Riera, Carme – englische Sommer, Der

Ein Sprachurlaub ist eigentlich etwas Schönes. Man tut Gutes für das Gehirn und lernt dabei noch ein fremdes Land besser kennen – jedenfalls im Normalfall. Die spanische Schriftstellerin Carme Riera entwirft in ihrem Roman „Der englische Sommer“ allerdings ein weniger erfreuliches Szenario …

Die Immobilienmaklerin Laura Prats ist eine Frau Ende vierzig, die neben dem Spanischen keine Fremdsprachen beherrscht. Das wird ihr zum Verhängnis, als eine Beförderung in Aussicht steht. Sie beschließt, sich durch ihr fehlendes Englisch nicht noch einmal die Chance auf ein höheres Gehalt nehmen zu lassen, und meldet sich zu einem Intensivkurs auf dem englischen Land an.

Sie ist ganz aufgeregt, als sie Mrs. Grose, ihre Lehrerin und Gastgeberin, das erste Mal trifft. Eigentlich hat sie sich diese ein bisschen anders vorgestellt, denn auf dem Foto auf der Website war sie wesentlich adretter. In der Realität ist sie eine übergewichtige, ziemlich grobe Frau, die Laura schon bald nicht mehr ganz geheuer ist. Sie behandelt sie wie ein Kind, bestraft sie beim Unterricht für ihre Fehler mit Essensentzug oder Hausarrest und prüft jeden Freitag ihr erlerntes Wissen ab. Laura schaut sich dieses Verhalten eine Weile an, doch bald wird ihr Angst und Bange. Mrs. Grose redet davon, einen gewalttätigen Ex-Mann zu haben, der sie in ihrem Landhaus immer wieder aufsucht. Außerdem hört Laura nachts ein seltsames Weinen. Als sie versucht, den Kurs abzubrechen, stellt sich ihre Lehrerin quer. Sie sagt, sie wird Laura nicht gehen lassen, bevor sie nicht ordentlich Englisch gelernt hat. Für die Immobilienmaklerin beginnt ein Alptraum …

Carme Rieras Roman erstreckt sich über nur 122 Seiten, aber auf diesen wenigen Seiten macht sie alles richtig. Die Handlung der Geschichte konzentriert sich ausschließlich auf die Ereignisse von Lauras Sommerurlaub. Die Autorin schweift so gut wie nie ab, so dass die Spannung konstant gehalten wird. Tatsächlich besitzt das Buch beinahe schon kammerspielartigen Charme, da sich fast alles zwischen den Hauptpersonen Laura und Mrs Grose auf deren Landgut abspielt. Die Unberechenbarkeit der Englischlehrerin und ihr augenscheinlicher Hang zu seltsamem Benehmen führen dazu, dass man das Buch nicht aus der Hand legen kann. Wieso ist sie so? Was steckt dahinter? Wie wird es mit Laura weitergehen?

Laura, die Ich-Erzählerin, ist eine sehr sympathische Hauptfigur. Sie beginnt ihre Geschichte so, als ob sie ihren Anwalt ansprechen würde, was den Leser zusätzlich auf die Folter spannt, denn er möchte wissen, was Laura getan hat, um im Gefängnis zu landen. Obwohl sie mit 49 Jahren und ihrem Geschlecht wie ein Fall für die typische Frauenliteratur wirkt, ist sie auch für andere Zielgruppen interessant, da sie nicht als Karikatur, sondern als echte und lebendige Person dargestellt wird. Man erfährt sehr viel über ihre Gedanken und Gefühle, die so eindringlich geschildert werden, dass man ihre Ängste und Sorgen wegen Mrs. Grose nachvollziehen kann.

Lauras durchgehender „Monolog“ ist so gestaltet, dass er sich so liest, als bekäme man ihn persönlich erzählt. Riera schreibt locker und ungezwungen. Sie benutzt einen großen Wortschatz und garniert das Geschriebene mit einer eigenen Note. Nach der Lektüre hat man das Gefühl, Laura persönlich kennen gelernt zu haben. Obwohl sie durchaus humorvoll sein kann, wird die Autorin nie lächerlich, sondern hält ihren Roman auf einem hohen Niveau.

„Der englische Sommer“ ist leicht bekömmlich, aber dennoch spannend und literarisch sehr ansprechend. Der Titel klingt vielleicht wie ein verlockender Urlaubsroman, doch Vorsicht: Lauras Erlebnisse sind nicht gerade dergestalt, dass sie den Leser ruhig schlafen lassen …

|Originaltitel: L’estiu del l’anglès
Aus dem Katalanischen von Kerstin Brandt
ISBN-13: 978-3-548-60866-2
122 Seiten, Taschenbuch|
http://www.list-taschenbuch.de

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