Rose, Joel – Kein Rabe so schwarz

Der amerikanische Autor Joel Rose hielt es mit seinem Roman „Kein Rabe so schwarz“ wie mit einem guten Wein: Er ließ ihn reifen. Knapp zwanzig Jahre recherchierte er dafür, 4000 Seiten schrieb er. Letztendlich kürzte er die Geschichte auf die vorliegenden 513 Seiten, auf denen er versucht, das New York Mitte des 19. Jahrhunderts aufleben zu lassen.

Wenn man seine Geschichte in einer so weit zurückliegenden Zeit ansiedelt, ist es notwendig zu recherchieren. Doch wofür brauchte der Autor zwanzig Jahre? Das klingt doch nach allzu viel Zeit für einen Roman. Die lange Reifezeit könnte damit zusammenhängen, dass Rose nicht nur einfach ein Bild des alten New Yorks zeichnen möchte, sondern mehrere historische Persönlichkeiten in seine Kriminalgeschichte eingebaut hat. Neben den kurzen Auftritten verschiedener Persönlichkeiten der Literaturszene von damals ist es hauptsächlich der Schriftsteller und Dichter Edgar Allan Poe, dem Rose sich widmet.

1841 wird die hübsche Zigarrenverkäuferin Mary Cecilia Rogers erdrosselt und misshandelt im Hudson River gefunden. Dieser real geschehene Mordfall soll später Anlass für die Poe-Erzählung „Das Geheimnis der Marie Rogêt“ sein. Joel Rose wiederum nimmt den eigentlichen Fall zur Hand, bereitet ihn literarisch auf und lässt Poe im Verlauf der Geschichte seine Erzählung veröffentlichen, die bei den Ermittlungen keine unwichtige Rolle spielt.

High Constable Hays, ein in die Jahre gekommener Mann, dessen Geist aber immer noch einwandfrei funktioniert, wird beauftragt, den Fall Mary Rogers zu lösen. Das Zigarrenmädchen bleibt allerdings nicht die einzige Tote. Wenig später findet man am Hudson River die Leiche des Druckers Samuel Adams und dann geschieht ein dritter Mord. Der junge Gangster und Bandenchef Tommy Coleman soll seine Frau, deren Liebhaber und seine vierjährige Tochter umgebracht haben.

Während die letzten beiden Fälle schnell aufgeklärt werden können, kommt Hays dem Mörder von Mary Rogers keinen Schritt näher. Immer wieder wird seine Aufmerksamkeit von anderen Polizeiarbeiten abgelenkt, doch Mary Rogers verfolgt ihn jahrelang. Erschwerend ist, dass die junge Dame, obwohl verlobt, anscheinend ein Verhältnis mit einem anderen Mann hatte. Doch wer war dieser andere Mann und ist er vielleicht der Mörder?

Zur gleichen Zeit taucht der zerrissene und verarmte, aber geniale Dichter und Schriftsteller Edgar Allan Poe in der Stadt auf. Immer wieder sorgt er für Ärger, weil er sich mit allen möglichen Leuten, vor allem aus dem Literaturgeschäft, anlegt, während ihm die Frauen zu Füßen liegen. Als er verkündet, eine dreiteilige Geschichte zu veröffentlichen, die den Mordfall um Mary Rogers aufklären soll, sorgt er für einen handfesten Skandal. Hays, der unbestechliche Polizist – den der Fall Rogers immer noch nicht losgelassen hat – und seine Tochter Olga versuchen, Poes Geschichte zu entschlüsseln. Steckt letztendlich in der Erzählung wirklich ein Hinweis auf den Mörder?

Eines ist nach dem Lesen dieses Buches gewiss: Die zwanzig Jahre Recherche haben sich gelohnt. Rose zeichnet ein sehr detailliertes, authentisch wirkendes Bild des 19. Jahrhunderts. Sogar die Art und Weise, wie und aus welcher Sicht er schreibt, versetzt er zwei Jahrhunderte zurück. Mit gehobenem Wortschatz erzählt er virtuos und an Poes Werke angelehnt. Besonders am Anfang ist der gestochene Schreibstil für den Durchschnittsleser deshalb gewöhnungsbedürftig. Die verschachtelten Sätze, die oft viele beschreibende Satzteile und Adjektive enthalten, sind anfangs etwas anstrengend.

Dadurch ist „Kein Rabe so schwarz“ kein Buch für jedermann. Ein historisches Interesse sollte vorhanden sein, eine Abneigung gegen Edgar Allan Poe ist sicherlich auch keine gute Voraussetzung für diesen Roman. Hinzu kommt, dass das Buch trotz des gut recherchierten Hintergrunds nicht auf ganzer Linie überzeugt. Vor allem die Handlung hat ihre Schwächen, was daran liegen mag, dass Rose sich an einem realen Fall orientiert. Dadurch wird das Buch sehr in die Länge gezogen. Die Aufklärung des Mordes an Mary Rogers findet zum Beispiel erst fünf Jahre später statt. Der Autor begeht zum Glück nicht den Fehler, den gesamten Zeitraum dazwischen haarklein darzustellen. Er macht Zeitsprünge, kann es aber nicht lassen, an einigen Stellen allzu sehr in die Breite zu gehen. Oft fehlt es an einem gemeinsamen Nenner, besonders am Anfang, und es gibt kaum eine echte Sogwirkung.

In der Mitte wendet sich kurz alles zum Guten. Die Geschichte kommt in Fahrt, um die Mordfälle herum baut sich Spannung auf. Für kurze Zeit besteht das Buch weniger aus Gedankenspielen Hays‘, sondern aus richtigen Ereignissen. Man glaubt, der Lösung des Falls nun nahe zu sein, und hofft auf einen rasanten Showdown. Leider enttäuscht Rose diese Hoffnung. Gegen Ende wird die Geschichte wieder flacher und die Aufklärung des Falls stellt sich als äußerst speziell dar. Die Handlungen des Mörders und sein Motiv lassen sich rückblickend nur schwer nachvollziehen, da es im Vorfeld kaum Ansatzpunkte dafür gab, dass er in den Fall verstrickt sein könnte.

Was der Handlung auf jeden Fall mehr Tiefe verliehen hätte, wären schärfer umrissene Charaktere. Rose stattet seine Personen zwar mit den richtigen Attributen aus und erwähnt auch, wodurch sie sich auszeichnen und wie sie wirken. Leider entfaltet sich diese Wirkung aber nur selten in der Geschichte. Selbst Hays, der eine zentrale Rolle im Buch spielt und als „Vorbild“ für Poes Meisterdetektiv Monsieur Dupin fungiert, bleibt blass. Der Leser weiß, was den High Constable ausmacht, findet aber innerhalb der Buchdeckel kaum Zugang zu ihm. Es fehlt an nachvollziehbaren Gefühlen, während es mehr als genug Gedanken nachzulesen gibt.

Auf der Romanfigur Edgar Allan Poe liegt in diesem Fall natürlich besonderes Augenmerk; immerhin gibt es ein reales Vorbild. Dieses ist zwar schon lange tot, aber sein Leben gibt genug Stoff her für mehr als einen Roman (siehe dazu zum Beispiel den ähnlich gelagerten Poe-Krimi [„Die Stunde des Raben“ 3552 von Matthew Pearl). Rose schafft es, den Schriftsteller Poe einigermaßen lebendig werden zu lassen, doch auch ihm fehlt es ein wenig an Farbe. Manchmal verlässt sich Rose zu sehr auf die Ereignisse aus der Biografie des realen Poe, anstatt den fiktiven Poe vielschichtig zu gestalten.

Letztendlich muss man „Kein Rabe so schwarz“ trotz dieser Fehler Respekt zollen. Das Buch ist unglaublich gut recherchiert und lässt das 19. Jahrhundert auf über 500 Seiten lebendig werden. Man merkt, dass der Autor sich lange mit Poe und der historischen Epoche auseinandergesetzt hat. Sogar seinen Schreibstil hat er an diese Zeit angepasst, doch dabei bleiben die Personen und die Handlung leider etwas auf der Strecke.

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