Dank der Erfolgswelle, auf welcher der finnische Bestsellerautor Ilkka Remes zurzeit surft, erobern nun auch seine älteren Werke den deutschen Buchmarkt, wie jüngst „Hochzeitsflug“ aus dem Jahr 2001, das auf dem Buchdeckel mit den Worten „Dieses Buch ist das Ereignis des Jahres!“ angepriesen wird. Derlei Lobesworte fordern eine gründliche Prüfung natürlich geradezu heraus!
_Abgestürzt_
Christian Brück und Tina Carabella sind glücklich – nur zwei Tage sind es noch bis zu ihrer Hochzeit. Tina fliegt schon einmal vor nach Frankfurt, während Christian sich weiter seiner Arbeit als Hirnforscher widmet. Doch dann ereilt den Verlobten eine Schreckensbotschaft: Das Flugzeug, das seine Tina genommen hat, ist vor der Küste Montenegros vom Radar verschwunden und abgestürzt. Das Flugzeugwrack ist jedoch vollkommen leer – nur einige persönliche Gegenstände der Reisenden sind dort zu finden.
Überstürzt fliegt Christian nach Montenegro, um seine Verlobte zu suchen und den mysteriösen Ereignissen auf die Spur zu kommen. Dort trifft er Rebecca, deren Mann ebenfalls im abgestürzten Flieger gesessen hat. Die beiden finden einen Mann, der das Flugzeugwrack ausgeschlachtet und Tinas Handtasche gefunden hat. Er verlangt eine horrende Summe für eine Videokassette, die Tina offensichtlich kurz vor dem Absturz aufgenommen hat. Christian hat nicht genügend Geld und hinterlässt seinen Pass als Pfand für den Betrüger, der ihm im Gegenzug die Kassette aushändigt. Nun fehlt Christian und Rebecca allerdings ein Abspielgerät für das Band …
Sie machen Bekanntschaft mit der taffen Journalistin Sylvia, die auf Teufel komm raus an exklusive Informationen gelangen will. Wie ehrenwert ihre Methoden dabei sind, ist ihr oftmals egal. Als Christian und Rebecca mit dem fehlenden Geld losgehen, um Christians Pass auszulösen, finden sie den Mann ermordet vor. Nun beginnt eine wahrlich teuflische Hetzjagd, denn irgendjemand ist hinter dem Videoband her. Bald muss Christian auf schmerzliche Weise erfahren, dass er nicht einmal den Amerikanern, die den Flugzeugabsturz untersuchen sollen, trauen kann, denn auch sie wollen das Band haben.
Zeitgleich begibt sich Christians Exfreundin Sara, die einst mit Tina in einer WG wohnte, in Cannes auf Spurensuche. Schnell findet sie heraus, dass Tina nicht nur schwanger war, sondern auch einer mysteriösen Sekte angehörte. War der Flugzeugabsturz womöglich ein Massenselbstmord der Sektenmitglieder? Und welche Rolle hat Tina dabei gespielt? Und welche der Mann, den sie noch im Flugzeug innig küsste?
_Gar nicht beschaulich_
Zu Beginn lernen wir Christien Brück kennen, den promovierten Hirnforscher, der in einem großen Technologie- und Wissenschaftspark an der Côte d’Azur forscht. Schon auf der ersten Seite des Buches muss er einem Patienten zu Hilfe eilen, der einen anaphylaktischen Schock erlitten hat. Ilkka Remes verliert wieder einmal keine Zeit und lässt seinen Spannungsbogen schon hier beginnen. Wie wir später allerdings feststellen müssen, hat Christians Arbeit rein gar nichts mit den späteren Geschehnissen zu tun.
Viel interessanter wird es allerdings bei Tinas erstem Auftritt, denn schon hier treffen wir Jacob, der Tina in seine Arme zieht und küsst, obwohl sie doch zwei Tage später Christian heiraten will. Was hier gespielt wird, bleibt lange Zeit im Dunkeln, sodass der Leser das Buch im Handumdrehen durchlesen wird, um all die Rätsel, die Remes von Beginn an einstreut, aufgeklärt zu bekommen.
Der Spannungsbogen ist auf der ersten Hälfte perfekt gelungen. Ilkka Remes wechselt in rasanter Weise die Schauplätze, er schickt uns einmal mit Sara nach Cannes, die Tinas komisches Verhalten aufklären möchte, dann wiederum begleiten wir Christian und Rebecca bei ihren Nachforschungen, die immer gefährlicher werden, da die Verfolger ihnen näher rücken. Wir treffen auf Kurt Coblentz, der offensichtlich mehr über den Flugzeugabsturz weiß, den wir aber lange Zeit nicht einordnen können. Außerdem begegnen wir Luc Cresson, der eine Frau bis ins Krankenhaus verfolgt, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Die Kapitel sind kurz und enden meist mit einem Cliffhanger, der uns immer weiter durch die Geschichte zieht.
Leider flacht der Spannungsbogen immer mehr ab, denn irgendwann wird die atemlose Jagd auf Christian langweilig. Wir kennen dann seine Verfolger, ohne aber mehr Hintergrundinformationen zu erhalten, warum sie eigentlich hinter der Videokassette her sind. Obwohl uns Christian schon sympathisch ist, ist zu klar, dass er als Held der Geschichte überleben wird, als dass wir wirklich mit ihm mitfiebern. Natürlich möchten wir wissen, was das mysteriöse Videoband zeigt, doch Remes hält uns zu lange hin und klärt es dann doch zu unspektakulär auf. In der zweiten Hälfte habe ich nur noch schnell weiter gelesen, um endlich zu erfahren, was mit dem Flugzeug eigentlich passiert ist. Glücklicherweise trägt Remes‘ flüssiger und klarer Schreibstil sehr dazu bei, dass man das Buch ratzfatz durchgelesen hat.
Der Spannung abträglich ist auch die Flut von handelnden Figuren. Manche lernen wir nur |en passant| kennen, da Remes uns noch verschweigt, was die Personen bezwecken wollen, aber irgendwann war ich mir manchmal doch etwas unsicher, wohin ich die jeweiligen Charaktere sortieren sollte.
_Rätsel enträtselt_
Die Geschichte in „Hochzeitsflug“ ist völlig undurchschaubar und mysteriös. Das macht aber gerade die Faszination des Buches aus und verleitete mich immer wieder zum Weiterlesen. Was uns Ilkka Remes allerdings als Lösung präsentiert, konnte mich nicht hundertprozentig überzeugen. Die Auflösung der Rätsel ist schon reichlich abgefahren, sodass man mehrere Augen zudrücken sollte, um sich wirklich mit diesem Ende zufriedenzugeben. Wie jemand die Absturzopfer aus dem Flugzeug holen konnte, ohne dabei Spuren zu hinterlassen und wie tatsächlich einige den Absturz überleben konnten, blieb mir ebenso ein Rätsel wie die Frage, wieso bei der Säuberungsaktion Tinas Videokassette übersehen werden konnte.
Eine weitere Frage, die Remes früh aufwirft, ist die nach Tinas und Saras Vergangenheit. Die beiden haben einst zusammen in einer WG gewohnt, bis Christian sich gegen Sara und für Tina entschieden hat. Doch irgendetwas muss zwischen den beiden Frauen vorgefallen sein, denn Sara weicht Christians bohrenden Fragen immer wieder aus und deutet nur an, dass sie nicht darüber sprechen wolle. Was jedoch passiert ist, erfahren wir in diesem Buch nicht. Dieses Rätsel verpufft demnach leider völlig.
Auch handwerklich merkt man, dass es sich um eines der früheren Werke des finnischen Erfolgsautors handelt. So zeigt er zwar schon, dass er seine Leser mit seinem Schreibstil mitreißen kann, doch manchmal schleichen sich kleine Unstimmigkeiten ein. So gab es beispielsweise eine Szene zwischen Christian und Sylvia – die im Übrigen natürlich beide ein arg schweres Schicksal erlitten haben -, in der Sylvia eine winzige flapsige Bemerkung macht. Als Reaktion darauf geht Christian praktisch an die Decke und bezeichnet Sylvia als „verdammtes Miststück“, obwohl ihre Aussage keineswegs verletzend war! Nur zwei Absätze später ist Christians Ärger offensichtlich verpufft, denn da doziert er (in einer eigentlich recht bedrohlichen Situation) über die Funktionsweise des menschlichen Hirns. Echte Menschen würden sich definitiv anders verhalten.
Besonders authentisch sind die Charaktere in diesem Buch leider nicht. Christian Brück ist zwar durchaus sympathisch und auch Sara und Sylvia wachsen uns irgendwie ans Herz, aber die Geschichte, die Ilkka Remes seinen Hauptcharakteren angedichtet hat, scheint mir arg übertrieben. Keine der Figuren lebt ein normales Leben, alle sind vielmehr schwer gebeutelt, verletzt und kompliziert. Auch hier zeigt sich, dass Ilkka Remes im Laufe seiner schriftstellerischen Karriere einiges dazugelernt hat.
_Flitterwochen ausgefallen_
Unter dem Strich hat mich „Hochzeitsflug“ dennoch durchaus unterhalten. In nur drei Tagen hatte ich das Buch durchgelesen, weil der Spannungsbogen zunächst praktisch perfekt konstruiert war. Und auch als die Spannung abflachte, zogen mich die Cliffhanger und Remes‘ Schreibe weiter durch das Buch. An einigen Stellen zeigten sich handwerkliche Schwächen und auch die Auflösung überzeugte mich nicht vollkommen, dennoch eignet sich das vorliegende Buch sehr gut als unterhaltsame Urlaubslektüre, auch wenn die zahlreichen Charaktere mitunter etwas verwirren. „Hochzeitsflug“ ist sicherlich nicht Ilkka Remes‘ bestes Werk – das ist bis auf weiteres [„Das Erbe des Bösen“ 5468 – und es ist ganz bestimmt auch nicht „das Ereignis des Jahres“, aber das Zitat vom Buchrücken trifft dann doch gut zu: „ein Spannungsroman, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt.“
|Originaltitel: Uhrilento, 2001
Aus dem Finnischen von Stefan Moster
443 Seiten, kartoniert
ISBN-13: 978-3-423-21117-8|
http://www.ilkka-remes.de
http://www.dtv.de
http://www.ilkkaremes.com
_Ilkka Remes auf |Buchwurm.info|:_
[„Das Erbe des Bösen“ 5468
[„Ewige Nacht“ 2039
[„Das Hiroshima-Tor“ 2619
[„Blutglocke“ 3911
[„Höllensturz“ 3951