Warum am 27. September 1994 die Fähre |Estonia| auf halbem Weg zwischen Tallinn und Stockholm in der Ostsee versank, ist bis heute noch nicht restlos geklärt. Während der offizielle Untersuchungsbericht behauptet, dass die Unglücksursache die im schweren Sturm abgerissene Bugklappe des Autodecks sei, wollen die kritischen Stimmen, die behaupten, dass diese These widerlegende Beweise außer Acht gelassen und bestimmte Zeugenaussagen ignoriert wurden, nicht verstummen.
Bis heute gibt es keine zweifelsfreie offizielle Erklärung, warum die |Estonia| versank, und so wird es auch um die Verschwörungstheorien zum Untergang nicht ruhiger. Fakt ist, dass der Untergang der |Estonia| das schwerste Schiffsunglück der europäischen Nachkriegsgeschichte ist. 852 Passagiere starben in den kalten Fluten der Ostsee.
Cay Rademacher, der seit 1990 als Journalist der |Geo| arbeitet, hat sich dieses Stoffes angenommen und aus Fakten und Theorien einen Thriller geschrieben. Die Theorien, die sich um den Untergang ranken, muten teilweise so an, als wären sie einem Politthriller entsprungen – ideale Voraussetzungen für einen spannenden Plot.
Rademacher lässt seinen exzentrischen Protagonisten Claudius Graf Stackelberg bei einem Segelturn mit seiner Luxusyacht auf der Ostsee einen Attachékoffer aus der |Estonia|-Katastrophe finden. Stackelbergs Neugier ist geweckt und er fängt an, mit seinem Freund Wolf Jacobson erste Nachforschungen anzustellen. Als sie auf die ersten Widersprüche in den offiziellen Erklärungen zum Unglückshergang stoßen, ist ihr Ehrgeiz angestachelt. Stackelberg und Jacobson reisen nach Tallinn, um ihre Nachforschungen zu intensivieren.
Schon wenig später müssen sie die irritierende Erfahrungen machen, dass jeder, der etwas Genaueres über die Unglücksnacht auf der Ostsee sagen könnte, entweder schon tot ist oder wenig später unter verdächtigen Umständen stirbt. Und dann stellen Stackelberg und Jacobson auch noch fest, dass sich irgendjemand an ihre Fersen geheftet hat und alle ihre Schritte verfolgt. Doch in Tallinn finden sie auch Verbündete, die ihnen bei ihren Nachforschungen helfen.
Da wäre zum einen eine estnische Tänzerin, die an Bord der |Estonia| gearbeitet hat und nicht glauben will, dass ihre Schwester bei dem Unglück umgekommen ist. Dann wäre da noch ein ehemaliges Mitglied der schwedischen Untersuchungskommission, der nun auf eigene Faust die Unglücksursache lüften will, bevor der Lungenkrebs ihn endgültig dahin gerafft hat. Und dann wäre da noch ein schwedischer Wracktaucher, der nach dem Unglück zur |Estonia| hinuntergetaucht und sich sicher ist, dass für ihn dabei des Rätsels Lösung beinahe schon zum Greifen nahe war …
Rademacher lässt den Leser/Hörer zunächst einmal den Untergang der |Estonia| hautnah miterleben. Er schildert, wie die Passagiere an Bord in Panik darum kämpfen, der Katastrophe zu entrinnen. Nur wenige schaffen es bis in die Rettungsinseln und werden von den Rettungskräften geborgen. Rademacher schildert die letzten Minuten an Bord der untergehenden |Estonia| sehr eindringlich und sorgt so für einen intensiven und gleichermaßen beklemmenden Einstieg in das Buch.
Nach einem Zeitsprung setzt die eigentliche Handlung dann einige Jahre später ein, als Claudius Graf Stackelberg über die Ostsee schippert und, noch ahnungslos ob der Dinge, die er noch erleben wird, den Attachékoffer aus der Ostsee fischt. Stackelberg ist eine rundum exzentrische Hauptfigur: ein schwerreicher Millionenerbe, der gleich vom ersten Augenblick an so ziemlich jedes Klischee widerlegt, das man in ihm vermuten möchte. Er ist dick, Haribo-süchtig, schwul und universell gebildet. Ein Protagonist, der in keine Schublade passen will.
Sein (Hetero-)Freund Wolf Jacobson ist von nicht weniger sperriger Figurenskizzierung: ein langstreckenlaufender, erotisch gehemmter Epileptiker, der sich am liebsten hinter Büchern verkriecht. Gerade Jacobson ist eine Figur, die sich innerhalb der Handlung weiterentwickelt und sich damit zur heimlichen Hauptfigur mausert. Während man dem dicken Graf Stackelberg seine Abenteuerlust nicht immer so ganz abkaufen mag, entwickelt Jacobson einen intensiveren Bezug zur |Estonia|-Katastrophe und muss sich dabei seinen persönlichen Ängsten stellen. Auch wenn Rademacher das zum Ende hin ein wenig zu sehr auf die Spitze treibt, wirkt Jacobson insgesamt glaubwürdiger und authentischer.
Als die Handlung sich verdichtet, wirkt Stackelbergs mitunter saloppe Art irgendwie etwas deplatziert. Stackelberg wirkt nun wirklich nicht wie der Typ, der im Angesicht des Feindes noch witzige Sprüche reißt. Jemand, der bei einem Kampf nicht mehr in die Waagschale werfen kann als seine massige Leibesfülle, dürfte in Momenten körperlicher Bedrohung wohl kaum so sehr Herr der Lage sein, dass er noch Zeit für einen flotten Spruch hat. Das klingt dann doch eher nach Spider-Man.
Was den Plot betrifft, so mischt Rademacher munter Fakten und Fiktion. Er lässt die offiziellen Untersuchungsergebnisse ebenso einfließen wie den in Russland kursierenden so genannten „Felix-Report“, der ein anderes Bild der Katastrophe zeichnet. Anhand der Gedanken und Aussagen seiner Protagonisten exerziert er verschiedene Szenarien durch, die zum Untergang geführt haben könnten.
Die Theorien, die er vermutlich selbst als fiktionale Elemente einstreut, überzeugen mal mehr, mal weniger. Vor allem die Varianten, die im Verlauf der Handlung von verschiedenen Figuren zur Sprache gebracht werden, wirken doch eher haarsträubend als vorstellbar. Teilweise verknüpfen sie krampfhaft die |Estonia|-Katastrophe mit anderen Verschwörungstheorien und stehen damit als wirkliche Option eigentlich in keinem Augenblick zur Debatte. Vielmehr lassen sie die Figuren, die hinter diesen Theorien stehen, in einem etwas unglaubwürdigen Licht erscheinen.
Das finale Szenario, das Rademacher dem Leser ganz am Ende offenbart, kommt da sicherlich schon näher an die Realität. Keine schillernde Verschwörungstheorie mit unübersichtlichen, komplexen Verästelungen, sondern irgendwie fast ein bisschen banal. Aber so scheint sie immerhin schon eher im Bereich des Möglichen zu liegen, da sie sich obendrein mit einigen der offenen Fragen zum Untergang plausibel verknüpfen lässt, ohne die sonst für Verschwörungstheorien oft so gern bemühte verquere Logik.
Das wirklich Interessante an „Geheimsache Estonia“ dürfte aber die Verschmelzung von Fakten und Thrillerplot sein. Rademacher verschafft dem Leser einen schönen Überblick über das Unglück, die offizielle Version dazu und die fragwürdigen Punkte des offiziellen Untersuchungsberichtes. Hier hält sich Rademacher wirklich eng an die Tatsachen sowie Romanplot und Faktenschilderung in einer ausgewogenen Balance.
Stimmig fügt er Thrillerelemente ein, frisiert die realen Ereignisse und verhilft so der Geschichte zu ihren Spannungsmomenten. Das Ganze gipfelt in einem Finale, das erfrischend frei von übertriebenem Heldenpathos ist (wenn man mal von dem kleinen Ausrutscher Wolf Jacobsons absieht). Das Finale, das Rademacher inszeniert, wirkt durchaus glaubwürdig und hebt sich wohltuend von anderen ähnlich gelagerten Romanen ab. Rademacher scheint als Journalist eben eher einen Hang zum Realismus zu haben, und so ist das Finale geradezu bodenständig und unpathetisch.
Bleibt als schwerwiegendster Kritikpunkt eigentlich die Hörbuchproduktion von |Radioropa Hörbuch| festzuhalten. Mit Franziska Stawitz als Sprecherin wurde leider keine ganz so glückliche Wahl getroffen. Ihre Stimme klingt etwas farblos und stumpf und bringt nur wenig Variation für die verschiedenen Figuren auf. So ist der Vortrag an sich leider nicht sonderlich fesselnd, sondern eher eintönig und man wird eher durch die Spannung der Geschichte an sich bei der Stange gehalten als durch die Art und Weise der Lesung.
Es verbleibt unterm Strich ein positiver Eindruck mit vereinzelten Schönheitsfehlern. Rademacher mischt auf unterhaltsame Art Fakten und Fiktion. Seine Figuren sind interessante Antihelden, wenngleich die Figurenzeichnung des Graf Stackelberg schon ein wenig überspitzt wirkt. Umso ausgewogener und realistischer inszeniert Rademacher dafür das Ende. Ein solider Thriller, der vor allem diejenigen erfreuen dürfte, die sich für die Theorien zum Untergang der |Estonia| interessieren. Schade nur, dass die Hörbuchproduktion (gerade auch im Vergleich zu der Masse qualitativ so gut gemachter Lesungen, wie es sie derzeit am Markt gibt) den Genuss etwas schmälert.
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