Rickman, Phil – Mittwinternacht

_Inhalt_

Hochwürden Merrily Watkins von der anglikanischen Kirche erhält ein beunruhigendes Angebot: Der neue Bischof, jung, modern und grenzgängerisch, würde sie gern zur neuen „Beraterin für spirituelle Grenzfragen“ ernennen. Was durch die behutsame Umbenennung vor zwanzig Jahren nun nach einer Art Gesprächstherapie klingt, ist de facto nichts anderes als Exorzismus. Merrily ist hin- und hergerissen: Einerseits wüsste sie so gern mehr über „spirituelle Grenzfragen“, hat sie selbst doch im Jahr zuvor eine Erscheinung gehabt, die sicherlich in dieses Ressort fiele, aber andererseits hat sie Angst vor dem, was sich ihr erschließen könnte. Natürlich weiß sie auch, dass die Ernennung einer Frau auf diesem Sektor ein knallhartes Politikum darstellt, und ist sich nicht sicher, ob sie sich dergestalt vereinnahmen lassen will.

Doch noch während sie mit sich ringt, wird sie in einen Strudel von Ereignissen gesogen, der ihr die Entscheidung quasi abnimmt. Und während sie gegen das Böse in seiner offensichtlichen und in seinen weniger offensichtlichen Manifestationen antritt, verliert sie ihre Tochter aus den Augen, die andere Wege sucht, ihre spirituellen Bedürfnisse zu befriedigen. Sind Janes Freunde nur harmlose Spinner? Sind sie ernsthafte Heiden, oder verbergen sie ganz andere Ziele hinter ihren freundlichen Gesichtern?

Und apropos: Macht der Bischof selbst nicht irgendwie ab und an ein |zu| freundliches Gesicht?
Als Merrliy dann auch noch Lol wieder begegnet, mit dem sie eine Zeit lang sehr eng befreundet war, von ihm unheimliche Geschichten über eine seiner Bekannten hört und ihr von anderer Seite Berichte über eine Kirchenschändung zugetragen werden, geht ihr langsam auf, dass all diese Dinge möglicherweise zusammenhängen. Sollte sie Recht haben, braut sich gerade etwas zusammen, das möglicherweise zu groß und zu stark für sie wird …

_Kritik_

Exorzismus. Dabei denkt der Durchschnittsmensch an einen Horrorfilm und ein kleines Mädchen, das grünen Schleim kotzt. Auf jeden Fall hat das Ganze einen mittelalterlichen Anklang, und so kann man sich der Assoziation des Anachronistischen nicht ganz entziehen, die dieses Wort hervorruft. Und doch gibt es nach wie vor Exorzisten in Kirchendiensten. Das Thema wird – wie so vieles, das sich wissenschaftlichen Erklärungen entzieht – oft beiseite geschoben. Phil Rickman hingegen stellt es in den Mittelpunkt seines Romans und setzt damit verstärkt fort, was er in dem Erstling der Merrily-Watkins-Reihe („Frucht der Sünde“) begonnen hat.

Vielleicht wäre es insgesamt schwerer, ihm den Plot abzunehmen, wenn Merrily Watkins nicht so eine nette, vernünftige, unsentimentale Person wäre. Da sie aber überhaupt nicht schwülstig daherkommt, sondern wie jede andere arbeitende und alleinerziehende Mutter auch versucht, Beruf und Kind unter einen Hut zu bekommen, wirkt die Handlung weniger abgehoben als vielmehr unmittelbar. Und der Verdacht, dass nicht nur Das Böse, sondern auch schlichte, wenngleich kriminelle Menschen in dieser verwickelten Geschichte mitmischen, tut sein Übriges, um die Bodenhaftung des Romans zu wahren.

Auch die Darstellung der halbwüchsigen Tochter Merrilys, Jane, ist überraschend gut gelungen. Sechzehnjährige Mädchen mit all ihren inneren Konflikten so darzustellen, dass sie nicht albern oder überzogen wirken, ist keine Kleinigkeit, und die Tatsache, dass ein Mann mittleren Alters diese Schwierigkeiten bewältigt, nötigt mir Achtung ab. Jane ist kein peinlicher Charakter geworden, sondern vielschichtig und so zerrissen, suchend, ungestüm, sehnsuchts- und liebevoll, wie ihr Alter es gebietet. Hut ab, Phil Rickman.

_Fazit_

Nach Erscheinen des ersten Bands der Merrily-Watkins-Reihe habe ich ungeduldig auf den zweiten gewartet. Wie schon einmal hat mich Phil Rickman überrascht – war der erste Roman doch überwiegend Krimi mit einem verblüffenden Schlenker ins Metaphysische, liegt der Schwerpunkt beim zweiten deutlich anders. Ob ich damit von Anfang an gut klarkam, sei mal dahingestellt. Aber ich muss sagen, dass das Buch fesselt. Sicherlich liegt das mit an den fein ausgearbeiteten Charakteren, aber auch an dem ungewöhnlichen Thema und der deutlich erkennbaren sorgfältigen Recherche, die Rickman betrieben hat. „Mittwinternacht“ ist ein dichter, spannender Thriller, der trotz seines unorthodoxen Inhalts nicht unglaubwürdig wirkt und seinen Leser gefangen nimmt. Ich kann ihn und seinen Vorläufer nur wärmstens empfehlen und hänge mal den Tipp an, auf weitere Veröffentlichungen Rickmans ein wachsames Auge zu haben. Der Mann versteht zu unterhalten.

|Broschiert: 604 Seiten
ISBN-13: 978-3499249068
Originaltitel: Midwinter of the Spirit
Aus dem Englischen von Karolina Fell|
http://www.rowohlt.de

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