Rankin, Ian – Wolfsmale

Typisch Rebus: Weil er seinen Chef in angeheitertem Zustand mit dessen ungeliebten Spitznamen konfrontiert hat, schickt dieser seinen Detective Inspector aus Edinburgh als angeblichen „Experten für Serienmorde“ nach London. Dort geht der „Wolfsmann“ um, ein irrer Serienmörder, der seine Opfer nicht nur grausam verstümmelt, sondern ihnen auch noch wütende Bauchbisse versetzt. Vier Leichen in drei Monaten hat man so aufgefunden. Detective Inspector George Flight von der London von der Metropolitan Police und seine Leute haben Hilfe bitter nötig. Trotzdem sind sie wenig erbaut darüber, dass ausgerechnet ein „Jock“, den sie nicht einmal richtig verstehen, wenn er den Mund aufmacht, ihnen zeigen soll, wie sie ihren Job zu machen haben.

Rebus, der schon immer mehr Einzelkämpfer als Teamspieler war, braucht erwartungsgemäß wenig Zeit, sich den Zorn der englischen Kollegen zuzuziehen. Während er damit kämpft, sich in der ungewohnten Umgebung zurechtzufinden, geht er daran, den Wolfsmann-Fall auf seine eigene, oft unkonventionelle Weise anzugehen. Als Außenstehender fällt es ihm leichter, neue Wege einzuschlagen. Auch gegen Hilfe hat Rebus nichts einzuwenden. Daher leiht er der Psychologin Lisa Frazer von der Universität London gern sein Ohr, als sie ihm vorschlägt, ein Profil des Wolfsmanns zu entwerfen; dass bei ihr Kompetenz mit gutem Aussehen einhergeht, ist Rebus, der sich in der fremden Stadt doppelt einsam fühlt, nicht entgangen. Binnen kurzer Zeit ist der Inspector schwer verliebt und übersieht gar zu gern die Anzeichen dafür, dass Lisa nicht diejenige ist, die sie zu sein vorgibt.

Aber Rebus ist auch anderweitig abgelenkt. Im Wolfsmann-Fall drängt die Zeit: Die Abstände zwischen den einzelnen Morden werden kürzer; der Mörder beginnt die Kontrolle über sich zu verlieren und agiert zusehends blindwütiger …

Nach „Verborgene Muster“ und „Das zweite Zeichen“ ist „Wolfsmale“ der dritte Band der fabelhaften Inspektor-Rebus-Reihe, die Ian Rankin seit einem Jahrzehnt zuverlässig Zutritt zu den Bestsellerlisten diesseits und jenseits des Großen Teiches verschafft. Erneut wird rasch klar, wieso dies zu ist: Rankins Thriller sind nicht ’nur‘ spannend, sondern seine Figuren lebendig, sein Talent als Erzähler außerordentlich (was in der Übersetzung erfreulicherweise fortlebt). Darüber hinaus schildern sie bewegend, aber niemals sentimental oder gar rührselig die Tücken des modernen Großstadtlebens.

Dabei kann „Wolfsmale“ allerdings mit dem furiosen Vorgängerband nicht ganz mithalten. Es ist, als ob Rebus in der ‚Fremde‘ mehr als nur ein wenig hilflos ist. In Edinburgh sticht er, der die dunklen Seiten der unheilvoll verschlungenen Allianz aus Politik, Wirtschaft, Kirche und Verbrechen seiner Heimatstadt genau kennt, regelmäßig in Hornissennester; in London vergräzt er nur ein paar Polizistenkollegen.

Zu weit in den Hintergrund lässt Rankin zudem die eigentliche Thriller-Handlung rutschen. Stattdessen erzählt er hauptsächlich die Abenteuer eines Schotten in London. Weil er ein so hervorragenden Autor ist, macht er dies höchst unterhaltsam. Außerdem weiß hierzulande zwar wohl jede/r um das schwierige Verhältnis zwischen Engländern und Iren. Aber dass die Schotten noch immer auf den Spuren Maria Stuarts wandeln und nach einer vorausgegangenen, sehr nationalistisch geprägten Volksabstimmung 1999 sogar ein eigenes Parlament erhielten, ist wahrscheinlich weniger bekannt. Die dicht unter der Oberfläche lauernden Ressentiments zwischen Engländern und Schotten – Rebus bleibt seinen Gastgebern in diesem Punkt nichts schuldig – tragen zur Dramatik der Handlung entscheidend bei.

Weniger gelungen ist eine Nebenhandlung, die Rebus’ kompliziertem Familienleben gewidmet ist und ihn bei dem Versuch zeigt, seine in London lebende Tochter aus den Klauen eines Kleinkriminellen mit allzu großen Ambitionen zu befreien. Zum eigentlichen Geschehen trägt dies immerhin insofern bei, als Rankin sehr schön zeigt, wie Rebus’ sprunghafter Geist arbeitet, und ihn zufällige Begebenheiten und Beobachtungen, die mit dem Wolfsmann-Fall unmittelbar nichts zu tun haben, dessen Lösung dennoch näher bringen (auch wenn Rankin die Macht des Zufalls hier ein wenig zu oft beschwört).

Der Wolfsmann selbst bleibt über die gesamte Distanz recht blass. Vielleicht haben wir Krimifreunde in den letzten Jahren einfach zu viele Serienkiller über uns ergehen lassen müssen. Selbst wenn sie nicht nur als mörderische Bestie Grusel-Schwung in einen Thriller bringen sollen, sondern mit einer glaubwürdigen und auch tragischen Vita ausgestattet werden, kennen wir sie zumindest in ihrer literarischen Inkarnation zu gut, als dass sie uns noch fesseln könnten. „Wolfsmale“ entstand allerdings bereits 1992, d. h. recht kurz nach „Das Schweigen der Lämmer“, mit dem der Blut-und-Bodycount-Boom 1989 begann. Rankin ist nicht für die Erstarrung des Genres (mit-)verantwortlich zu machen, aber „Wolfsmale“ leidet dennoch darunter, dass heute jeder regelmäßige Krimileser automatisch zum Feierabend-Profiler geworden ist.

Zu guter Letzt laufen sowohl Rebus als auch Rankin aber wieder zur Höchstform auf. Der Inspektor liefert sich mit dem endlich entlarvten Übeltäter eine wilde Auto-Verfolgungsjagd, die einerseits sehr spannend ist, aber andererseits vielfach ironisch gebrochen wird. Rebus ist wahrlich nicht Dirty Harry, doch wie wir nun erfahren, hat er schon immer heimlich davon geträumt, einen Fall nicht nur durch eintönige, zermürbende Fahndungsarbeit, sondern in einem spektakulären Finale zu lösen. Freilich muss er die Erfahrung machen, dass sich dies im Kino wesentlich einfacher realisieren lässt als in der ‚Realität‘, die von der Tücke des Objektes regiert wird!

Fazit: „Wolfsmale“ bietet dieses Mal ’nur‘ gehobene Thriller-Unterhaltung, dies jedoch gemessen an jener Latte, die Rankin selbst aufgelegt hat – und er gehört als Schriftsteller eindeutig in die Olympia-Riege! Mit der Rückkehr ins traditionsreiche, aber gewiss nicht ehrwürdige Edinburgh kehrt Rankin im vierten Rebus-Roman („Ehrensache“/“Strip Jack“) zur alten Form zurück. Es tut gut, zwischen 1001 pfiffigen Mönchlein, weisen Krankenschwestern, knallharten Großstadtcops und übersinnlich begabten Pathologinnen den eigensinnigen Rebus beobachten zu können.

Ian Rankin wird 1960 in Cardenden, einer Arbeitersiedlung im Kohlerevier der schottischen Lowlands, geboren. In Edinburgh studiert er ab 1983 Englisch, zunächst mit dem Schwerpunkt Amerikanische, später Schottische Literatur. Schon früh beginnt er zu schreiben. Zunächst hoffnungsvoller Poet, wechselt er als Student zur Prosa. Nach zahlreichen Kurzgeschichten versucht er sich an einem Roman, findet aber keinen Verleger. Erst der Bildungsroman „The Flood“ erscheint 1986 in einem studentischen Kleinverlag.

Nachdem sein Stipendium ausgelaufen ist, verlässt Rankin 1986 die Universität und geht nach London, wo er u. a. als Redakteur für ein Musik-Magazin arbeitet. Nebenher veröffentlicht er den Kolportage-Thriller „Westwind“ (1988) sowie den Spionageroman „Watchman“ (1990). Unter dem Pseudonym „Jack Harvey“ verfasst Rankin in rascher Folge drei actionlastige Thriller. 1991 greift Rankin eine Figur auf, die er vier Jahre zuvor im Thriller „Knots & Crosses“ (1987; dt. „Verborgene Muster“) zum ersten Mal hat auftreten lassen: Detective Sergeant (später Inspector) John Rebus. „Knots & Crosses“ war 1987 weniger als Kriminalroman, sondern eher als intellektueller Spaß im Stil Umberto Ecos gedacht, den sich der literaturkundige Autor mit seinem Publikum machen wollte. Schon die Wahl des Namens, den Rankin seinem Helden gab, verrät das Spielerische: Um Bilderrätsel – Rebusse – dreht sich die Handlung.

Mit John Rebus gelingt Rankin eine Figur, die im Gedächtnis seiner Leser haftet. Als man ihn immer wieder auf das weitere Schicksal des Sergeanten anspricht, wird er sich dessen Potenzials bewusst. Die Rebus-Romane ab „Hide & Seek“ (1991; dt. „Das zweite Zeichen“) spiegeln das moderne Leben (in) der schottischen Hauptstadt Edinburgh wider. Rankin spürt seither den dunklen Seiten nach, die den Bürgern, vor allem aber den (zahlenden) Touristen von der traulich versippten Führungsspitze aus Politik, Wirtschaft, Medien und Kirche gern vorenthalten werden. Daneben lotet Rankin die Abgründe der menschlichen Psyche aus. Simple Schurken, deren möglichst malerisches, weil „gerechtes“ Ende bejubelt werden kann, gibt es bei ihm nicht.

Ian Rankins Rebus-Romane kommen nach 1990 in Großbritannien, aber auch in den USA stets auf die Bestsellerlisten. Die renommierte „Crime Writers‘ Association of Great Britain“ zeichnet ihn zweimal mit dem „Short Story Dagger“ (1994 und 1996) sowie 1997 mit dem „Macallan Gold Dagger Award“ aus. 1992 ehrt man ihn in den USA mit dem „Chandler-Fulbright Award“ als „Nachwuchsautoren des Jahres“. Rankin gewinnt im Jahre 2000 weiter an Popularität, als die britische BBC beginnt, die Rebus-Romane zu verfilmen.

Ian Rankins [Website]http://www.ianrankin.net ist höchst empfehlenswert; über die bloße Auflistung seiner Werke verwöhnt sie u. a. mit einem virtuellen Gang durch das Edinburgh des John Rebus.

Die John-Rebus-Romane …
… erscheinen in Deutschland im Wilhelm Goldmann Verlag (Stand: Sommer 2005):

01. [Verborgene Muster 956 (1987, Knots & Crosses) – TB-Nr. 44607
02. [Das zweite Zeichen 1442 (1991, Hide & Seek) – TB-Nr. 44608
03. Wolfsmale (1992, Wolfman/Tooth and Nail) – TB-Nr. 44609
04. [Ehrensache 1894 (1992, Strip Jack) – TB-Nr. 45014
05. Verschlüsselte Wahrheit (1993, The Black Book) – TB Nr. 45015
06. Blutschuld (1994, Mortal Causes) – TB Nr. 45016
07. [Ein eisiger Tod 575 (1995, Let it Bleed) – TB Nr. 45428
08. [Das Souvenir des Mörders 1526 (1997, Black & Blue)
09. Die Sünden der Väter (1998, The Hanging Garden) – TB Nr. 45429 (noch nicht erschienen)
10. Dead Souls (1999, noch kein dt. Titel)
11. Der kalte Hauch der Nacht (2000, Set in Darkness) – TB Nr. 45387
12. Puppenspiel (2001, The Falls) – TB Nr. 45636
13. [Die Tore der Finsternis 1450 (2002, Resurrection Man)
14. Die Kinder des Todes (2003, A Question of Blood)
15. [So soll er sterben 1919 (2004, Fleshmarket Close)

Darüber hinaus gibt es zwei Sammlungen mit Rebus-Kurzgeschichten: „A Good Hanging & Other Stories“ sowie „Beggars Banquet“. Hinzu kommt „Rebus’s Scotland“, ein Fotoband mit Texten von Rankin, der hier jene Orte aufsucht, die ihn zu seinen Romanen inspirierten.

Schreibe einen Kommentar