Saramago, José – Eine Zeit ohne Tod

|“Am darauffolgenden Tag starb niemand.“|

So unauffällig und doch eindringlich beginnt der Literaturnobelpreisträger [José Saramago]http://de.wikipedia.org/wiki/Jos%C3%A9__Saramago sein vorliegendes Buch. In einem nicht näher benannten Land zu einer nicht näher benannten Zeit stirbt ab einer Silvesternacht niemand mehr. Die Todkranken, die kurz davor waren, ihren letzten Atemzug zu tun, bleiben am Leben – auch wenn sie alles andere als gesund werden. Sie vegetieren und leiden vor sich hin und können doch nicht sterben. Nirgends wartet der erlösende Tod auf sie, zumindest nicht in diesem Land. Und so kommen einige findige Menschen auf die Idee, ihre sterbenskranken Freunde und Verwandten über die Grenze zu bringen, um sie von ihrem Leid zu erlösen. Eine Bauernfamilie ist es, die den Anfang macht und zwei Menschen im Nachbarland beerdigt. Fortan will die Maphia diese schreckliche Aufgabe übernehmen, denn immerhin stellt sich doch die Frage: Ist es Mord, jemanden zum Sterben über die Grenze zu bringen?

Aber noch weitere Probleme tauchen auf, die niemand vermutet hätte: Was machen die Bestattungsunternehmer, die von einem Tag auf den anderen nichts mehr zu tun haben? Was geschieht mit den Krankenhäusern, in die weiterhin Kranke eingeliefert werden, in denen aber niemand stirbt und ein Bett freimacht? Was wird aus den Lebensversicherungen der Menschen? Und was passiert mit der Kirche, denn ohne den Tod gibt es schließlich auch keine Auferstehung, womit der Kirche ein tragender Pfeiler entrissen wird?

Doch dann erhält ein Fernsehintendant einen violetten Brief, der ihn zutiefst erschüttert. In Panik eilt er zum Premierminister und will die Verantwortung über den Brief abgeben, denn in diesem verkündet der „tod“ (klein geschrieben!) höchstpersönlich eine wichtige Botschaft, die die Welt von einem auf den anderen Tag – zumindest in dem nicht näher benannten Land – komplett verändern könnte …

José Saramago ist ein Meister des visionären Romans. Seine Ideen sind oft einfach, doch die Konsequenzen, die daraus entstehen, umso komplexer und schwerwiegender. Während er eine hellweiße und doch so düster bedrückende Welt in [„Die Stadt der Blinden“ 5382 gezeichnet hat, in der alle Menschen erblinden, widmet er sich hier einem neuen Problem: Niemand stirbt mehr. Was auf den ersten Blick nicht wie ein Problem scheint, sondern die Menschen in Lobeshymnen ausbrechen lässt, entpuppt sich schnell genug als Katastrophe. Und hier beweist Saramago wieder einmal, dass er seine Ideen konsequent zu Ende denkt. Er führt aus, was geschehen könnte, und scheut sich nicht davor, die Welt komplett auf den Kopf zu stellen. Nichts entgeht seinem Blick – ganz im Gegenteil, er entdeckt Probleme, wo man sie zunächst nicht erwartet hätte.

Auch einem anderen Stilelement bleibt er treu, denn seine Figuren erhalten keine Namen, sondern bleiben bloße Figuren. Seine Charaktere – so es sie denn gibt – stehen allein für Funktionen bzw. eine Berufsgruppe. Den besagten Fernsehintendanten lernen wir nicht weiter kennen, wir wissen nicht, ob er Familie hat, welchen Hobbys oder Interessen er nachgeht oder wie alt er ist. Er steht allein für den Berufstypus des Fernsehintendanten, der schleunigst einen erdrückenden Berg von Verantwortung auf jemand anderen abwälzen will.

Doch „Eine Zeit ohne Tod“ erhält schließlich seine Hauptfigur, nämlich den tod höchstpersönlich. tod ist weiblich schreibt sich mit einem kleinen „t“, und tod ist eigen, denn sie hat beschlossen, den Menschen einen kleinen Denkzettel zu verpassen, indem sie einfach niemanden mehr ins Reich des Todes abholt. Ihre Sense, die es tatsächlich gibt, bleibt tatenlos neben ihr stehen. tod ist diejenige, die wir im zweiten Teil des Buches ständig begleiten – eine abstruse, aber doch sehr pfiffige Idee.

|“… wobei der Grund dafür, dass ich meine frühere Aktivität, das Töten, unterbrochen und die sinnbildliche Sense, die phantasievolle Maler und Kupferstecher früherer Zeiten mir in die Hand gelegt haben, in ihrer Scheide habe stecken lassen, darin liegt, dass ich den Menschen, die mich so sehr verabscheuen, mit einer kleinen Kostprobe demonstrieren wollte, was es für sie bedeuten würde, immer, sprich, ewig zu leben, auch wenn ich Ihnen ganz im Vertrauen gestehen muss, Herr Fernsehintendant, dass ich keine Ahnung habe, ob die beiden Wörter immer und ewig wirklich so gleichbedeutend sind wie allgemein angenommen …“|

Sprachlich bleibt José Saramago wie gewohnt eine Herausforderung. Kaum Absätze laden zum Verweilen ein und alle Zeilen sind voll bedruckt, da die wörtliche Rede in den Fließtext integriert ist (s. o.). Daran muss man sich gewöhnen, denn leicht lassen sich seine Bücher nicht lesen. Doch wenn man erst einmal in seine Sätze hineintaucht, sich auf die komplexe Sprache einlässt, entdeckt man vieles, das nur zwischen den Zeilen steht. Wieder einmal erzeugt Saramago eine dichte und bedrückende Atmosphäre, die den Leser mitreißt – und das, obwohl man sich jede Seite in diesem Buch erarbeiten muss.

„Eine Zeit ohne Tod“ ist zweigeteilt: Im ersten Teil schildert José Saramago die Konsequenzen aus dem ausbleibenden Tod und im zweiten widmet er sich dem tod persönlich. Er begleitet sie und stellt sie uns näher vor. Und dann erfahren wir, dass tod ein Problem umtreibt, denn sie hat versprochen, den Menschen ihren Tod anzukündigen – per Brief, den sie eine Woche vorher an den Betroffenen schickt. Nur ein Brief weigert sich konsequent zugestellt zu werden. Immer wieder landet er auf tods Tisch, sodass sie schließlich beschließt, die Person kennenzulernen, die nun nicht über den bevorstehenden Tod informiert werden kann.

Und das ist leider der Punkt, ab dem Saramago mich mit seiner Geschichte nicht mehr mitreißen konnte. Mir gefiel die Wendung nicht und ich finde sie auch nicht sonderlich gelungen. Hier bahnt sich eine Liebesgeschichte zwischen tod und einem Todgeweihten an, die mir doch zu abstrus erscheint und die Saramago auch nicht wirklich schlüssig darstellt. Konsequenter wäre es gewesen, die Geschichte weiterzuerzählen, wie sie begonnen hat, auch die letzte Konsequenz darzustellen; so wirkte es eher, als wären Saramago auf der halben Strecke die Ideen ausgegangen.

Unter dem Strich hebt sich „Eine Zeit ohne Tod“ nichtsdestotrotz weit vom Durchschnitt ab. Alleine durch Saramagos einzigartiges Sprachgefühl, seinen Ideenreichtum und die dichte und packende Atmosphäre bleibt dieses Buch positiv in Erinnerung. Allerdings kann ich mich nach wie vor nicht mit der Wendung auf der Hälfte des Buches anfreunden. Im Vergleich mit Saramagos sagenhaft genialem Buch [„Die Stadt der Blinden“ 5382 fällt das vorliegende Werk leider inhaltlich etwas ab – lesenswert bleibt es allerdings dennoch, zumal die Geschichte rund um den tod und den Todgeweihten sicherlich auch eine Geschmackssache ist.

|Originaltitel: As Intermitencias da Morte
Deutsch von Marianne Gareis
252 Seiten Broschur
ISBN-13: 978-3-499-24342-4|
http://www.rowohlt.de

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