_Muss man in einen Song_ überhaupt so viel hineininterpretieren, dass er geradezu in jeder Silbe zerpflückt wird und die wahre Schönheit des Liedes im analytischen Kontext seines Genusses verlorengeht? Man kann sicher darüber streiten, zumal die heutige Popkultur mit ihren größtenteils oberflächlichen Inhalten kaum mehr Anlass gibt, den lyrischen Output einer Komposition näher zu diskutieren. Dass dies mal anders war, steht außer Frage, man denke nur auf die intelligenten Geschichten des [Krautrocks,]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1492 die Symbiose aus Wort und Text in den frühen Momenten der progressiven Musik oder schließlich an die Anfänge der Hippie-Singer/Songwriter-Kultur mit Protagonisten wie Bob Dylan und Joan Baez. Doch auch Jahrzehnte vorher entstanden Lieder bzw. in erster Linie Texte, deren Deutung ein Millionenpublikum beschäftigte und deren wortgewandte Wirkung die Gesellschaft in der ganzen Welt in Aufruhr brachte.
Eines der passendsten Beispiele ist sicherlich „Lili Marleen“, jenes Lied, welches womöglich sogar den globalen Soundtrack des Zweiten Weltkrieges abzugeben gezwungen war, da es nicht nur von der Wehrmacht motivierend gesungen wurde, sondern auch im Bereich der Alliierten Anklang und Bewunderung fand. Als Hans Leips Verse, vertont von der legendären Lale Anderson, zu Beginn des „Dritten Reichs“ erstmals beim Militärsender Belgrad gespielt wurde, hatte noch niemand eine Vorstellung davon, welche Wellen das Ganze schlagen sollte. Doch kurzerhand wurde das sehnsüchtige Flehen der Lili Marleen zum Sensationserfolg, zur bittersüßen Kriegssymphonie melancholischer Soldaten, zur Erkennungsmelodie für die verlorenen Hoffnungen von ganzen Armeen, schließlich aber auch zum Schauplatz der bitteren Tragödien, die in diesem Hoffnungsschimmer begraben sind. Letzten Endes avancierten die Rechte und der Ursprung von „Lili Marleen“ zur dramatischen Schlammschlacht.
_Wer sollte sie gewesen sein_, die Lili, die in diesem Song besungen wurde? Welche Zusammenhänge ergeben sich hierdurch für den Textautor Leip und dessen undurchdringliches Liebesleben? Warum ist die Familie des sozioanalytischen Meisters Sigmund Freud ein Teil des Ganzen? Und welche Rolle spielt Marlene Dietrich, die berühmte Diva, die den Welthit auch für den amerikanischen Markt salonfähig machte? Dass ein Lied so viele Fragen aufwirft, scheint übertrieben, vor dem Hintergrund des schlichten Textes sogar regelrecht paradox. Doch gerade vor dem Hintergrund der immensen Nachwirkungen, die das Ganze hinterließ, scheint es sinnvoll, noch einmal näher in das Treiben einzutauchen und den offenen Komplex in einer umfassenden Diskussion zu beleuchten.
Die Frau, die sich dieser Aufgabe angenommen hat, stammt aus Spanien, heißt Rosa Sala Rose und ist dem Song ähnlich verfallen wie die Heerscharen, die vor gut und gerne 70 Jahren gegeneinander in den Krieg zogen. Die Autorin beschreibt vor allem dem Mythos und die Wirkung der Worte, ergründet hierbei Schritt für Schritt die Ursprünge und die hierin verstrickten, tragenden Figuren. Und es sind zumeist hässliche Erlebnisse, Streitereien, Familienzwiste, Fehden um Wahrheit und Betrug und schließlich themenübergreifende, theatralisch inszenierte Dramen, die jedoch den Mythos nur weiter nährten und eine Faszination auslösten, wie sie wohl kein Song zuvor in dieser Vehemenz für sich beanspruchen konnte. Doch das Buch „Lili Marleen“ ist mehr als eine Situationsanalyse respektive eine biografische Aufarbeitung eines Liedes im Zeitraffer eines halben Jahrhunderts. Es ist vielmehr eine Ergründung von bisher noch nicht bestätigten Tatsachen, eine gezielte Auseinandersetzung mit Herkunft, Motiv und Nachwirkung, vielleicht auch die Suche nach noch viel mehr von dem, was zwischen den Zeilen steht, schließlich aber ein Essay der ganz besonderen Art, da es zeigt, was sich aus einem Stück weltlichen Kulturguts alles herausholen lässt, wenn man einmal die nötige Distanz aufgebaut hat, um sich ihm wieder peu à peu anzunähern.
_Zuletzt hat Rosa Sala Rose_ es geschafft, das Interesse zu wecken und etwas Emotionales sachlich und doch fokussiert aufzugreifen, ohne dabei genau jenes Emotionale in seiner Wirkung zu zerstören. Gerade das schmucke Extra, eine CD-Beilage mit elf Fassungen und Abhandlungen des Liedes, beschreibt dabei die Sorgfalt der Autorin, die nichts unversucht gelassen hat, um den Mythos greifbar zu machen, ihn aber auch auf alle erdenklichen Ebenen auszuweiten. Aus diesem Grund muss man weder mit der Komposition selber noch mit dem vertraut sein, was „Lili Marleen“ umgibt. Die spanische Germanistin mit deutschem Ursprung weiß nämlich auch bei fehlendem Background mit einer Hingabe zu fesseln, in die man sich langfristig zu verlieben weiß – ähnlich wie so mancher Soldat in einer der schwierigsten Zeiten seines ganzen Lebens …
|Kartoniert: 239 Seiten mit 21 Abbildungen und Audio-CD
Originaltitel: Lili Marleen – Canción de amor y muerte
Übersetzer: Andreas Löhrer
ISBN-13: 978-3-423-24801-3|
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