Rönkä, Matti – Entfernte Verwandte

_Finnen-Krimi für den langen Atem_

Helsinki 2006: Viktor Kärppä führt gerne mal billigen Fusel aus Russland ein, um ihn teuer weiterzuverkaufen. Ansonsten sind seine Geschäfte durchaus legal. Okay, da sind die zwei Wohnungen, die er an einen russischen Gangster vermietet hat. Aber was geht das Viktor an? Das ändert sich, als er dort kiloweise Drogen findet. Und kurz darauf ein entfernter Verwandter ermordet wird … (Verlagsinfo)

_Der Autor_

Matti Rönkä, geboren 1959 in Nord-Karelien, ist Journalist. Er hat sowohl in den Printmedien als auch beim Radio gearbeitet und ist heute Chefredakteur und Nachrichtensprecher beim finnischen Fernsehen. Jeder Finne kennt ihn als „Mister Tagesschau“ – und als Autor sehr erfolgreicher Krimis. Rönka lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Helsinki. Er wurde mit dem Finnischen, dem Nordischen und dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. (Verlagsinfo)

Bereits erschienen:

„Der Grenzgänger“
„Bruderland“
[„Russische Freunde“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7947
„Zeit des Verrats“

Hinsichtlich des Hintergrunds bitte meine Rezension zu „Russische Freunde“ lesen. Danke.

Folgendes Wissenswertes berichtet der Autor in seinem Nachwort zu „Entfernte Verwandte“:

Auf mütterlicher Seite ist Viktor Gornojewitsch / Kärppä ein Karelier. Diese bilden ein eigenes Volk, dessen Sprache eng mit dem Finnischen verwandt ist. Nach dem finnischen Bürgerkrieg von 1917/18, der auf die Unabhängigkeit von Schweden folgte, flohen viele der unterlegenen „Roten“ vor den bürgerlichen „Weißen“ nach Russland. Hier wollten sie das Arbeiterparadies aufbauen. Während der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre kamen selbst Finnen aus den USA und Kanada hierher nach Karelien.

Auf der väterlichen Seite jedoch ist Viktor Ingermanländer. Diese siedelten in einem schmalen Streifen nordöstlich von St. Petersburg. Es sind Finnen, die im 17. und 18. Jahrhundert von den Schweden angesiedelt wurden, um die lutherische Kirche im Osten zu stärken. Rund 200.000 Finnen pflegten die finnische Kultur usw. Doch besonders zu Stalins Zeiten wurden Finnen verfolgt, in Lager gesteckt, Familien auseinandergerissen und Bevölkerungsteile in ferne Gegenden Russlands vertrieben.

Im II. Weltkrieg eroberte die deutsche Wehrmacht Ingermanland, um Leningrad einzuschließen. Die dort lebenden Menschen wurden nach Finnland umgesiedelt. Dort schlossen sie Ehen mit Finnen und adoptierten verwaiste Kinder. Ingermanländische Männer, die (1939/1940) in finnische Gefangenschaft geraten waren, schlossen sich der finnischen Armee (1941-45) an, wo sie „Stammesbataillone“ bildeten. Den Ingermanländern wurde insgeheim eine gesicherte Zukunft in einem „Großfinnland“ versprochen.

Nach dem verlorenen Krieg 1944 mussten allen Sowjetbürger zurück in die Sowjetunion, darunter an die 60.000 Ingermanländer mit zahlreichen Adoptivkindern. Manche blieben mit gefälschten papieren in Finnland oder flohen nach Schweden. In der Sowjetunion wurden die Ingermanländer erneut zerstreut, doch vielen gelang es, sich in Russisch-Karelien, Estland oder Ingermanland niederzulassen. Nach 1990 erlaubte Finnland den Ingermanländern die Rückkehr nach Finnland. Etwa 30.000 Ingermanländer erlangten so die finnische Staatsangehörigkeit, doch sie sprachen kein Finnisch und waren entwurzelt. So erging es auch Viktor.

_Handlung_

Der Bauunternehmer Viktor Kärppä kämpft an mehreren Fronten gleichzeitig. Seit seine Lebensgefährtin Marja eine kleine Tochter namens Anna hat, fordert sie von Vitjuha mehr Erfüllung seiner Vaterpflichten. Doch in der Firmenkasse herrscht Ebbe, die nach Flutung verlangt. Das Baugeschäft bringt wenig ein, also hat Viktor an den Exilrussen Maxim Frolow zwei Wohnungen vermietet. Weil ihm Frolow auch noch Schwarzarbeiter andrehen will, schaut Viktor mal nach dem Rechten. Was er findet, schockt ihn.

In Wohnung Nr. 1 hat Frolow ein Bordell eingerichtet. Wenigstens verrät ihm die Prostituierte, was es mit Frolows Geschäften auf sich hat: Menschen- und Drogenhandel beispielsweise. In Wohnung Nr. 2 findet er einen Junkie im Heroinrausch vor. Na prächtig, denkt Viktor, und es ist auch noch Slawa, den er als Hausmeister eingestellt hat, um ihn von der Straße zu holen. Das hat man nun von der Nächstenliebe. In einem Versteck findet er mehrere Kilo Rauschgift, das Frolow hier wohl gebunkert hat.

Bevor man jemanden verrät, sollte man unter Russen immer erst prüfen, über welche Verbindungen das Ziel verfügt. Deshalb schaltet Viktor den Kulturattaché der russischen Botschaft in Helsinki. Mit anderen Worten: den Chefspion Putins in Finnland. Alexander Malkin liefert auch die entsprechenden Informationen über Frolows Verbindungen: einen Esten und einen Tschetschenen. Der Este Wadim besorgt das Rauschgift, aber der Tschetschene Imran ist wahrscheinlich ein Terrorist. Das baut Viktor richtig auf. Er verweist Slawa sicherheitshalber des Landes, bevor der sich zusammenbrauende Ärger blutig wird.

Eines Tages steht eine Frau mit einem Jungen vor der Tür, und Marja ärgert sich erneut: Is Viktors Haus jetzt zum Asylantenheim erklärt worden? Aber nein. Xenja ist die Frau von Pawel, seinem Vetter 2. Grades, und Sergej ist ihr Sohn. Pawel, der aus dem russischen Ingermanland (s. o.) stammt, sollte hier in Finnland ein paar Wochen oder Monate auf dem Bau schwarz arbeiten, erzählt sie, doch er habe nie wieder etwas von sich hören lassen. Blutsbade verpflichten ihn, Xenja und Sergej aufzunehmen. Wenigstens dies versteht Marja.

Inzwischen sind die Cops Viktor auf den Fersen, denn sie versuchen, etwas über seinen angeblichen „Partner“ Maxim Frolow herauszufinden. Als auch noch Frolows Handlanger Wadim und Imran ihn einzuschüchtern versuchen, weil sie alles über Slawas Verschwinden erfahren haben, ist das Maß voll. Viktor besorgt sich eine Lebensversicherung in Gestalt des gebunkerten Heroins in seiner Wohnung. Die Prostituierten bringt er bei seiner Sekretärin Oksana unter.

Doch wo ist nur Vetter Pawel abgeblieben, fragt sich Viktor, der von seine Kusine Xenja täglich neu daran erinnert wird. Als ein Pärchen die verbrannte Leiche von Pawel auf einer versteckten Baustelle findet und gleich danach der Cop Teppo Korhonen bei Viktor auftaucht, äußert Viktor seinen Verdacht gegen Frolow, der ja solche Schwarzarbeiter als moderne Sklaven ausbeutete.

Kurz darauf ist Xenja verschwunden. Viktor und sein Assistent Matti Kiuri ahnen Schlimmes. Sie bewaffnen sich bis an die Zähne und rasen los, um Maxim Frolow einen längst überfälligen Besuch abzustatten …

_Mein Eindruck_

Wie schon in „Russische Freunde“ und „Zeit des Verrats“ setzt sich der Autor kritisch mit dem neuen Finnland auseinander, das offenbar von vielen Russen besiedelt wird. Nicht zuletzt auch von Russen, die ehemals Finnen waren, also Karelier und Ingermanländer (s. die Hintergrundinformation). Welche Moral und Absichten hegen diese Zugewanderten, fragt der Autor, und das Urteil fällt nicht immer positiv aus.

Maxim Frolow ist der ultimative Gangster, der sich als Biedermann ausgibt. Doch Drogen- und Menschenhandel sind für ihn kein Problem. Hauptsache, seine Schergen, der Tschetschene und der Este, machen für ihn die Drecksarbeit, solange er seine weiße Weste behalten kann. Natürlich versucht er, auch so „aufrechte“ Zuwanderer wie Viktor Kärppä zu korrumpieren. Doch dabei löst er einen alten Konflikt aus, der ihn Viktor zum Feind macht: die entfernten Verwandten erheben ein Anrecht auf Viktor – und ausgerechnet einen davon, Pawel, hat Frolow als modernen Sklaven ausgebeutet und dessen Witwe und Waisensohn hinterlassen. (Wer jetzt an antike Mythen denkt, liegt genau richtig.)

Sicher, Viktor ist selbst kein Ruhmesblatt in der Geschichte der Ex-Karelier. Und ebenso wenig sind es wohl seine Vorväter gewesen, wie wir aus seinen Erinnerungen und Träumen erfahren. Darutner waren Rebellen, aber auch Kollaborateure mit dem russischen System. Und schließlich hat Mütterchen Russland selbst dafür gesorgt, dass aus Viktor etwas Rechtes wurde: Es bildete ihn zum Soldaten der Spezialtruppen ebenso aus wie zum Skilaufweltmeister – eine körperliche Kondition, die ihm auch heute noch, rund 20 Jahre später, zustatten kommt.

Die causa Frolow zwingt Kärppä, das listenreiche Wiesel, sich für eine Seite zu entscheiden. Der Moment dafür lässt sich genau bezeichnen. Viktor hat Frolows Drogenversteck in Ruhe gelassen, obwohl das Rauschgift ein Vermögen wert ist. Erst als der Tschetschene und der Este ihm und Matt Kiuri drohen, sieht Kärppä den Zeitpunkt gekommen, sich die Heroin-Kilos anzueignen – sie liegen ja in seiner eigenen Wohnung – und als Lebensversicherung zu verwenden. Er denkt nicht im Traum daran, das Teufelszeug selbst zu verhökern. Damit würde er sich auf eine Stufe mit Frolow stellen.

Eine zweite, finale Wendung erfolgt, als Pawel, Xenjas mann, tot aufgefunden wird und Xenja selbst verschwindet. Wurde sie entführt, fragen sich Viktor, Matti, Sergej und schließlich auch Marja. Nur ein Besuch bei Frolow kann Aufklärung bringen. Doch was dann folgt, ist alles andere als das, was der Leser, der amerikanische Krimikost gewöhnt ist, erwartet hat.

_Die Übersetzung_

Zur Übersetzung gilt, was ich bereits über „Russische Freunde“ und „Zeit des Verrats“ schrieb:

„Die Übersetzerin hat nicht nur die wechselnden Ebenen des sprachlichen deutschen Stils gut getroffen, sondern auch unzählige kulturelle Details Finnlands und Russland sicher übertragen. Inwieweit sie dabei eigene Formulierungen hat einfügen müssen, bleibt unklar. Jedenfalls hat sie dazu keine Fußnoten bemüht, die manchen Lesern ja so lästig fallen.

Weil es keine Fußnoten gibt, muss man sich aber auch mit der Tatsache abfinden, dass manche der russischen Ausdrücke, die Viktor benutzt, einfach so stehen bleiben. Es sind allerdings nie ganze Sätze, so dass man die Wörter leicht online nachschlagen kann.“

Diesmal hat Gabriele Schrey-Vasara zwei Fehler gemacht. Der Erste findet sich auf Seite 154: „… den Gegner mit einem skrupellosen Angriff überrempeln.“ Korrekt wäre natürlich „überrumpeln“. Das (An-) Rempeln wäre viel zu schwach und wirkungslos.

Das erste Wort auf S. 233 lautet „Kriminalmeister“. Unter diesem finnischen Polizeidienstgrad, dem offenbar untersten bei der Kripo, kann sich der deutsche Leser leider nichts vorstellen. Hier wäre die deutsche Dienstgradentsprechung besser gewesen.

_Unterm Strich_

Für meinen dritten Rönka-Roman habe ich etwas länger als sonst benötigt. Der Auftakt scheint kein Ende zu nehmen, und die Mitte scheint nirgendwohin zu führen. Erst der Abschluss der vielen ausgeworfenen Handlungsfäden erfolgt mit der angemessenen Spannung und Action. Andererseits lebt dieser Roman von seinen inneren Kontrasten.

Der Handlungsstrang um den Karelier Pawel Wadajew beispielsweise ist sehr subjektiv im Erzählstil des persönlichen Erzählers gehalten, so dass wir zwar viel von seiner schlichten Denkungsart mitbekommen, aber reichlich wenig von Außenwelt. Es ist fast schon ein innerer Monolog, ähnlich einem der zahlreichen Träume, die Viktor Kärppä erlebt.

Dann wieder erlebt Kärppä mit seinem Spezialfreund Korhonen von der Kripo einen merkwürdigen Dialog nach dem anderen. Der kleine Sergej, Xenjas Sohn, erklärt Teppo Korhonen für „plemplem“, und damit hat er völlig recht. Allerdings versteckt der Finne mit seiner überdrehten Art nicht nur seine Verzweiflung über seine eigene Familie (drei Frauen!), sondern auch die wachsende Frustration über permanente dienstliche Zurücksetzungen. Muss er sich doch neuerdings von einem jungen Schnösel herumkommandieren lassen!

Dem stehen die harten Fakten gegenüber, die Kärppä schrittweise über Frolow ans Tageslicht fördert: der Handel mit harten Drogen aus Estland, die Zuhälterei mit russischen und estnischen Frauen, schließlich der Menschenhandel mit Fremdarbeitern wie Pawel Wadajew. Kärppä, das alte Wiesel, erkundigt sich erst einmal, wie die Russen überhaupt zu Frolow stehen, bevor er ihn sich vornimmt. Weder die Petersbürger Unterwelt noch die Spione in der russischen Botschaft würden Frolow auch nur eine Träne nachweinen, ganz im Gegenteil.

Deshalb scheint Viktor der Menschheit in Form der finnischen Gesellschaft einen Gefallen zu tun, wenn er Frolow zur Rede stellt, wo Xenja abgeblieben sei. Doch das, was er vorfindet, entspricht ganz und gar nicht seinen Erwartungen. Mehr darf nicht verraten werden. Man sieht also, dass man für diesen Kärppä-Krimi einen etwas längeren Atem mitbringen sollte. Aber das Finale entlohnt für die Mühe voll und ganz.

|Hinweis|

„Entfernte Verwandte“ sollte um der Chronologie der Ereignisse willen nach „Russische Freunde“ und vor „Zeit des Verrats“ gelesen werden. Der Hauptgrund ist der, dass der kleine Sergej, Xenjas Sohn, in „Russische Freunde“ noch nicht da ist, in „Zeit des Verrats“ aber gar nicht mehr erklärt wird. Die Erklärung liefert nur der Roman dazwischen, eben „Entfernte Verwandte“.

|Originaltitel: Isä, poika ja paha henki, 2008;
Taschenbuch: 253 Seiten
Aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara
ISBN-13: 978-3404166633|
http://www.luebbe.de

_Matti Rönkä bei |Buchwurm.info|:_
[„Russische Freunde“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7947

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