Ellery Queen – Das Haus auf halber Strecke

Das geschieht:

Auf halbem Weg zwischen New York City und Philadelphia liegt Trenton, Hauptstadt des US-Staates New Jersey. Hier trifft Privatdetektiv Ellery Queen auf der Durchreise einen alten Freund. William Angell ist ein erfolgreicher Anwalt, den derzeit privater Kummer plagt. Seine Schwester Lucy ist seit zehn Jahren mit dem Handlungsreisenden Joseph Wilson verheiratet, der seine Gattin offensichtlich vernachlässigt. Just hat Wilson seinen Schwager in ein einsam gelegenes Haus am Fluss gebeten, wo er sich mit Angell aussprechen möchte.

Als dieser dort eintrifft, findet er Wilson sterbend im Inneren – eine verschleierte Frau habe ihn erstochen, kann dieser nur noch röcheln. Angell bittet Ellery Queen um Hilfe. Gemeinsam mit Polizeiinspektor De Jong, der den Fall offiziell übernimmt, untersucht der Detektiv das seltsame Haus, das einerseits halb zerfallen und andererseits mit hochwertigen Möbeln eingerichtet ist. Im Schrank hängen maßgeschneiderte Anzüge, im Bootshaus ankert ein Segelboot.

Kurz nach Wilsons Tod taucht eine zweite trauernde Witwe am Schauplatz des Mordes auf. Jessica Gimball gehört zur High Society von New York, und Joe stand ihr als Gatte seit acht Jahren zur Seite! Er hat sogar eine Lebensversicherung zu ihren Gunsten abgeschlossen. Stolze eine Million Dollar soll sie im Falle seines Todes erhalten!

Allerdings hat Wilson/Gimball dies kürzlich geändert: Lucy wird nun erben – wenn sie denn kann, weil sie plötzlich zur Hauptverdächtigen avanciert. Wieder einmal bleibt es Ellery Queen überlassen, die dürftigen Indizien so zu interpretieren, dass sie die überraschende Wahrheit preisgeben …

Indizienrätsel sind nicht alles

1936 steht Ellery Queen an einem Scheideweg. Das betrifft den Detektiv ebenso wie seine beiden geistigen Väter, die unter diesem Namen schreiben. Seit 1929 lassen sie Ellery trickreich eingefädelte Mordrätsel lösen. Es entstand eine Reihe lupenreiner „Whodunits“ der Sonderklasse, die den Leser ausdrücklich zum Wettbewerb mit dem ermittelnden Detektiv einladen: Wer wird den Täter früher entlarven? Die Beweise liegen vor, nichts wird verschleiert, das ‚Spiel‘ ist fair.

Doch inzwischen befindet sich der klassische „Whodunit“ auf dem absteigenden Ast. Er wird niemals verschwinden und sich behaupten, aber er wird von einem ‚moderneren‘ Krimi zur Seite gedrängt, der seinen Lesern nicht nur Spannung, sondern auch psychologische Tiefe bietet. Ellery Queen und die Personen, die in ’seinen‘ Fällen auftraten, glichen bisher Schachfiguren, die sich auf ihrem Brett ein möglichst spannendes Spiel lieferten. Die ‚menschliche‘ Seite des Verbrechens blieb dabei sekundär; kam sie zum Tragen, blieb sie Reaktion auf das Geschehen.

Mit „Das Haus auf halber Strecke“ betreten die Queens Neuland. Zwar bietet der Mord an Joseph Wilson alias Gimball die bekannten, geliebten, komplizierten Mysterien, doch ihm gleichberechtigt zur Seite tritt die Beschäftigung mit dem emotionalen Auslöser der Tat. Das Mordrätsel ist nicht mehr Selbstzweck, sondern logische Folge. Das verschafft dem ‚typischen‘ Queen-Krimi eine neue Dimension.

Versuch macht klug

Allerdings zeigen sich die Autoren (noch) recht ungeschickt in ihrem Bemühen. Die detailfrohe Deutung scheinbar bedeutungsloser Indizien zelebrieren sie im großen Finale mit der bekannten Meisterschaft. Demgegenüber fallen die Ausflüge in die Tiefen der menschlichen Seele ungelenk aus.

Ein Mord erzeugt zweifellos große Gefühle. Die Queens werden bei dem Versuch, diese darzustellen, sehr theatralisch. Zudem fällt es dem heutigen Leser schwer, bestimmte Reaktionen nachzuvollziehen. Während das Lösen eines Kriminalfalls vergleichsweise zeitlosen Techniken und Praktiken folgt, unterliegen Emotionen und Reaktionen kulturhistorischen Veränderungen. Ehrbare Frauen fallen heute nicht mehr in Ohnmacht, wenn sie sich bedrängt fühlen. Sie werden auch nicht mehr in Acht & Bann getan, wenn sie einem Bigamisten auf den Leim gegangen sind. Ein gesellschaftlicher Kodex existiert zwar noch, aber er ist stärker der Gegenwart angeglichen und modifiziert worden. Die schiere Verzweiflung, mit der sowohl die Wilsons als auch die Gimballs den Skandal sogar mit kriminellen Methoden zu vertuschen suchen, findet der Leser des 21. Jahrhunderts übertrieben.

Letztlich zeigt sich, dass die Queens mit „Das Haus auf halber Strecke“ besser auf bekannten Pfaden geblieben wären. Gerade die ‚modernen‘ Elemente bekommen dem ansonsten gut gealterten Werk gar nicht. Dass es den Verfassern möglich ist, ihr Publikum über mehrere Seiten mit der Interpretation abgebrannter Zündhölzer zu fesseln, während das ewige Gejammer psychisch labiler Frauen und die erregten Proteste notorisch ritterlicher Männer nerven, spricht eine deutliche Sprache. (Ursprünglich sollte dieser Roman übrigens den Titel „The Swedish Match Mystery“ tragen und hätte damit an die früheren Queen-Krimis angeschlossen.)

Ein Detektiv wird neu definiert

Bemerkenswert gut entkommt Ellery Queen, der Detektiv, diesem Dilemma. 1929 betrat er die Szene als unerhörter Stutzer; nicht nur im Geiste war er eine Kopie des snobistischen Philo Vance, mit dem S. S. van Dine zu dieser Zeit auf kriminalliterarischem Erfolgskurs segelte. Im Auftreten wurde Ellery bald selbstständiger und vor allem lockerer; er war neugierig und flexibel, passte sich allen Gesellschaftsschichten an und fand sich sowohl in der Stadt als auch in der tiefsten Provinz zurecht.

Weiterhin ließ Ellery sich jedoch nur oberflächlich auf die Menschen ein, mit denen er es zu tun bekam. Er blieb lieber unverbindlich; ein Beobachter, der sich bedingt dessen bewusst war, was er mit seinen Nachforschungen auslöste. Das ändert sich in „Das Haus auf halber Strecke“ und wird sich in den nächsten Romanen der Serie noch gravierender entwickeln. Ellery wird ‚menschlicher‘, während seine Fälle weniger komplex geraten.

Diese Metamorphose ist nicht nur dem allgemein veränderten Publikumsgeschmack geschuldet. Bevor ein neues Ellery-Queen-Abenteuer in Buchform veröffentlicht wurde, erschien es als Fortsetzungsroman in zeitgenössischen Zeitschriften. Aufgrund der enormen Auflagen stellten diese Magazine eine interessante und lukrative Einnahmequelle dar. Die Queens – gemeint ist das Autorenduo – waren Profis; auf ‚Anregungen‘ ihrer Kunden gingen sie deshalb ein. In den 1930er Jahren zeigten sich Frauenmagazine wie Cosmopolitan besonders interessiert an Queen-Krimis. Deren Herausgeber forderten im Namen ihrer Leserinnen, den „human touch“ zu verstärken.

Über die Folgen ließe sich ausgiebig diskutieren. Fakt bleibt immerhin – wie weiter oben erläutert – Fakt. Außerdem ist anzumerken, dass die Queens den Seifenoper-Schaum später durch echte Charakterzeichnungen ersetzen konnten, wenn sie denn wollten. (Leider wollten sie nicht immer, und dem ‚verdanken‘ wir krude Lovestory-Krimis wie „The Dragon’s Teeth“, dt. „Drachenzähne“.) „Das Haus auf halber Strecke“ ist – das Wortspiel bietet sich an – ein Roman, der auf halber Strecke zwischen Krimi und Lovestory stecken blieb. Mit Rücksicht auf diese etwas unglückliche Begegnung lässt er sich zweifellos genießen.

Die Autoren

Mehr als vier Jahrzehnte umspannt die Karriere der Vettern Frederic Dannay (alias Daniel Nathan, 1905-1982) und Manfred Bennington Lee (alias Manford Lepofsky, 1905-1971), die 1928 im Rahmen eines Wettbewerbs mit „The Roman Hat Mystery“ als Kriminalroman-Autoren debütierten. Dieses war auch das erste Abenteuer des Gentleman-Ermittlers Ellery Queen, dem noch 25 weitere folgen sollten.

Dabei half die Fähigkeit, die Leserschaft mit den damals beliebten, möglichst vertrackten Kriminalplots angenehm zu verwirren. Ein Schlüssel zum Erfolg war aber auch das Pseudonym. Ursprünglich hatten es Dannay und Lee erfunden, weil dies eine Bedingung des besagten Wettbewerbs war. Ohne Absicht hatten sie damit den Stein der Weisen gefunden: Das Publikum verinnerlichte sogleich die scheinbare Identität des ‚realen‘ Schriftstellers Ellery Queen mit dem Amateur-Detektiv Ellery Queen, der sich wiederum seinen Lebensunterhalt als Autor von Kriminalromanen verdient!

In den späteren Jahren verbarg das Markenzeichen Queen zudem, dass hinter den Kulissen zunehmend andere Verfasser tätig wurden. Lee wurde Anfang der 1960er Jahre schwer krank und litt an einer Schreibblockade, Dannay gingen allmählich die Ideen aus, während die Leser nach neuen Abenteuern verlangten. Daher wurden viele der neuen Romane unter der mehr oder weniger straffen Aufsicht der Cousins von Ghostwritern geschrieben.

Wer sich über Ellery Queen – den (fiktiven) Detektiv wie das (reale) Autoren-Duo – informieren möchte, stößt im Internet auf eine wahre Flut einschlägiger Websites, die ihrerseits eindrucksvoll vom Status dieses Krimihelden künden. Vielleicht die schönste findet sich unter http://neptune.spaceports.com/~queen : eine Fundgrube für alle möglichen und unmöglichen Queenarien.

Impressum

Originaltitel: Halfway House (New York : Frederick A. Stokes 1936/London : Victor Gollancz 1936)
Deutsche Erstausgabe unter dem Titel „Die Dame mit dem Schleier“]: 1937 (Ullstein Verlag/Ullstein-Bücher, N. F. 74)
Übersetzung: Werner Illing
241 S.
keine ISBN]

Diese Ausgabe: 1960 (Alfred Scherz Verlag/Die schwarzen Kriminalromane 127)
Übersetzung: N. N.
191 S.
keine ISBN]

Bisher letzte Ausgabe (unter dem Titel „Der Schrei am Fluss“): 1987 (Wilhelm Heyne Verlag/Heyne Blaue Reihe 2218)
Übersetzung: Ingeborg Mayer-Salm
254 S.
ISBN-13: 978-3-453-00889-2
http://www.heyne-verlag.de

Anmerkung: Gewarnt sei der Krimifreund vor der Ullstein-Ausgabe von 1977, die unter dem Titel „Die Dame mit dem Schleier“ erschien und auf 125 Seiten zusammengekürzt wurde!

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