Ruff, Matt – Ich und die anderen

Matt Ruff ist im Prinzip in sehr unberechenbarer Autor. Seine Bücher sind kurios und phantasievoll und zuweilen überraschend. Für den Leser ist ein neuer Matt-Ruff-Roman stets gleichermaßen ein neues Lesevergnügen wie eine Herausforderung. Ruff lässt sich ganz einfach nicht auf ein Schema festlegen. Seine Romane sind ein Wechselbad der Gefühle. Er vermischt verschiedene Genres wie kein anderer und komponiert aus Belletristik, Fantasy und Science-Fiction seine ganz individuellen Romankreationen.

Mochte man ihn auf das Einbinden von Elementen aus Sci-Fi und Fantasy nach seinen ersten beiden Werken „Fool on the Hill“ und „G.A.S.“ schon festlegen (obwohl beide Werke dennoch sehr unterschiedlich sind), so dürfte er seine Leserschaft mit seinem aktuellen Werk „Ich und die anderen“ aufs Neue überraschen. Auf den ersten Blick ein untypischer Ruff, entpuppt er sich erst bei genauerer Lektüre als randvoll mit typisch Ruffschen Romanelementen, allen voran seine herausragende und souveräne Erzählweise.

„Ich und die anderen“ hat ein für sich gesehen eher ungewöhnliches Thema. Es geht um Menschen, die unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung leiden. Andrew Gage hat sich mit seinen diversen Persönlichkeiten mittlerweile sehr gut arrangiert. Mit Hilfe einer engagierten Psychologin hat er es geschafft, Ordnung in sein Leben zu bringen. Zu diesem Zweck hat er sich kraft seiner Gedanken ein imaginäres Haus erbaut, das nun alle Seelen seiner Persönlichkeit beherbergt. Sein Leben verläuft erstaunlich geregelt ab. Die Ordnung im Haus folgt festen Regeln, nach denen jeder Seele ein wohldosiertes Maß an „Körperzeit“ zugestanden wird.

Auf diese Weise kann Andrew das Leben ohne größere Probleme meistern. Glück für ihn, dass er einen Job in der Virtual-Reality-Firma von Julie Sivik gefunden hat. Sie weiß um seine Persönlichkeitsstörung und hat ihn genau deswegen eingestellt. Wer sonst sollte wohl besser etwas von Virtual Reality verstehen als ein Multipler, dessen ganzes Leben einem Außenstehenden wie Virtual Reality vorkommen muss?

Julie und Andrew werden darüber hinaus Freunde und genau deswegen kann Andrew Julies Bitte kaum abschlagen, sich um seine neue Kollegin Penny Driver zu kümmern. Penny ist ebenfalls multipel – nur, dass sie es selbst noch nicht weiß. Und so wird Penny regelmäßig von Blackouts geplagt, die immer dann eintreten, wenn eine ihrer anderen Seelen die Kontrolle über den Körper übernimmt. Andrew soll sich des Problems annehmen und Penny helfen, ihre Persönlichkeitsstörung in den Griff zu bekommen.

Andrew sträubt sich zunächst, weiß er doch aus eigener Erfahrung, wie schwierig es ist, eine multiple Persönlichkeitsstörung zu meistern, nimmt sich schließlich aber doch der Angelegenheit an. Doch schon bald droht die Sache aus dem Ruder zu laufen. Andrews seelisches Gleichgewicht ist fragiler, als er selbst glaubt, und so bringt Pennys Persönlichkeitsstörung nicht nur ihr eigenes Leben gehörig durcheinander, sondern auch das von Andrew …

Man mag das Thema der multiplen Persönlichkeitsstörung auf den ersten Blick für ein eher schwieriges halten, und so erstaunt es auch, mit welcher Leichtigkeit Matt Ruff das Ganze anpackt. Er schafft es auf sehr plastische und nachvollziehbare Weise, die Problematik zu verdeutlichen. Er entblättert bis ins Detail, was sich in Andrews Kopf abspielt, und macht es dem Leser begreiflich. Man kann sich das Haus in Andrews Kopf und das Nebeneinander der unterschiedlichen Seelen, die stets um Aufmerksamkeit und Körperzeit buhlen, wunderbar vorstellen. Auch das Durcheinander unterschiedlicher Persönlichkeiten in Pennys Kopf wird gut deutlich, wenngleich es dort verständlicherweise wesentlich chaotischer zugeht.

Multiple Persönlichkeitsstörungen sind eine komplexe Angelegenheit. Matt Ruff verdeutlicht neben den Konsequenzen auch die Art und Weise, wie sie im Falle von Andrew und Penny entstanden sind. Sie funktionieren als eine Art Schutzmechanismus. Beide Protagonisten blicken auf traumatische Kindheitserinnerungen zurück, die als Ursache ihrer Störung anzusehen sind. Beide müssen sich im Laufe des Romans zu den Wurzeln ihrer eigentlichen Persönlichkeit vorarbeiten und sich damit auch den früheren traumatischen Ereignissen stellen.

Die Komplexität dieser Kernproblematik überträgt sich dabei auch auf den Roman selbst. Er ist enorm vielschichtig und bietet ein Wechselbad der Gefühle. Ruff bringt Kurioses und Dramatisches, Tragisches und Komisches gekonnt unter einen Hut. Sensibel fühlt er sich in seine Protagonisten hinein, macht die drückende Last ihrer Erfahrungen genauso fühlbar wie die irritierende Art der Persönlichkeitswechsel im Körper der Figuren. Das wirkt alles zugleich urkomisch und irrsinnig tragisch. Er verpackt einen ernsten und zutiefst tragischen Hintergrund in einer leichtfüßig erzählten Geschichte, die dadurch umso eindringlicher auf den Leser wirkt.

Was weiterhin eine enorme Leistung des Autors ist, ist der Erzählstil. „Ich und die anderen“ ist eine auf den ersten Blick eher unspektakuläre Geschichte. Zwei verstörte junge Menschen auf der Suche nach sich selbst – so könnte man das Romangeschehen kurz und knapp auf den Punkt bringen. An nacherzählbarer Handlung oder gar ganz konkret greifbarer Spannung hat der Roman nicht viel vorzuweisen. Bei einem 715-seitigen Werk mag man da glatt einen langweiligen Schinken erwarten, der sich wie Kaugummi schier endlos in die Länge zieht.

Doch wer das glaubt, der hat eben die Rechnung ohne Matt Ruff gemacht. Hat man sich erst einmal gedanklich auf die Welt von „Ich und die anderen“ eingelassen, lässt sie einen nicht mehr los. Ruff fesselt auf eine ganz eigentümliche und unterschwellige, geradezu kuriose Art. Eine ähnliche Erfahrung ist mir aus der mittlerweile schon einige Jahre zurückliegenden Lektüre von „Fool on the Hill“ im Gedächtnis. Auch da galt es erst einmal, sich in das Buch hineinzufinden. Ist man erst einmal drin, ist man aber derart gefesselt, dass man am liebsten alles andere stehen und liegen lassen möchte.

Ruff fesselt eben auf eine ganz besondere Art, die sich schwer erklären lässt. Auch bei „Ich und die anderen“ fällt es schwer, den Grund für den fesselnden Charakter der Lektüre auf den Punkt zu bringen. Fakt ist einfach, dass Ruff eine enorm plastische Art zu erzählen hat. Man sieht die Figuren förmlich vor sich und erlebt das reinste Kopfkino. So wird dann eben auch Lektüre unterhaltsam, die ganz nüchtern betrachtet nur wenig Spannung zu enthalten scheint.

Die Figuren sind eine weitere Stärke des Romans. Auf den ersten Blick wirken sie allesamt ein wenig entrückt – unrealistisch, möchte man schimpfen – aber Matt Ruff stellt sie mit so viel Liebe und Warmherzigkeit dar, dass man sie mit der Zeit ins Herz zu schließen beginnt. Jeder ist auf seine ganz individuelle Art sonderbar, jeder hat seine verrückten Seiten, und so mag man manches Mal auch den Realismus bezweifeln (auf welcher wirtschaftlichen Basis eine Firma wie die von Julie Sivik überhaupt existieren kann, bleibt beispielsweise etwas diffus), aber das sind alles Dinge, die im Laufe des Romans zunehmend unwichtiger werden und die man zunehmend unwichtiger nimmt.

Am Ende glänzt Ruff eben ganz durch seine brillante Erzählweise, die er mit so mancher Überraschung garniert, und die Interaktion seiner Protagonisten. Hinter seinem lockeren Erzählstil und seinem Sinn für Kurioses verbirgt sich eine Tiefe, die man auf den ersten Blick nicht vermuten würde. Man blickt zurück auf ein Buch, bei dem man auch am Ende noch nicht so ganz begreifen kann, warum es einen so gefesselt hat. Matt Ruff bleibt eben auch mit seinem dritten Buch immer noch etwas rätselhaft und sonderbar, aber das ist nur ein Grund mehr, ihn zu lieben …

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