Peter Scholl-Latour – Der Weg in den neuen Kalten Krieg

Amerikanische Raketenstellungen in Polen, russische Flottenmanöver vor der amerikanischen Küste, ein georgisch-ossetischer Stellvertreterkrieg im Kaukasus. Für den bedeutendsten deutschen Journalisten Peter Scholl-Latour ist eine Epoche neuer Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Großmächten unterhalb der Grenze zum offenen Krieg im Entstehen begriffen, das sei „Der Weg in den neuen Kalten Krieg“, wie er sein neuestes Buch betitelt hat. Der neue Kalte Krieg, so der Autor, unterscheide sich vom alten durch eine größere Unberechenbarkeit und eine größere Anzahl von Kontrahenten. Während sich die Entwicklung derzeit in einem verschärften Gegensatz zwischen den USA und Russland äußere, könnte in Zukunft China als zusätzlicher Akteur auftreten. Weitere Parteien werden nicht benannt.

Um seine These und die Voraussehbarkeit der Entwicklung zu untermauern, hat Scholl-Latour sein neues Buch nicht geschrieben, sondern kompiliert. Neu ist nur das Vorwort, in dem Scholl-Latour diese These formuliert, sowie vermutlich auch der letzte, „Epilog“ überschriebene Aufsatz, der die aktuelle weltpolitische Lage am Vorabend der Amtsübernahme des neuen US-Präsidenten Barack Obama reflektiert. Ansonsten besteht das Buch in einer Zusammenstellung von Aufsätzen, Interviews und anderen Texten ab 2001 in dichter chronologischer Reihenfolge, die nicht nachbearbeitet wurden. Das ehrt den Autor, denn damit unterstreicht er die Bedeutung der von ihm schon vor Jahren erkannten Symptome, und er riskiert es auch, sich durch im Nachhinein überraschende Schwerpunktsetzungen und Fehleinschätzungen angreifbar zu machen. (Noch mehr ehrt es ihn freilich, dass solche Fehleinschätzungen extrem selten sind.) Dennoch wären einige Erläuterungen aus heutiger Sicht sowie Ergänzungen zu vernachlässigten Aspekten wie der chinesischen weltweiten Energiebeschaffung nützlich gewesen.

Ungeachtet der Prognose eines neuen Kalten Krieges bietet die vorliegende Textauswahl wieder all das, was an Peter Scholl-Latour geliebt und gehasst wird: eine knappe und einleuchtende Darlegung der geopolitischen Lage, exzellente Ortskenntnis, nicht der Anflug falschen Respekts vor Autoritäten und eine völlig rücksichtslose und undiplomatische Offenlegung von Interessen und Konflikten, Stärken und Schwächen. Und nicht zuletzt das ärgerliche Aufschrecken einer piefigen deutschen Gemütlichkeit, die das Hoffen auf Besserung und gelegentliches Scheckbuchzücken für Außenpolitik hält. Nebenbei gewährt sie in unserer Ein-Themen-Medienwelt, in der alle zwei Wochen eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird, eine Wiederbegegnung mit fast schon vergessenen Krisen, Debatten, Geiselnahmen der letzten sieben Jahre.

Dass nach einer Phase der von US-Seite ausgenutzten russischen Schwäche das amerikanisch-russische Verhältnis konfrontativer geworden ist, steht außer Frage. Man betrachte unter diesem Aspekt nur den nach der Veröffentlichung des Buches aufgetretenen russisch-ukrainischen Erdgaskonflikt. Inwieweit nun insgesamt ein neuer Kalter Krieg bevorsteht, der dem alten ähnelt und sich von aggressivem Konkurrenzverhalten rivalisierender Mächte, wie es sie schon vor dem 20. Jahrhundert mehrfach gegeben hat, unterscheidet, wird nicht immer deutlich, zumal außer Russland und den USA noch keine Akteure auf so massivem Konfrontationskurs erkennbar sind.

Ein Kernproblem ist, dass Scholl-Latour im Vorwort nicht die Rolle der islamischen Welt in einem neuen Kalten Krieg darlegt. Jetzt und in absehbarer Zukunft gibt es „den“ Islam als einheitliches machtpolitisches Subjekt nicht. Die Interessen einzelner moslemischer Staaten, etwa Saudi-Arabiens, des Irans, Pakistans oder der Türkei, sind zu unterschiedlich, oft sogar gegensätzlich. Ganz zu schweigen von der Feindschaft zwischen Türken, Kurden und irakischen Arabern oder zwischen Sunniten und Schiiten. Sieht der Autor nun einen islamischen Machtblock – womöglich ausgelöst durch eine westlich-amerikanische Aggressionspolitik – am Horizont heraufdämmern oder einzelne dieser Staaten als Parteien im neuen Kalten Krieg auftauchen? Oder dienten die Feldzüge in Afghanistan und Irak den USA am Ende gar nur dazu, ihren Stiefel in den Vorgarten Russlands und Chinas zu setzen? Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass, obwohl es um die Rivalität von Großmächten geht, fast alle Aufsätze bis ins Jahr 2004 hinein die Lage dieser beiden Krisengebiete behandeln.

Weiterhin fällt auf, dass die Textsammlung unmittelbar nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 mit dem anlaufenden Afghanistankrieg beginnt. Damit werden die USA nur unter der Präsidentschaft George W. Bushs betrachtet. Warum fängt Scholl-Latour seinen Rückblick nicht mit dem amerikanischen Eingreifen in den Jugoslawienkrieg an und erörtert, inwieweit es eine Kontinuität vom „Hufeisenplan“ des Demokraten Clinton zur einseitigen Anerkennung eines unabhängigen Kosovos unter dem Republikaner Bush gibt?

Auch wenn die Voraussage eines neuen Kalten Krieges über den amerikanisch-russischen Gegensatz hinaus durch die ausgewählten Texte nur bedingt abgeleitet werden kann, liest man Scholl-Latour nie ohne Gewinn. Gerade die vielen Beiträge über die Lage im Irak und Afghanistan und teilweise auch in Afrika sind in anderer Hinsicht erhellend: Zum einen wird sehr deutlich, inwieweit die „Theorie des Partisanen“ (Carl Schmitt) mittlerweile zu einer Machtgröße geworden ist, mit der auch die USA als bedeutendste militärische und wirtschaftliche Macht nicht mehr fertig werden.

Zum anderen zeigt sich, dass das besondere amerikanische Sendungsbewusstsein, ein eigenartiges Selbstbild aus forscher Menschheitsbeglückung und eigennütziger Geschäftstüchtigkeit, in die Sackgasse geführt hat. Amerika präsentierte sich gerne als Bringer von Freiheit und Demokratie und muss nun mit ansehen, dass sich das Volk im Irak und anderswo erfrecht, von seinem neuen Wahlrecht nicht im amerikanischen Sinne Gebrauch zu machen, indem es etwa islamistische oder tribalistische Verbände stärkt. Langfristig könnten sich die Vereinigten Staaten also einer wesentlich rücksichtsloseren, ja offen brutalen Machtpolitik zuwenden. Auch insofern hilft „Der Weg in den neuen Kalten Krieg“ eine Welt im Epochenwandel besser zu verstehen, nachdem man für einen kurzen Augenblick die USA für die „einzige Weltmacht“ am „Ende der Geschichte“ gehalten hat. Nur dass es in diesem Buch über geopolitische Fragen überhaupt kein Kartenmaterial gibt, ist ein schmerzlicher Mangel.

349 Seiten, gebunden
44 Farbabbildungen auf 22 Tafeln
ISBN-13: 978-3-549-07357-5

https://www.ullstein.de/verlage/propylaeen

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