Gerhard J. Rekel – Der Duft des Kaffees. Die Geschichte einer Verschwörung

Lob der Bohne: Ohne Kaffee tote Hose

In Hamburg, Berlin und anderen deutschen Großstädten brechen Menschen unvermittelt mit Herzrhythmusstörungen und Schwindelanfällen zusammen. Auch Hans Brionis Sohn Jakob gehört dazu. Brioni ist ein Feinkost-Kaffeeröster mit einem Laden in Berlin. Daher hat er ein persönliches Interesse, den oder die Verursacher dieser Unfälle aufzuspüren: Denn alle Opfer tranken vor ihrem Zusammenbruch Kaffee vom Röster Drachus. Brioni tut sich mit der angehenden Fernsehreporterin Agathe Weidemann zusammen und gemeinsam kommen sie einer nationalen Verschwörung auf die Spur.

Der Autor

Gerhard J. Rekel, 1965 in Graz geboren und aufgewachsen, studierte an der Filmakademie Wien bei Axel Corti. Nach ausgedehnten Reisen durch China, Indien und Südamerika absolvierte er die „Drehbuchwerkstatt München“ und ließ sich 1997 in Berlin nieder. Hier entstanden die „Tatort“-Drehbücher „Hahnenkampf“ (1997) und „Zartbitterschokolade“ (2002). Rekel schrieb die Romane „Revanche“ (1996) und „Hahnenkampf“ (1999). Von seinen Theaterstücken wurde 2004 „Machiavellis Masseuse“ von einer Jury des Hamburger Thalia-Theaters zu einem der besten vier Nachwuchsstücke gewählt. Sein Roman „Der Duft des Kaffees“ erschien im November 2005 als Originalausgabe beim |dtv|, ein seltener Fall.

Handlung

Der junge Jakob Brioni erklärt gerade seinem Schwarm Yazmina die Vorzüge des orientialischen Kaffeerituals, die er von seinem Vater aufgeschnappt hat. Da bemerkt er, wie der Kaffeetrinkerin neben ihm schlecht wird und sie zur Toilette torkelt. Gleich darauf beginnt sich die Welt um ihn zu drehen …

Sein Vater Hans Brioni besucht ihn im Krankenhaus. Die Intensivstation ist total überbelegt, denn von überall aus Berlin bringen Ambulanzen zusammengebrochene Menschen – alles Kaffeetrinker. Hans Brioni macht sich große Sorgen um Jakob, denn er ist sein Ein und Alles, das er aus seiner gescheiterten Ehe – die Frau verließ ihn – retten konnte. Dass er auch noch sein einziges Kind verlieren könnte, macht ihn besorgt – und wütend. Was war die Ursache für Jakobs Zusammenbruch?

Die Herstellung von Dreck

Brioni ist Kaffeeröster mit einem Laden in Berlin, wo er seine eigene Hausmischung herstellt und verkauft. Folglich vertritt er mit Vehemenz und Detailkenntnis seine eigene Philosophie, wie ein guter Kaffee auszusehen, zu schmecken und hergestellt zu werden hat. Alle Kaffeesorten in den Supermärkten hält er für minderwertig, ganz besonders den „Dreck“ des größten deutschen Herstellers Drachus. Aber BIKA-Kaffee ist keinen Deut besser. Brioni bezieht seine Bohnen von kleinen Kaffeefarmern in Übersee. Es überrascht nicht, dass er täglich seine vier Tassen starken Espressos braucht, um zu „funktionieren“, sonst ist er auf Entzug.

Die angehende Fernsehreporterin Agatha Weidemann will ihn interviewen, um eine Tränendrüsenstory zu basteln, aber daraus wird nichts. Brioni lässt sie auflaufen, so dass sie seinen Sohn interviewen muss, doch der rückt auch nichts raus. Unterdessen gelangt die Polizei zu der Erkenntnis, dass es sich bei den vergifteten Kaffeebohnen wohl um einen Anschlag und einen Erpressungsversuch handeln muss.

Anschläge

Nur: Wo und wer ist der Erpresser? Es gibt keine Forderungen, und die Bullen stehen vor einem Rätsel. Ihre Laboranten wissen aber, dass nur eine einzige edle Drachus-Kaffeesorte betroffen ist. Das ändert sich, als auch BIKA-Tüten mit Koffeinkügelchen präpariert werden. Zehn Gramm reines Koffein bringen einen Menschen um. Zum Glück ist bislang nur ein einziges Todesopfer zu beklagen, ein Achtzigjähriger, der jahrelang keinen Kaffee mehr getrunken hatte.

Über kurz oder lang warnen Behörden vor dem Trinken aller wichtigen Kaffeesorten in Deutschland. Das Leben geht in einen gemächlichen Rhythmus über, die Wirtschaft verlangsamt sich erheblich. Und das direkt vor einer wichtigen Parlamentsabstimmung, bei der das größte Sparpaket seit 30 Jahren verabschiedet werden soll. Die Protestierer haben in Berlin eine Demo mit 300.000 Teilnehmern angekündigt. Warum grinst dann der Chef der Industriellenvereinigung so siegessicher in die Kamera?

Die Spur führt in den Orient

Da erinnert sich Brioni an seine Kollegin Christine Savoy beim Kaffeeverband. In ihrem damaligen Büro entdeckte er in einem unbewachten Augenblick eine Studie über die „Wirkung des Kaffees auf die sozioökonomische Entwicklungsgeschwindigkeit“. Die Studie stammte von einem Institut, das zugleich ein Verein ist: „Verein zur Verlangsamung der Zeit“. Dieses Institut propagiert bei seinen Mitgliedern durchaus handfeste Aktionen, zu denen zum Beispiel auch mal Baustellen gehören, die pünktlich zum Ferienbeginn eingerichtet werden: Staus frustrieren nicht nur, sie verlangsamen auch die Zeit. Wie ein Agent schleicht sich Brioni dort als frischgebackenes Mitglied ein und lässt beim Direktor Unterlagen mitgehen.

Aha: Die Autoren der Studie sind zwei Professoren, und sie haben 45.000 Euro dafür bekommen – kein Pappenstiel! Und noch interessanter findet Brioni die Tatsache, dass die BIHAG-Bank, die die Transaktion abwickelte, zum Großteil arabischen Investoren gehört. Wollen die Araber den europäischen Kaffeemarkt zum Zusammenbruch bringen, um selbst ihre Kaffeekultur einzuführen – wie schon einmal 1683 bei Wien, als die Türken die Stadt belagerten?

Unsinn, denkt Brioni. Aber vielleicht ist was dran an den zwei Professoren. Wer bezahlte ihre Studie? Um dies herauszufinden, bittet er Agathe Weidemann um Hilfe. Denn er selbst wird inzwischen als Urheber der Anschläge auf die deutsche Kaffeekultur steckbrieflich gesucht – man hat sein Labor entdeckt …

Ihre gemeinsamen Recherchen in Österreich und Hamburg führen die beiden nicht nur zusammen, sondern auch auf die Spur einer unglaublichen Verschwörung.

Mein Eindruck

Social Engineering durch Kaffee-Entzug? Das ist mal was Neues. Was hier etwas hirnrissig klingt, stellt der Autor aber auf feste Fundamente, indem er zahlreiche Fundstücke, die Agathe und Brioni ausgraben, anführt, u. a. von den zwei professoralen Autoren der besagten Kaffee-Studie. Besonders Brioni als Kaffeeröster hat sich – ebenso wie der Autor – mit der Kulturhistorie der braunen Bohnen vertraut gemacht, allein schon aus geschäftlichen Gründen. Agathe fällt der Glaube daran trotzdem schwer, ebenso uns.

Dufte Revoluzzer

Die These des Autors, angeführt durch die genannten Kapazitäten, lautet wie folgt: Jeder Revolution ging ein intensiver Konsum von Kaffee voraus. Die Französische Revolution sah vorher die Jakobiner (Robespierre & Co.) zuhauf in den neumodischen Cafés der Hauptstadt sitzen und sich die Köpfe heiß reden. Die Amerikaner erklärten vor ihrer eigenen Revolution den bis dahin üblichen britischen Konsum von Tee als „unpatriotisch“, unterliefen somit die überhöhten Teezölle ihrer Kolonialherren und wurden eingefleischte Kaffeekonsumenten.

Aber warum klappte das nicht auch in den deutschen Landen? Auch dafür gibt es eine Erklärung: Der Kaffee war zu stark verdünnt, und die Protestierer bekamen nicht genügend Power oder Leute auf die Straße, um sich gegen die konservativen Kräfte durchzusetzen. Typisch, dass es von anno 1848 nicht einmal eine Unabhängigkeitserklärung oder ein Manifest gibt.

Ein Volk auf Entzug

Wenn es also zwischen dem Duft des Kaffees und der Revolution eine direkte Verbindung gibt, so gilt auch der umgekehrte Fall: Kaffee-Entzug, wie er durch die Anschläge herbeigeführt wird, entzieht den ansonsten hitzigen Demonstraten quasi den „Treibstoff“ ihres Protests und lässt die paar Hanseln, die müde über die Straße schlurfen, wie eine Minderheit aussehen. Die Abstimmung mit den Füßen endet als Flop. (Die Parallele zum Erdöl und Benzin liegt nahe: Laut Rekel ist Kaffee nach Erdöl der am zweithäufigsten gehandelte Rohstoff der Welt.) Nun kann das Parlament alleine schalten und walten, wie es will, und da offenbar der Opposition ebenfalls der Kaffee entzogen wurde, stehen die Chancen für die Regierungsfraktion gut, ihr Sparpaket durchzubringen.

Kaffeegenuss individuell

Man kann von dieser Hypothese halten, was man will, Hauptsache, sie wird konsequent im Buch durchgehalten und gestützt. Denn es handelt sich ja hier immer noch um fiktionale Literatur und der Autor könnte genauso gut behaupten, der BKA-Chef trage rosa Höschen. Interessanterweise scheinen jedoch Rekels Thesen einen Nerv der Zeit zu treffen.

Erst diesen Monat habe ich in der regionalen „Sonntagszeitung“ von Stuttgart einen Artikel über Kleinröster von Kaffee gelesen: Sie sitzen in Karlsruhe, Stuttgart und anderswo, produzieren Klein- und Kleinstmengen, das aber auf einem hohen Niveau und nach einem individuellen Rezept. Zur Kundenorientierung gehört auch, dass der Härtegrad des Wassers einer Stadt berücksichtigt wird. Deshalb gibt es eine „Stuttgarter Mischung“ usw.

Der Wert des Drecks

Das Motto der Kundenorientierung entspricht aber noch einem anderen Grundsatz, den Rekel durch sein alter ego Brioni aufstellt: Guter Kaffee gehört heutzutage einfach zum Lebensstil hinzu, und da wäre es einfach uncool, sich den 08/15-Kaffee aus dem Supermarkt zu gönnen – Brioni nennt dieses Zeug schlicht und ergreifend „Dreck“. Je exklusiver der Kaffee in seiner Mischung und seinem Geschmack, desto cooler ist es, ihn zu trinken. Wie Rekel schreibt, ist die Mischung „Blue Mountain“ aus Jamaika das absolute Top-Produkt. Grundsätzlich gilt: Jede Arabica-Bohne ist um Lichtjahre besser als eine minderwertige Robusta-Bohne.

Archaische Rituale

Aber man kann’s auch übertreiben. Das Buch wird eingeleitet und endet mit einem orientalischen Kaffeeröstritual, so archaisch, dass man als Hitech-Konsument nur den Kopf schüttelt über die Bekloppten, die sich dermaßen viel Zeit dafür nehmen, dass man die verschwendete Zeit glatt auf die Bank tragen könnte. Leider haben die Kopfschüttler keine Ahnung, was sie in geschmacklicher und emotionaler Hinsicht verpassen. Agathe, die schon drauf und dran ist, Brionis Wohnung zu verlassen, wird vom Lockstoff der Kaffeebohnen zurückgerufen und bereut nichts, was danach passiert …

Sicherlich, die spannende Krimihandlung trägt sehr zur Unterhaltung des Lesers bei, aber bei genauerem Hinsehen und Überlegen besteht diese Handlung mehr aus James-Bond-Aktionen und einer Schnitzeljagd klassischen Zuschnitts als einem Sherlock-Holmes-Abenteuer. Wenigstens wird die Sprache vom Autor klug und einigermaßen abwechslungsreich eingesetzt. Die 08/15-Füllwörter, die man zur Genüge aus Ami-Thrillern kennt, sind hier eindeutig in der Minderzahl und verschwinden schließlich ganz.

Schweigsame Helden

Das Einzige, was mir und Agathe Weidmann nicht gefällt, ist Brionis hartnäckiges und abweisendes Schweigen. Wo Heinz Rühmann sicherlich als Father Brown in eloquente Monologe ausgebrochen wäre, gähnt ein penetrantes Schweigen, das sich nur dadurch durchbrechen lässt, dass Agathe Brioni nach seinen Vorlieben und kulturhistorischen Kenntnissen in Sachen Kaffee fragt. Dann öffnen sich die Schleusen.

Unterm Strich

Die Lektüre dieses Romans fand ich ungewöhnlich spannend und informativ. Oberflächlich ein Krimi, wird durch die Hintertür eine Menge Kulturgeschichte und Philosophie in Sachen Kaffee eingeschmuggelt und, derart unterhaltsam verpackt, an den Leser gebracht. Die Figuren sind vielleicht nicht die faszinierendsten, aber in Brioni schuf der Autor wenigstens einen Charakter, der im Gedächtnis haften bleibt. Das kann man von den wenigsten Krimifiguren behaupten. (Brioni ist nicht zu verwechseln mit dem berühmten italienischen Schneider, bei dem Altkanzler Schröder seine Anzüge machen lässt.)

Wenn dieses Buch zu einer Renaissance des kultivierten und bewussten Kaffeegenusses beitragen würde, so wäre für den Lebensstil ebenso viel gewonnen wie für faire Handelsbeziehungen zu den Produzenten in Übersee. Was noch fehlt, ist eine Liste mit weiterführenden Internet-Links zu einschlägigen Webseiten.

Taschenbuch: 260 Seiten
ISBN-13: 978-3423245050

http://www.dtv.de

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)