hörspielen besser angebracht. Dort ist der Umfang der Dialoge auch geringer, denn ein Teil der Stimmung wird auf die Musik verlagert.

Unterm Strich

In einer geschickt erzählten Handlung, die stets für ein hohes Maß an Spannung sorgt, verfolgen wir die junge Waise Sally Lockhart, wie sie einer drohenden Gefahr ins Gesicht sieht, einen Schatz sucht, Freunde findet und sich zwei erbitterten Feinden entgegenstellen muss. Immer wieder vergewissert sie sich der Liebe ihres Vaters, der sich auf ungeahnte Weise noch aus dem Grab um sein einziges Kind kümmert, und der Treue ihrer neuen Freunde, die sie in ihre Gemeinschaft aufnehmen.

Zugleich gelingt es dem Autor, in einer häppchenweise präsentierten Hintergrundstory viele rätselhafte Phänomene und Verhaltensweise schrittweise zu erklären, aber nie so viel, dass wir der Heldin einen Schritt voraus wären. Deshalb bleibt die Erzählung bis zum Schluss spannend, und wir bangen mit ihr. Ich bin schon gespannt auf das nächste Abenteuer, das dieser junge, weibliche Sherlock Holmes zu bestehen hat.

Das Hörbuch

Doris Wolters gelingt es, die Figuren zum Leben zu erwecken, insbesondere in dramatischen, hoch emotionalen Szenen. Sie hat etwas Schwierigkeiten, erwachsene männliche Figuren glaubhaft darzustellen, denn dafür ist ihre Stimme nicht tief genug, aber zum Glück kommen davon nicht allzu viele Exemplare vor – schließlich zählen zu Sallys Freunden vor allem Gleichaltrige, also junge Männer und Frauen. Und deren Stimmen sind längst nicht so tief wie die der Männer.

Wunderbar finde ich auch Wolters‘ Fähigkeit, ihre Stimme lispeln und nuscheln zu lassen oder auch wie im Telegrammstil zu zitieren (Botschaften aller Art spielen eine zentrale Rolle für den Fortgang der Handlung). Am Schluss wollte ich gar nicht mehr diese gefahrvolle Welt des viktorianischen London verlassen. Wer sich schon immer einen jungen, weiblichen Sherlock Holmes gewünscht hat, wird ihn in Sally Lockhart finden. Die Verfilmungen ihrer Abenteuer laufen mittlerweile auch im deutschen Fernsehen und sind ausgezeichnet gelungen.

Fazit: ein Volltreffer.

Originaltitel: The Ruby in the Smoke, 1985
Aus dem Englischen übersetzt von Christa Laufs
281 Minuten auf 4 CDs
ISBN-13: 9783867420402

http://www.hoerbuch-hamburg.de
http://www.philip-pullman.com

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