Samuels, Mark – weißen Hände und andere Geschichten des Grauens, Die (Edgar Allan Poes Phantastische Bibliothek 4)

Band 1: [„Grausame Städte“ 1018
Band 2: [„Das Alptraum-Netzwerk“ 1023
Band 3: [„Spuk des Alltags“ 1142

_Ring frei für Federfechter vier!_

Nachdem Markus K. Korb mit einem angemessenen Auftakt die Reihe gestartet und Thomas Ligotti einen grandiosen Meilenstein hinterhergeworfen hat, nachdem Alexander M. Frey mit kauzig verstaubter und rustikal charmanter Sprache die Lesegewohnheit auf den Kopf gestellt hat, wirft sich nun Mark Samuels in die Brust, um die Poe-Anhängerschaft mit neun Kurzgeschichten das Gruseln zu lehren. Der 1967 geborene Londoner veröffentlichte 2003 diese Sammlung über den Kleinverlag |Tartarus Press|, und der |BLITZ-Verlag sorgt hier und jetzt für die deutsche Erstveröffentlichung, löblicherweise ohne die Beschneidungen, die der britische Verlag vorgenommen hat.

_Gotisches Flair in modernen Häuserschluchten._

Samuels Geschichten spielen allesamt in der Moderne, verbreiten aber eine Stimmung, wie sie schon ein Lovecraft zu verbreiten wusste:

|Die weißen Hände.|

Die Geschichte des exzentrischen Literaturprofessors Alfred Muswell, der aufgrund seiner schrägen Ansichten von der Oxford University vertrieben wurde. Die Phantastik, behauptet er, ist die einzig wahre Form der Literatur, weil sie sich nicht dem lächerlichen Realismus verschreibe, sondern sich mit der Unendlichkeit befasse, die der Mensch durch „die Regeln der Realität“ zu ignorieren versuche. Der junge Journalist Harrington setzt sich mit dem kauzigen alten Mann in Verbindung, da er sich von ihm exklusive Informationen über die viktorianische Horror-Autorin Lilith Blake erhofft. Schnell zieht der Professor den jungen Mann in seinen Bann, sodass der selbst die realitätssprengende Kraft zu spüren beginnt, die hinter Blakes Worten lauert …

Diese Geschichte ist ein toller Tauchgang in den Wahnsinn, eine Fundgrube düsterer Ansichten und Zitate, und außerdem die perfekte Inspiration für die Bucheinkaufsliste des Phantastik-Interessierten. Auch wenn das Finale nicht ganz so hinreißend ist, schlägt einen doch die Stimmung in ihren Bann: Das langsame Gleiten von der „vernünftigen Sicht der Dinge“ in das Unheimliche, das durch Lilith Blakes Werke freigelegt werden kann.

|Das letzte Spiel des Großmeisters.|

Schach-Horror um einen Priester, der sein letztes, großes Spiel antreten muss.

Subtiler Grusel um zwei Figuren, die augenscheinlich vollkommen zufällig aufeinander prallen, deren Vergangenheit aber eine bizarre Verbindung aufweist, die sich erst im Laufe der Geschichte eröffnet. Stimmungsvoll und interessant, störend nur, dass Samuels hier die Hintergründe seiner Figuren über Gedankenrückblenden vermittelt.

|Momentaufnahmen des Schreckens.|

Mit Abstand die beste Erzählung in diesem Sammelband! Ein Architekt, der mit rätselhaftem Gedächtnisverlust aufgesammelt wurde, ist von einem Gebäude fasziniert, das er von seinem Büro aus betrachten kann: Ein kaltes Hochhaus, das scheinbar jeder Firma, die darin einzieht, den Ruin beschert. Eines Tages erfährt unser Architekt, dass der Erbauer dieses Hochhauses ein Kunstprojekt darin installiert hat. Eine Gelegenheit, die er sich nicht entgehen lassen kann …

Die Stimmung dieser Erzählung zerrt bis zum Ende an den Nerven, nur um dem Leser mit der finalen Wendung endgültig den Todesstoß zu verpassen! Mit einem Wort: Grandios!

|Appartement 205.|

Pieter Slokker wird mitten in der Nacht aus seinem Bett geholt, weil ein seltsamer Wohngenosse gegen seine Tür schlägt. Er könne keine Einsamkeit mehr aushalten, sagt sein Gast, verschwindet aber gegen Morgengrauen wieder und ist seitdem unauffindbar. Pieter begibt sich in das Appartement des mysteriösen Fremden, findet dort eine okkulte Vorrichtung, seltsame Bücher und Fenster, die allesamt mit Zeitungen abgeklebt wurden.

Zugegeben: Pieter Slokker verhält sich manchmal etwas arg erzwungen, „innerer Drang“ ist oft die einzige Erklärung für Entscheidungen, und „Schlüsselduplikationen“ via Wachsabdruck sind seit dem „Tatort“ von 1980 sicher auch nicht „up to date“. Aber das macht nichts. Die Geschichte selbst fängt diesen Schönheitsfehler auf, „Appartement 205“ ist erneut ein Tauchgang hinter die Fassaden der Realität; verstörend, unheimlich, und weit über plattem „Geister gibt es doch!“-Niveau. Wiederum hat es Samuels geschafft, die absolute Einsamkeit desjenigen darzustellen, der den Schein des Wirklichen durchstoßen hat, würdige Schritte auf Lovecrafts Pfaden also, und unbedingt lesenswert!

|Die Sackgasse.|

David Cohen nimmt eine Stelle in der Ulymas-Corporation an und bearbeitet dort extrem bizarre Fälle von Urheberrechts-Verletzungen. Scheinbar zerstörte Computer, mit Papier befüllt, apathische Angestellte und eine ultraschräge Firmenvorstellung von der Beschaffenheit der Zeit … Was David Anfangs noch für einen Scherz seiner zukünftigen Kollegen hält, bekommt schnell einen unheimlichen Sinn …

Die Stimmung ist wunderbar beklemmend und ausweglos, von Thomas Wagner im Nachwort sehr treffend als „Kafkaesker Alptraum“ beschrieben. Enttäuschend nur, dass das Finale zu rasch über uns herfällt, da wurde Potenzial verschwendet.

|Kolonie.|

Conrad Smith spürt den unerklärlichen Drang, in ein namenloses, verfallenes Viertel Londons zu ziehen. Gestalten streifen dort herum, mit maskenhaften Gesichtern praktizieren sie Rituale in der Dunkelheit. Conrad fühlt sich davon immer mehr in den Bann gezogen …

Definitiv die schwächste Geschichte dieses Bandes. Ein knapper, spannungsloser Abklatsch von Lovecrafts [„Schatten über Innsmouth“. 506

|Vrolyck.|

Die Geschichte von Trefusis Vrolyck, einem einzelgängerischen Autor, der sich während seiner Schlaflosigkeit in ein einsames Café setzt, um dort vor sich hin zu grübeln. Eines Nachts setzt sich Emily Curtis zu ihm an den Tisch, eine Gleichgesinnte, die ebenfalls nachts kein Auge schließen kann. Sie stört sich nicht an der weißen Schminklotion, die Vrolyck überzieht, sondern interessiert sich für seinen Roman „Die Dybbuk-Pyramide“. Nie hätte sie gedacht, welche Folgen die Lektüre dieses Werk haben könnte, für sich und den Rest der Welt …

Diese Story ist wieder wesentlich kraftvoller als der Vorgänger, mit schrägen Ideen gespickt, und mit überraschenden Wendungen aufgepeppt. Samuels hat die Titelfigur außerdem an Thomas Ligotti angelehnt, der selbst diese Kurzgeschichte gelesen hat und Samuels mit Verbesserungsvorschlägen zur Seite stand. Interessant!

|Auf der Suche nach Kruptos.|

Ein Student bricht auf, um nach Thomas Ariel zu suchen, einem Metaphysiker, der mit seinen Gedanken die Welt verstörte und in Aufruhr brachte. Sein Werk „Kruptos“ wurde nie veröffentlicht, obwohl gerade darin entscheidende Enthüllungen über das Universum und die Existenz im Allgemeinen zu stehen scheinen. Irgendwann glaubt der Student dann gefunden zu haben, wonach er sucht…

Was wie eine gewöhnliche Suchexpedition beginnt, wird, beinahe ohne Übergang, zu einem esoterischen Alptraum, in dem Zeit und Raum ihre Bedeutung verlieren. Aber gerade da, wo man denkt, sich in diesem Delirium zu verlieren, reißt einen das Finale in die „Realität“ zurück. Bizarr!

|Schwarz wie die Finsternis.|

Jack Wells findet die Spur seiner lang verflossenen Liebe und stößt dabei auf ein Geheimnis, das seinen besten Freund betrifft, aber auch das Verständnis vom Tod allgemein.

Nett sind hier die Querverweise zu den Ideen, die in „Die weißen Hände“ entwickelt wurden. Lilith Blake kommt hier zu Wort, und Professor Muswell, aber ansonsten ist diese Story eher mau, auch wenn das Geheimnis von Jacks bestem Freund dann doch etwas überrascht.

_Guter Kampf trotz gelegentlichen Punktabzugs._

Mark Samuels sagt es selbst in seinem Nachwort: „Meistens sind meine Figuren wenig mehr als Marionetten oder Affen in menschlichem Gewand“. Aber das macht nichts, die Figuren sind Statisten vor grandiosem Hintergrund, oft würde es sogar stören, wenn die kunstvollen Demontagen der Realität von allzu viel figürlicher Tiefe verwässert würden. Pieter Slokker ist Medizinstudent, und Schluss. Wen interessiert denn schon, für welche Fächer er sich eingeschrieben hat, warum er studiert, ob er reich oder arm ist, ob er sein Studium ernst nimmt oder nicht? Nein, das Einzige, was interessiert, ist das Unheimliche, das er in Appartement 205 vorfindet, das ihn verfolgt und an den Rand des Erträglichen treibt. Das Weltliche hat in den Storys von Mark Samuels nur wenig Platz, und genau das ist es auch, was ihnen diese herrlich entrückte Stimmung verleiht.

„Die weißen Hände und andere Geschichten des Grauens“ kann daher jedem Freund subtiler Horror-Storys nur wärmstens empfohlen werden. Hier gibt es keine Schlachtplatten und Gewaltausbrüche, die Angst schleicht sich auf leisen Sohlen an und bleibt einem lange im Genick sitzen. Die beiden schwächeren Storys „Kolonie“ und „Schwarz wie die Finsternis“ verringern die Qualität dieser Sammlung nur wenig, tun außerdem der Kaufempfehlung keinen Abbruch. Zwar würde ich nicht so weit gehen wie der Klappentext und behaupten, dass „[…]Machen, Lovecraft oder Ligotti stolz sein würden“, es geschrieben zu haben, aber schämen würden sie sich wohl auch nicht. Ein besonderes Lob auch an das Nachwort diesmal: Wie immer eine Beleuchtung des Autors und seines Werkes, aber auch ein Interview gibt es dort zu lesen, das einem die Hintergründe der Geschichten offenbart.

Samuels hat mit „Black Altars“ noch einen zweiten Kurzgeschichtenband geschrieben, der auf seine deutsche Erstveröffentlichung wartet. Mit viel Glück wird sich der BLITZ-Verlag auch diese Anthologie unter den Nagel reißen, ebenso wie die dritte Storysammlung, die sich gerade noch in Arbeit befindet. Zwar widmet sich Samuels momentan der Überarbeitung seines Romans „The Face of Twilight“, aber ehrlich gesagt halte ich nach dem, was ich hier gelesen habe, die Kurzgeschichte für Samuels ausgemachtes Territorium und befürchte, dass seinen Ideen und seinen Plastikfiguren auf Romanlänge schon die Puste ausgeht. Reine Spekulation, natürlich, und gerne werde ich mich eines Besseren belehren lassen. „Die Weißen Hände“ jedenfalls wird sich in jeder gut sortierten Gruselsammlung wohl fühlen.

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